Der Wallstein Verlag hat die Kommentierte Studienausgabe der Werke und Briefe von Emmy Hennings fortgesetzt
Der erste Band einer zweibändigen Briefedition präsentiert eine Auswahl aus den frühen Briefen
Von Manfred Orlick
Emmy Hennings (1885–1948) war Schriftstellerin, Schauspielerin, Kabarettistin und eine zentrale Figur der literarischen Avantgarde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Zusammen mit ihrem Ehemann Hugo Ball gründete sie das Cabaret Voltaire in Zürich, das als Geburtsort der Dada-Bewegung gilt. In erster Linie war Hennings aber eine Überlebenskünstlerin sowie eine der interessantesten und schillerndsten Frauenfiguren der Moderne. Sie schrieb Gedichtbände und Romane, geriet aber aufgrund ihrer prekären Lebensumstände häufig mit dem Gesetz in Konflikt.
Der Wallstein Verlag startete 2016 eine Kommentierte Studienausgabe der Werke und Briefe der Schriftstellerin Emmy Hennings. Band 1 (2016) vereinigte den 1919 erschienenen Roman Gefängnis (1919) mit den zwei zu Lebzeiten unveröffentlichten Gefängnis-Romanen Das graue Haus und Das Haus im Schatten, in denen sie ihre traumatischen Lebenserfahrungen verarbeitete. Ihr Roman Das Brandmal (1920) und die Erzählung Das ewige Lied (1923) wurden in Band 2 (2017) vorgestellt. Mit Band 3 erschien dann 2020 ihr lyrisches Werk. Erstmals wurde es vollständig publiziert – sowohl ihre zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte, sofern sie nachweisbar waren (insgesamt 153 Titel), als auch die unveröffentlichten aus dem Nachlass.
Nach einer mehrjährigen Pause liegt nun der erste Band ihrer Briefe vor, der die ausgewählte Korrespondenz der Jahre 1906-1927 versammelt. Emmy Hennings war eine äußerst produktive Briefschreiberin und so bilden ihre im unverkennbaren Stil verfassten Briefe einen bedeutenden Teil ihres Oeuvres. Die Auswahledition umfasst 177 Briefe an rund fünfzig Adressatinnen und Adressaten. Insgesamt wurden rund 2.800 Briefe ermittelt und durchgesehen. Die Mehrheit der abgedruckten Briefe befindet sich im Doppelnachlass Hennings/Ball im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Es ist jedoch anzunehmen, dass noch weitere Briefe in anderen Institutionen, Archiven und Privatsammlungen vorhanden sind.
Emmy Hennings‘ Briefe sind bislang nur in fragmentarischer Form editiert worden. Die beiden geplanten Auswahlbände sollen nun einen möglichst breiten Überblick der Korrespondenz bieten, wodurch auch die Werkbiografie der Autorin sehr viel deutlicher wird. Die Wiedergabe der Briefe (Postkarten, Telegramme) erfolgt in chronologischer Reihenfolge nach Jahren und (sofern möglich) mit Angabe von Adressat*in, Ort und Datum versehen. Die Briefe werden in ihrer Originalschreibung vollständig und unverändert wiedergegeben.
Die oft wechselnden Ortsangaben (Deutschland, Schweiz und Italien) belegen den nomadenhaften Lebensstil von Emmy Hennings, während das Briefempfänger- und Personenregister verdeutlicht, wie vielschichtig ihr Freundes- und Bekanntenkreis war. Die Namensliste ihrer Gefährten und Freundinnen liest sich wie das Kompendium der avantgardistischen Bohème-Szene. In der Dada-Zeit und in den 1920er Jahren dominieren die Briefe an ihren Lebensgefährten und späteren Ehemann Hugo Ball (1886-1927). Beide („Seepferd“ (Emmy) und „Steffgen“ (Hugo)) verband eine außergewöhnliche Liebesbeziehung, die in ihren Gedichten aber auch in den Briefen nachgezeichnet werden kann.
Mein liebes Steffgen!
Ach, Gott, ach Gott, wie geht es Dir wohl, ich wollte erst nicht schreiben, bevor Du geschrieben, aber nun halt ich doch nicht länger aus. (…)
In vielen Briefen machte sich Hennings Sorgen um Balls Gesundheit, der nach einer schnell fortschreitenden Krebserkrankung im Alter von nur 41 Jahren starb.
Ende 1920 traf Hennings erstmals mit Hermann Hesse (1877-1962) zusammen. Die erste Begegnung führte zu gegenseitigen Besuchen und einer jahrelangen Freundschaft sowie Korrespondenz, in der man sich über gemeinsame Interessen, Reiseerlebnisse oder Schreibblockaden austauschte. Hesse nahm dabei oft die Rolle des Nothelfers ein. Trotz der engen Freundesbeziehung begannen Hennings Briefe meist mit „Lieber Herr Hesse“, ein Zeichen ihrer Wertschätzung und einer damit verbundenen Distanz.
Neben den Briefen an Hugo Ball befinden sich unter der privaten Korrespondenz Briefe an ihre Mutter Anna Cordsen, an die Tochter Annemarie oder Hugos Schwester Maria Hildebrand, mit der sie ein gutes Verhältnis hatte. Als Geschäftsfrau verfasste Hennings auch zahlreiche Schreiben an Verleger oder Redakteure. Zudem verdeutlichen Bitt- und Bettelbriefe die angespannte finanzielle Lage der Familie Ball-Hennings.
Alle Briefe werden auf hundert Seiten ausführlich kommentiert. Die Kommentare konzentrieren sich auf biografische Bezüge, Entstehungszusammenhänge oder den Schreibstil von Emmy Hennings. Die Register (Personen-, Orts-, Werk- und Periodikaregister) sind dabei als Teile des Kommentars zu verstehen. In ihrem Nachwort „Weil aus Briefen das Unmittelbare, das Allerdirekteste spricht. Emmy Hennings als virtuose Briefschreiberin“ widmet sich die Herausgeberin Franziska Kolp einigen Aspekten und Eigenheiten von Hennings Korrespondenz. Die Neuerscheinung wird zudem durch einige historische Abbildungen und eine stichpunktartige Biografie von Hennings der Jahre 1885 bis 1927 ergänzt.
Der zweite Band der Briefedition wird eine Auswahl von Hennings‘ Korrespondenz von 1927 – das Todesjahr von Hugo Ball war eine wichtige Zäsur in ihrem Leben und Schreiben – bis zu ihrem eigenen Tod im Jahr 1948 präsentieren. Mit der zweibändigen Edition gelingen dann bemerkenswerte Einblicke in das Privatleben und den Alltag, während sie gleichzeitig ein vielschichtiges Panorama des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwirft.
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