Formeln des Entsetzens
Über einige rhetorische Phänomene in den publizistischen Stellungnahmen zum Nahostkonflikt
Von Walter Delabar
1. Rahmung
Die publizistischen Reaktionen auf den Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 zeigen eine Reihe von Eigenheiten, die bemerkenswert sind. Antisemitismus- und Kolonialismus-Vorwürfe stehen sich unversöhnlich gegenüber, wechselseitige Genozid-Bezichtigungen kommen hinzu. Das Leid der Palästinenser und ihre Opfer werden gegen das Leid der Opfer vom 7. Oktober aufgewogen resp. eine Vergleichbarkeit wird von der einen wie der anderen Seite bestritten, begleitet auch hier von dem gegenseitigen Vorwurf mangelnder Empathie.
Dabei ist es bemerkenswert, wie stark die Diskussion moralisch aufgeladen; und zugleich, wie wenig die Situation politisch analysiert wird. Der Soziologe Armin Nassehi hat das in einem Beitrag in der FAZ vom 24. April 2024 bereits auf den Punkt gebracht, als er darauf verwies, dass eine „Diskurssituation“ entstanden sei, „in der man nur noch streng binär ausschließlich für oder gegen Israel oder die Palästinenser sein“ könne. „Die Struktur des Diskurses“ erzeuge „einen Sog, durch den am Ende nur diese falsche Alternative“ bleibe, betont Nassehi.
„Falsch“ ist eine solche binäre Rede, weil in der Diskussion seit dem Oktober 2023 eine historisch bereits Jahrzehnte andauernde, anhaltend politisch brisante und humanitär desaströse Situation in ihrer Komplexität radikal vereinfacht, auf einen Moment (den Angriff vom 7.Oktober 2023 und den Feldzug Israels gegen die Hamas) und auf moralische Antagonismen reduziert wird, für oder gegen Israel resp. Palästina oder eben die Hamas. Herta Müller hat etwa in einem Vortrag vom 25.5.2024 dezidiert formuliert, dass der „Krieg in Gaza“ nicht „in Gaza“ begonnen habe, sondern am 7. Oktober – als hätte der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis keine Vorgeschichte, die mit dem 7. Oktober und dem seitdem geführten Krieg keinen hässlichen Höhepunkt erhalten hätte (Herta Müller: „Ich kann mir die Welt ohne Israel nicht vorstellen“. FAZ v. 3.6.2024, S. 9). Müller schreibt im Weiteren über ihr Entsetzen über den zivilisatorischen Bruch, der in den Ereignissen am 7. Oktober offensichtlich werde.
Generell lassen die publizistischen Stellungnahmen freilich die Frage aus, warum die Hamas am 7. Oktober überhaupt einen Angriff mit diesen Dimensionen gewagt hat und ihn derart eskalieren ließ, obwohl sie gewusst haben muss, dass er zu einer heftigen Reaktion Israels und einer entschiedenen Kampfansage an die Hamas führen würde. Zu fragen ist zudem, ob die Hamas die Reaktion Israels vielleicht sogar antizipiert hat und genau zu der dann folgenden Polarisierung der öffentlichen Meinung in den westlichen Staaten zu nutzen beabsichtigte. Stünde ein solches Kalkül hinter dem Angriff, dann wäre das ein riskantes Spiel, das – wäre es erfolgreich – die Hamas – wenn sie die Auseinandersetzung als Organisation überlebt – schließlich in ihrer Position und als palästinensische Repräsentantin stärken würde. Was wiederum, weil gerade dieser Aspekt den israelischen Kontrahenten nicht verborgen geblieben sein wird, die Bemühungen Israels, die Hamas zu vernichten, verstärkt haben dürfte.
Möglich wäre es allerdings auch, dass die Hamas als Organisation überhaupt nicht mittelfristig strategisch agiert, sondern lediglich eine günstig erscheinende Gelegenheit genutzt hat, um möglichst großen Schaden und damit Aufsehen zu erzeugen und um zugleich Israel als schwach dastehen zu lassen. Was danach folgen würde, war unter solchen Vorgaben gegebenenfalls nicht von Relevanz oder ist von Hamas-Seite oder wem auch immer nicht betrachtet worden.
Allerdings sind solche Fragen nach dem Oktober 2023 kaum platzierbar, wie an einigen Beobachtungen vorgeführt werden kann. Ganz im Gegenteil: Die Dominanz moralisch und damit dual agierender Texte lässt vermuten, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nicht um eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes geht, sondern die jeweilige Haltung dazu abgefragt wird resp. vorauseilend erklärt werden muss. Diese diskursive Struktur ist deshalb fatal, weil sie politische Kontexte ignoriert, auf einfache Alternativen reduziert und damit Lösungen blockiert – vorausgesetzt, dass diese Diskurse Einfluss auf politische Lösungen haben.
2. Disclaimer
Die Beispiele für rhetorische Zurichtungen im Kontext des Überfalls vom 7.Oktober, die im Folgenden vorgeführt werden, repräsentieren keine systematische Sammlung, sie sind durchweg in der bürgerlichen Presse und dann auch in einer einzigen Zeitung erschienen und haben dezidiert die Suspendierung der Hamas auf der Agenda, der sie als „Terrororganisation“ jede Existenzberechtigung absprechen. Entgegenlautende Publikationen, die sich etwa gegen Israel wenden, die israelische Politik angreifen oder ihre Solidarität mit Palästina formulieren, sind hier nicht betrachtet worden. Insofern sind die folgenden Ausführungen einseitig und damit unvollständig – was hier als Defizit ausdrücklich benannt sein soll.
Die Überlegungen, die im Folgenden angestellt werden, basieren zugleich auf der Position, dass eine Lösung des Palästinakonflikts durch die Beseitigung des Staates Israel aus bundesdeutscher Perspektive unter der Vorgabe der katastrophalen (deutschen) Geschichte des 20. Jahrhunderts kaum denkbar ist. Zugleich ist die Kontamination postkolonialer Theoreme mit dem Palästinakonflikt und deren Engführung mit einer dezidiert israelkritischen Haltung wenig plausibel. Dass es anscheinend in diesem Zuge auch zu Kurzschlüssen zwischen der Kritik an der israelischen Politik und einem völkisch aufgeladenen Antisemitismus kommt, gehört zu den Denkwürdigkeiten nicht nur der europäischen Geschichte.
Dennoch sei betont, dass die Kritik rhetorischer Zurichtungen Kritik am politischen Handeln des Staates Israel nicht ein- oder ausschließt. Die Diskussion soll hier auf einer anderen Ebene geführt werden, unter anderem darüber, welche Funktion und Wirkung rhetorische Formen haben. Das Ziel, die eben nicht nur rhetorischen Eskalationen der letzten anderthalb Jahre auszusetzen oder zurückzunehmen, ist dabei eben nicht (nur) der Drohung eines regional sich rasch ausweitenden Konfliktes geschuldet, der zu einer militärischen Konfrontation der jeweiligen Schutzmächte und damit zu einem nicht mehr eingrenzbaren internationalen Konflikt führen könnte. Darüber hinaus steht dahinter die Überzeugung, dass die seit Jahrzehnten existierende Problematik einer friedlichen Koexistenz im Nahen Osten dringend der Lösung bedarf.
3. Über den dritten Blick
Rhetorik ist nach dem 7. Oktober 2023 ein mindestens intuitiv genutztes, gelegentlich auch intentionales Mittel, wobei eben nicht immer erkennbar ist, ob die (schreibenden) Kombattanten sich ihrer jeweiligen Mittel und Ziele bewusst sind. Zu fragen ist, ob sie also – aus welchen Gründen auch immer – ohne Bewusstsein der rhetorischen Aufladung agieren, also die monierten Sentenzen mehr oder weniger spontan als angemessene Sachbeschreibung oder als alternativlose Position verstehen und verstanden wissen wollen.
Wie stark der attestierte „Sog“ ist, der zu solchen rhetorischen Zuspitzungen führt, lässt sich sogar an dem genannten Beitrag Nassehis erkennen, der dezidiert mit dem Ziel geschrieben ist, einen „dritten Blick“ auf das Verhältnis zwischen Israel und Palästina zu werden, also einen Blick, der nicht der binären Logik unterliegt und der es ermöglichen soll, den Konflikt zu lösen. Trotz dieser Absicht spricht Nassehi von einer „perfide(n) Strategie der Hamas“, nennt die Angreifer „Terroristen des 7. Oktobers“, kommt um die Kennzeichnung des Angriffs als „Massaker“ und der misshandelten und getöteten Opfer als „explizit gequälte() und massakrierte() Israelis“ nicht herum, auch wenn er sich im Beitrag ansonsten, was Zuschreibungen angeht, auffallend zurückhält.
Und gerade das ist auffallend und lässt die Vermutung zu, dass – unabhängig davon, ob diese Kennzeichnungen angemessen sind oder woher sie abgeleitet werden – sie als rhetorische Disclaimer zu verstehen sind, die eine deutliche Distanz von den Akteuren auf der Hamas-Seite und eine von den Ereignissen sichtlich erschütterte Haltung zum Ausdruck bringen sollen, um den nachfolgenden Erörterungen überhaupt Gehör zu schaffen. Soll heißen: Anscheinend ist ein Text, in dem es wie hier um eine beide Seiten – die israelische und palästinensische – berücksichtigende Lösung des langjährigen Konfliktes geht, gezwungen, den Angriff vom 7. Oktober mit aller Deutlichkeit zu verurteilen und die eigene Distanz zu erklären, umso mehr dann, wenn eine Kritik an der Politik resp. Kriegsführung der israelischen Regierung folgt. Dabei hat Nassehi im selben Text auch darauf hingewiesen, dass auch diejenigen, die Israel gegenüber „völlig unkritisch“ blieben und die „dilemmatische Situation des Landes“ ausblendeten, dem Land unrecht tun. Auch eine solche Haltung sei „völlig unangemessen“. Was sich auf die rhetorischen Abweisungsformeln übertragen lässt, von denen hier die Rede sein soll.
4. Die „schlimmsten antisemitischen Gräueltaten nach dem Holocaust“
Im April 2024 veröffentlichten Lars Rensmann und Karin Stöger in der FAZ einen Beitrag mit dem Titel Antisemiten mit bestem Gewissen (in Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3.4.2024, S. N4). Der Beitrag behandelt – grob gesprochen – Abgrenzungsfragen von Israelkritik und Antisemitismus an Hochschulen. Die Verfasser beginnen mit einem Satz, in dem berichtet wird, dass unmittelbar nach dem 7. Oktober „Tausende Hochschuldozenten“ vor allem in Westeuropa und den USA eine „Unterstützungserklärung“ „in Sachen Solidarität mit Palästina“ unterzeichnet hätten, in der Israel für die Gewalteskalation verantwortlich gemacht werde, und das noch vor „jeglicher militärischer Reaktion Israels“. In diesen Satz und nach dem „7. Oktober“ fügen sie allerdings, noch bevor sie dann die Tendenz der Erklärung(en) monieren, eine Wendung ein, die den nachfolgenden Textteilen den Tenor vorgibt, hier im Zusammenhang: „Unmittelbar nach dem 7. Oktober, dem Tag der schlimmsten antisemitischen Gräueltaten seit dem Holocaust (…)“.
Die gesamte Argumentation des Textes ist also von Anfang an von einer deutlichen rhetorischen Aufladung bestimmt, indem Holocaust, Antisemitismus sowie die Klassifizierung des Angriffs als „Gräueltaten“ enggeführt werden. Alles was auch nur ansatzweise in die Nähe der Hamas-Attacke rückbar ist (etwa auch die „Solidarität mit Palästina“), verliert damit jegliche Legitimation, und zwar noch vor jeder Ausformulierung, Argumentation oder Diskussion. Was die Frage aufwirft, welche Funktion dieser Einschub hat – als Disclaimer, als Vorgabe für jede weitere Beurteilung oder als Klarstellung der eigenen Einschätzung der Ereignisse vom 7. Oktober?
5. Eine „Terrororganisation, die ein genozidal angelegtes Pogrom verbrochen“ hat
Der in Norwegen lehrende Germanist Jan Süselbeck (der eng mit literaturkritik.de verbunden ist) und die Jungle-World-Redakteurin Elke Wittich kommen im Januar 2025 in der Frankfurter Allgemeinen auf die Veränderungen in der öffentlichen Meinung Norwegens zu sprechen (Jan Süselbeck, Elke Wittich: Klassenkampf gegen Israel. Diskursive Frontverschiebung: Warum glaubt die norwegische Linke heute so fest an den Antizionismus? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6.1.2025, S. 13).
Der Beitrag ist nicht deshalb aufschlussreich, weil er auf den Widerspruch verweist, dass Norwegen nach 1945 dem Staat Israel eng verbunden war, aber nach dem Oktober 2023 als eines der ersten europäischen Länder einen palästinensischen Staat anerkannte, sondern weil er auf eine Gemengelage von Bagatellisierung der Hamas, Palästina-Solidaritätserklärungen, Israelkritik, aufkommenden NS-Parolen und Antisemitismus verweist.
Nach dem Hinweis auf Nazi-Graffitis kommen Süselbeck und Wittich umgehend auf die norwegischen Medien zu sprechen, die über die Hamas berichteten, „als handele es sich um eine legitime politische Partei und nicht eine Terrororganisation, die ein genozidal angelegtes Pogrom verbrochen“ habe. Womit wir im rhetorischen Kern des Beitrags angelangt sind, dessen politische Implikationen in diese verdichtete Formel eingeschrieben sind.
In diesen vier Zeilen, die – wie es nahe liegt – am Ende der einleitenden Absätze stehen, nehmen die Autoren eine aufschlussreiche rhetorische Operation vor, die zugleich mehrstufig ist: Die Hamas sei (1) illegitim, (2) eine Terrororganisation, und habe sich an einer Kombination von (3) Genozid und (4) Pogrom, mithin (5) eines Verbrechens schuldig gemacht. Verbunden werden hier also moralische (mangelnde Legitimität), rechtliche (Verbrechen), politische (Terror), historische (eng verbunden mit dem Antisemitismus: Pogrom), und völkerrechtliche Vorwürfe (Genozid).
Dies in wenigen Zeilen auf die Hamas konzentriert, delegitimiert jede zurückhaltende, ja neutrale Kennzeichnung der Hamas und legitimiert deren Zerstörung, da sie als politische Institution ihre Berechtigung verloren hat und als Kontrapart der israelischen Regierung nicht satisfaktionsfähig ist.
Nun steht in dem Beitrag von Wittich und Süselbeck die Hamas nicht im Vordergrund, sondern der Umgang der norwegischen Öffentlichkeit mit dem Status des Nahostkonfliktes. Erst gegen Schluss wird auf den Zusammenhang zwischen dem „Terrorangriff“ der Hamas und der militärischen Antwort Israels verwiesen. Einige Abschnitte später folgt noch der Hinweis, dass die Hamas in Norwegen nicht als terroristische Vereinigung gelte. Der Beitrag schließt mit der Frage, ob die „beschriebenen spezifischen Sprachregelungen“ (gemeint ist wohl Engagement des „linke(n) akademische(n) Milieus“ „bei der Verurteilung eines israelischen ‚Völkermords‘ in Gaza“) zu der Erkenntnis führen würden, dass die nunmehr bestehende Situation (genannt werden „schwer bewaffnete Polizisten vor den Synagogen in Oslo und in Trondheim“) „teilweise hausgemacht“ sei.
6. Hamas
Nun kann man zur Hamas stehen, wie man will. Sie als hehre Verteidigerin palästinensischer Interessen gegen Israel aufzuwerten, ist aber kaum angemessen, dazu sind ihre auch internen Verfahren und Handlungen zu extrem. Dass sie dennoch als institutionalisierte Repräsentantin der palästinensischen Seite agiert und von dort anerkannt ist, kann dennoch nicht in Abrede gestellt werden. Die rhetorischen Zuspitzungen jedoch ignorieren zum einen eine angemessene Analyse der strategischen Entscheidungen, die zu dem Angriff vom Oktober 2023 geführt haben. Zum anderen dienen sie der weitergehenden diskursiven Delegitimierung der Hamas, gegebenenfalls unter der Annahme, dass ein Machtvakuum nach einer völligen Zerstörung der Hamas einer Verhandlungslösung unter Einbezug einer wenngleich dezimierten Hamas vorzuziehen wäre. In jedem Fall wird es jedenfalls schwer, eine Verhandlungslösung diskursiv zu ermöglichen, ohne die Delegitimierung der Parteien wenigstens teilweise wieder zurückzunehmen (das gilt hier für beide Seiten, auch wenn nur eine betrachtet worden ist).
Wenn jedoch – wenn die Annahme erlaubt ist – eine völlige Zerstörung der Hamas als Institution wie als politische Repräsentantin der Palästinenser nicht möglich ist, und wenn doch, sie gegebenenfalls in einer anderen politischen Gestalt wieder auferstehen würde, müssten sich auch politische Antagonisten darauf einstellen. Wie in einem solchen Fall rhetorische Zuspitzungen von den Akteuren, die vor allem in der allgemeinen Öffentlichkeit agieren, aufgegeben werden, ist dann eine andere Sache.
7. Nachrichten aktuell
In den Nachrichten des Deutschlandfunks ist wenigstens derzeit teilweise nicht von der „Terrororganisation Hamas“ die Rede, sondern von der „radikal-islamistischen Hamas“.