Es hätte ein großes Buch werden können
Kurt Reumann auf dem Weg zu einer Geschichte der deutschen Nationalhymne
Von Günter Helmes
Da ist guter Rat teuer! Wie einem Buch gerecht werden, das zwei recht unterschiedliche Gesichter hat? Hier ein trotz substantieller Einwände unterm Strich doch willkommen zu heißender, recht bunt ausgefallener Strauß an ganz oder in Auszügen wiedergegebenen Gedichten bzw. Liedern. Die haben, genauer vermag ich es in knappen Worten nicht zu sagen, auf ihre je eigene Weise etwas mit Deutschland zu tun. Diese Sammlung soll an dieser Stelle im Vordergrund stehen. Dort Erläuterungen und Kommentare zu diesen Texten, die mehrheitlich zu wünschen übriglassen. Dazu Persönliches beispielsweise über Singgewohnheiten in der Familie des Autors Kurt Reumann oder über das „Feindhören“ seines Vaters im Zweiten Weltkrieg. Dieses Persönliche aber hat mit Blick auf das eigentliche Thema „Nationalhymne“ kaum einmal einen erkenntnisfördernden, unterhaltenden oder beglaubigenden Mehrwert. Und wäre nach meinem Geschmack in Teilen – beispielsweise das für Reumanns Reputation doch ganz unnötige Renommieren mit engen Verbindungen zu Altbundespräsident Roman Herzog und zu dem Politikwissenschaftler Iring Fetscher – um des Autors willen besser unterblieben.
Gerecht werden einem Buch zumal, das im knappen, auf mich eher wie eine ‚mit heißer Nadel‘ gestrickte Gefälligkeit wirkenden Vorwort von prominenter Seite – es stammt von Michael Wolffsohn – dennoch über alle Maßen gelobt und angepriesen wird? Gelobt und angepriesen, indem zugleich anders verfasste Bücher pauschalierend verunglimpft – „Viele Sachbücher sind eigentlich nur eine Addition persönlicher Erlebnisse und Bewertungen der Autoren, andere strohtrocken und unpersönlich“ – und deren Verfasser en passant ins Zwielicht gestellt werden: „Hier schreibt ein Herr, nicht irgendein gebildeter Mann. Ein Hochgebildeter, der nicht abhebt und nicht dünkelhaft doziert.“ Indem solche Sätze über auf Lob hinauslaufende Usancen der Textsorte „Vorwort“ deutlich hinausgehen, klingen sie für mich vor allem nach (Selbst)Immunisierung.
Und dann: Kurt Reumann, u.a. lange Jahre als profilierter Journalist (u.a. Bildungspolitik) bei der FAZ tätig, ist im November 2023 hochbetagt verstorben. Ist es da nicht unangemessen, sein letztes, nach seinem Tod erschienenes und von großem Sammlerfleiß zeugendes Buch mehr in den Schatten als ins Licht zu stellen, wie das hier der Fall ist? Aber ist Reumann für dessen Publikation in der vorliegenden Form letztlich überhaupt verantwortlich zu machen? Muss sich die Kritik nicht vielmehr – vorausgesetzte Imprimatur hin oder her – an den „Verlag für wissenschaftliche Literatur“ Frank & Timme und dessen Lektorat richten? Schon vom Satz, von Tippfehlern und der Uneinheitlichkeit her, wie beispielsweise mit Gedichtüberschriften und Quellennachweisen verfahren wird, wirkt das Buch jedenfalls eher ‚vorläufig‘ und ‚hemdsärmelig‘ (dazu ist es buchbinderisch von minderer Qualität, nach einmaligem Durchblättern bereits begannen sich einzelne Seiten zu lösen).
Aufbau, Gliederung und Inhalt des faktisch (s.u.) aus drei Teilen bestehenden Buches geben das eine oder andere Rätsel auf. Die Praxis, zugleich bzw. mal so, mal so nach chronologischen, thematischen oder rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten zu gliedern und zu ordnen, beschwört vor allem im letzten, mit dem dritten Teil identischen Viertel des Buches Brüche und Verwirrung herauf. Teil eins, mit „DEUTSCHE MÄNNER, DEUTSCHE FRAUEN“ überschrieben, deckt im Wesentlichen den Zeitraum 12. bis frühes 19. Jahrhundert ab. Der zweite Teil „REGIONALE HEIMATLIEDER“ dann präsentiert anfangs (!) mehrheitlich eben das, was der Titel verspricht. Für den dritten Teil des Buches – er hebt mit einem in der Kommentierung vor allem hinsichtlich der Zeile „Deutschland, Deutschland über alles“ gelungenen Abschnitt über Hoffmann von Fallerslebens Lied der Deutschen an, führt dann bis in die 1950er Jahre, endet aber irritierender Weise mit Abschnitten zum Ersten Weltkrieg – hat man dann ganz offensichtlich vergessen, eine eigene Überschrift zu formulieren. Auch dieser Teil firmiert also kurioser Weise unter „REGIONALE HEIMATLIEDER“.
Michael Wolffsohn ist aufs Ganze gesehen darin zuzustimmen, dass Reumanns Buch für diejenigen ein „Geschenk“ ist, „die Lieder und Gedichte […] kennenlernen möchten.“ Es sind wohl um die 130 Gedichte bzw. Lieder, die bzw. aus denen zitiert wird, wobei eine Reihe von Liedern – sie werden hier mit (*) gekennzeichnet, in einer Art ‚Hitliste‘ (s.u.) als besonders bedeutsam hervorgehoben werden. Es beginnt mit Walther von der Vogelweides Ihr sult sprechen willekomen (*) und Ich saz uf eime steine (*) und geht über Martin Luthers Ein feste Burg ist unser Gott (*), Andreas Gryphius‘ Wir sind doch nunmehr gantz verheeret (*), Friedrich Gottlieb Klopstocks Mein Vaterland (*) und Friedrich Schillers An die Freude (*) bis hin zunächst zu Heinrich Hoffmann von Fallerslebens Das Lied der Deutschen (*) und seiner und anderer (Freidank, Achim von Arnim, Clemens Brentano) Versionen des Volksliedes Die Gedanken sind frei (*). Dazwischen findet sich eine Vielzahl von Gedichten bekannter, weniger bekannter und unbekannter Verfasser.
Aber das Buch bleibt nicht bei Hoffmann von Fallersleben stehen, wie der eine bloße Kapitelüberschrift des Buches übernehmende Titel des Vorworts „Die Geschichte der Nationalhymne von Walther von der Vogelweide bis Heinrich Hoffmann von Fallersleben“ glauben lässt. Neben den angesprochenen ca. 25 „regionalen Heimatliedern“ geht es dann nämlich um einige weitere Gedichte Hoffmann von Fallerslebens – u.a. die zwei Fassungen des problematischen Die Fremdherrschaft und Über unserm Vaterland (Deutsche Farbenlehre) –, vor allem aber um gut 30 Gedichte bzw. Lieder, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sind oder die ab da, obwohl zum Teil wesentlich älter, zeitweise politisch instrumentalisiert wurden. Sie alle gehören nach Reumann zur Geschichte der deutschen Nationalhymne. Zu nennen sind insbesondere – in alphabetischer Reihenfolge – Johannes R. Bechers Auferstanden aus Ruinen (*), Karl Berbuers Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien (*; bei Reumann unter Heidi tschimmela firmierend), Bertolt Brechts Kinderhymne (*), Karl Brögers Nichts kann uns rauben (*), Ferdinand Freiligraths Schwarz-Rot-Gold, Hans Ferdinand Maßmanns Gelübde (*), Edwin Redslobs Wir wollen frei und einig sein (*), Martin Rinckarts Nun danket alle Gott (*), Heinrich Schmiedens Bismarck, Rudolf Alexander Schröders Hymne an Deutschland (*) und Balthasar Gerhard Schumachers Heil dir im Siegerkranz.
Im Zusammenhang dieser Aufzählung: Aus der Vielzahl der aufgenommenen Gedichte und Lieder hat Reumann eine Art ‚Hitliste‘ zusammengestellt, deren 26 Titel seines Erachtens ganz oder in Teilen „(meist inoffizielle) Vorgänger und […] Konkurrenten von Hoffmanns Hymne“ sind. Diese ebenso anregende wie anstößige, wie markiert mit Walther von der Vogelweide beginnende und der Chronologie nach mit Brecht und Schröder endende Hitliste zu diskutieren, stellte eine eigene reizvolle, an dieser Stelle nicht zu leistende Aufgabe dar. Hier der Reihenfolge nach jene Titel, die bislang nicht gefallen sind: Johann Walter, Ein neues christliches Lied (*), Ulrich von Hutten, Noch einmal ruf ich (Frisch drauf!; *; nur in zwei Zeilen wiedergegeben!), Kein schön’rer Tod ist in der Welt (*; unbekannter Verfasser), Johann Gottfried Hientzsch, Brüder, reicht die Hand zum Bunde (*), Johann Nepomuk Vogl, Gegrüßt du Land der Treue (*), Max von Schenkendorf, Freiheit, die ich meine (*), Ernst Moritz Arndt, Des Deutschen Vaterland (*), Theodor Körner, Frisch auf, mein Volk! (*), Joseph Freiherr von Eichendorff, Der Jäger Abschied (*), Mädle, ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite (*; unbekannter Verfasser; 2. und 3. Strophe Heinrich Wagner).
Der schon angesprochene Eindruck des Unfertigen, eines hinsichtlich gewisser Entscheidungen problematischen work in progress, den das Buch macht, bestätigt sich nicht nur in den Erläuterungen und Kommentaren (s.u.), sondern auch in den skizzierten, die Gedichte bzw. Lieder dokumentierenden Teilen. Beispielsweise fehlen häufiger Quellenangaben, liefern Übersetzungen ins Hochdeutsche wie bei den Walther-Liedern mehr Zeilen als die zuvor zitierten Originale, werden bei einem Lied wie Ach, wie flüchtig, ach, wie nichtig ist der Menschen Leben gegen die sonstige Praxis weder Autor (Michael Frank) noch Komponist (Johann Sebastian Bach) genannt, wird Andreas Gryphius‘ Thränen des Vaterlandes, Schillers An die Freude, Wilhelm Hauffs Reiters Morgenlied und anderen Texten jeweils mit der ersten, z.T. inkorrekt wiedergegebenen Zeile ein falscher Titel gegeben, wird wie bei Thränen des Vaterlandes „[d]em besseren Verständnis zuliebe […] die Zeichensetzung verändert“ usw. usf.
Max von Schenkendorfs Freiheit, die ich meine und Wenn alle untreu werden werden mit zwanzigseitigem Abstand in Auszügen gleich zweimal abgedruckt, mit zum Teil gleich lautendem Kommentar. Beim ersten Lied wird nicht auf Auslassungen zwischen den Strophen verwiesen, der zweite Abdruck ist fehlerhaft. Beim zweiten Lied wird ohne Hinweis ein Text angeboten, der aus den Fassungen 1814 (Original), 1861, 1900 und 1933 zusammengesetzt ist.
Zudem fragt man sich bei nicht eben wenigen wiedergegebenen Liedern, in welchem näheren, eine ausführliche Dokumentation und Kommentierung rechtfertigenden Zusammenhang sie mit dem Thema „Geschichte der deutschen Nationalhymne“ stehen: beispielsweise bei Luthers Frau Musika, Matthias Claudius‘ ’s ist Krieg!, Ludwig Uhlands Freie Kunst (*), Joseph von Eichendorffs Mondnacht, Hermann Löns‘ Matrosenlied, Otto Reuters Genau wie 1870 und etlichen anderen – darunter zahlreiche Soldatenlieder, Lieder des Wandervogel, „Vorwärtslied[er] der Nationalsozialisten“, ein „Turner- und Bergwanderlied“ wie Immer vorwärts auf die Höhen (Vorwärts-Marsch), „Antikriegslieder“ wie Zogen einst fünf wilde Schwäne und Lili Marleen oder ein antisemitisches Lied wie Ham se nich den kleinen Cohn gesehen?. Ist es tatsächlich so, dass man Hoffmann von Fallerslebens Lied an die Deutschen und „dessen Vorzüge“ nicht ohne detaillierte Kenntnis der genannten Lieder und Liedgruppen, der „Freiheitslieder aus dem Kampf gegen Napoleon“, der „Blut- und Tränen-Lieder aus der Barockzeit und der Romantik“ und der regionalen Heimatlieder (bei denen man Emil Rittershaus‘ Lied des Westfalen vermisst) verstehen kann? Gehören aufgenommene Texte wie beispielsweise Julius Mosens Zu Mantua in Banden (Andreas-Hofer-Lied), Theodor Storms Die Stadt oder Victor von Scheffels Alt-Heidelberg zu jenen Heimatliedern, die für die Geschichte der deutschen Nationalhymne relevant sind?
Abschließend einige Bemerkungen zu den meist entweder zu knappen oder gegenteilig unangemessen ausladenden Erläuterungen und Kommentaren: Hier wirkt vieles additiv, volkslexikonhaft, grob, sprunghaft, geschmäcklerisch und, im Sinne von „und dann weiß ich noch“, nach Gutdünken. Mehr als einmal fällt es wie im Falle des Abschnitts „Bibel und Volkslied“ aus dem Kapitel „Kampf um die politische Freiheit“ schwer, eine argumentative Zuordnung zu treffen. Nicht zu übersehen sind darüber hinaus viele wortwörtliche Wiederholungen sowie problematische Aktualisierungen (Ukraine) und kühne Brückenschläge über große Zeiträume hinweg (frühes 19. Jahrhundert – Geschwister Scholl, Volker Bouffier). Trivia, Anekdotisches, fragwürdige Abschweifungen und thematisch leerlaufende Informationen wie beispielsweise biographische Informationen zu Sigismund von Luxemburg (1368-1437) durchsetzen die Ausführungen und unterminieren Ansätze eines mit langem Atem ausgestatteten argumentativen Zusammenhangs. Fehlt es mir an Humor, wenn ich einer Aussage wie „Hätte es damals schon die Mozartkugeln gegeben; Wolfgang Amadé hätte davon womöglich genug genascht“ nichts abgewinnen kann? Die bezieht sich auf den angeblichen an seine Schwiegertochter Constanze Weber gerichteten Vorwurf Leopold Mozarts, sein Sohn sei „so dünn“ geworden.
Mehrheitlich sind die Erläuterungen und Kommentare auch in fachwissenschaftlicher Hinsicht – Geschichte, Literatur- und Kulturwissenschaft zuvorderst – unbefriedigend. Das ist zum Teil einem laxen Sprachgebrauch geschuldet, der – ein Beispiel von vielen nur – bei Renaissance und Barock (eine „Orgie des Glaubens“?) Gegensätze da behauptet, wo von Unterschieden zu reden angemessener wäre. Es hat aber auch mit Nachlässigkeiten (statt König Friedrich Wilhelm III. von Preußen Wilhelm III. von Preußen) und mit der mangelnden Tragfähigkeit nicht eben weniger Thesen zu tun. Ist Luther, um bei den eigenen Leisten zu bleiben, tatsächlich „neben Walther von der Vogelweide und Johann Wolfgang von Goethe einer unserer drei größten Dichter“? Und war der bereits genannte, zweifellos maßgebende Max von Schenkendorf tatsächlich der „bedeutendste Lyriker in der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon“? Zudem werden viele Begriffe, beispielsweise die Epochenbegriffe „Romantik“ und „Vormärz“, gänzlich unscharf gebraucht.
Etliche Behauptungen sind außerdem schlicht falsch. Johann Gottfried Hientzschs Brüder, reicht die Hand zum Bunde ist nicht der Text der österreichischen Nationalhymne, ebenso wenig wie „[b]etäubender Duft“ im Barock und zu späteren Zeiten die „frische Luft“ vertrieben hat, sondern den mangelhafter Hygiene geschuldeten Gestank überdecken sollte.
Fazit: Wie Kurt Reumann im Buch wissen lässt, bereitete er noch ein Buch über Martin Luther und dessen Doktorvater Andreas Bodenstein vor. Sollte das Projekt bis zu Reumanns Tod soweit gediehen gewesen sein, dass an eine Veröffentlichung zu denken wäre, wäre dieser jenes gründliche Lektorat zu wünschen, das das vorliegende Buch zum Schaden der Sache und des Autors schmerzlich vermissen lässt.
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