Toxische Mutter, traumatisierte Tochter
Suzumi Suzuki öffnet mit dem Roman „Die Gabe“ Türen zu einer trostlosen Welt
Von Lisette Gebhardt
Die Gabe ist nach einigen anderen Veröffentlichungen Suzuki Suzumis erster literarischer Versuch. Thematik und Temperament des Texts erinnern an die Autorin Hitomi Kanehara (*1983). Die Tochter eines Literaturprofessors schrieb vor über zwei Dekaden den mit dem Akutagawa-Preis prämierten Bestseller Hebi ni piasu (2003; „Schlangenzunge und Piercings“); er handelt von einer durch provokative Körpermodifikation die Normen herausfordernden Jugend in der Hauptstadt Tôkyô. Kanehara portraitierte die freiheitshungrige, anti-konsumistische Subkultur eines urban tribe, betrieb jedoch aus PR-Gründen die Selbstvermarktung als subversives Girlie (gyaru), während die dargestellten spektakulären Inhalte (ein Räucherstäbchen im Penis des toten Geliebten) damit umso mehr dazu angetan waren, die Neugier vieler Rezipienten zu wecken.
Bad girl, beachtete Publizistin
Suzuki geht seit geraumer Zeit der Ruf eines bad girl voraus. Die ebenfalls 1983 geborene Publizistin war in jüngeren Jahren Pornofilmdarstellerin. Sie ist eng affiliiert mit dem Tôkyôter Kabukichô-Viertel, kennt sich daher im Begleitdamen- und Gigolo („Host“)-Gewerbe aus und heiratete selbst letztes Jahr einen Host. Suzuki hatte zunächst Umwelt- und Kommunikationswissenschaften studiert. Ein Masterprogramm in Soziologie absolvierte sie an der Universität Tôkyô, ihre Abschlussarbeit publizierte sie 2013 unter dem Titel Soziologie einer Adult Video-Schauspielerin. Die Autobiographie Karada o uttara sayônara. Yoru no oneesan no ai to kôfukuron (2014; „Wenn du deinen Körper verkaufst, dann heißt es Abschied. Liebes- und Glückserörterungen einer Schwester der Nacht“) wurde 2017 verfilmt. Die Gabe ist Suzukis siebtes Buch und ihr literarisches Debut. Der Text erhielt die Nominierung für den Akutagawa-Preis, gewann aber die Endausscheidung nicht.
Rotlichtmilieu, Poesie und Tod
Die Gabe spielt im sogenannten Wassergeschäft (mizu shôbai) der Metropole, d.h. im Rotlichtmilieu von Kabukichô. Im Mittelpunkt des Erzählten steht eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, in erster Linie zurückzuführen auf die Unzugänglichkeit der Alleinerziehenden; sie verbietet ihrer Tochter kategorisch, den Vater zu treffen, und lässt sich außerdem zu einer seltsam beiläufig wirkenden Brandattacke auf ihr Kind hinreißen, von der die Jugendliche störende Narben zurückbehält. Um das Jahr 2008, zeitgeschichtlich also in der Phase der Prekarisierung vor allem der japanischen Jugend, arbeitet die namenlose Protagonistin als Hostess. Sie wohnt in bescheidenen Verhältnissen im einschlägigen Viertel. Unerwartet meldet sich an einem Herbsttag die Mutter, berichtet von ihrer fortgeschrittenen Krebserkrankung und zieht bei der Tochter ein – Begründung ist, dass die Verfasserin einiger schmaler Lyrikbände noch ein letztes Gedicht schreiben wolle, was ihr im Krankenhaus unmöglich sei. Das Zusammenleben mit der moribunden Person, die kaum mehr Essen zu sich nehmen kann, gestaltet sich nicht einfach. Im Laufe des kurzen Aufenthalts von neun Tagen erinnert sich die Fünfundzwanzigjährige an die zu zweit verbrachten Jahre – ihr Erzeuger hatte sich, nachdem er von der Schwangerschaft der Geliebten erfuhr, für die ihm bequemere Ehefrau und seine Kinder entschieden. Dies bedingte eine grundsätzliche Verbitterung bei der einst sehr schönen Kunstadeptin, die zudem erkennen musste, dass die angestrebte Karriere im Kulturbereich kaum umzusetzen war. Ihr ausgeprägter Stolz hatte einen Lebensweg mit Kompromissen offenkundig verhindert. So zog es die Mutter vor, als Sängerin in einem Nachtclub, später der Tochter gegenüber als „Kulturtempel“ verbrämt, ihr Einkommen zu beziehen. Aus der Erläuterung eines Gönners, der aus alter Verbundenheit ein großzügiges Geldgeschenk für die Erkrankte überreicht, erfährt die junge Frau die näheren Umstände:
Für die Gäste habe sie aber praktisch nackt auftreten sollen, das sei ihr zwar nicht recht gewesen, aber da auch Widerstand seine Grenzen habe, habe sie in sehr aufreizender Kleidung gesungen, und je mehr Haut sie gezeigt habe, desto unverhohlener seien die Reaktionen des Publikums gewesen.
Die Hostess kann sich nicht überwinden zu vergeben. Zu stark stehen beidseitige Traumata zwischen den Frauen. Während eine gute Gestaltung der letzten Zeit mit der Mutter misslingt, sucht die Tochter bei gelegentlicher Bedienung einiger Kunden Zuflucht im Milieu, in Bars und Hostclubs, ohne nennenswert Aufheiterung zu erfahren. Es gilt nämlich zusätzlich, den Verlust zweier Freundinnen zu bewältigen, von denen die eine Selbstmord beging.
Wert und Wandel des weiblichen Körpers
Insgesamt dominiert eine düstere Stimmung den Text, wirkungsvoll untermalt von dem Bekenntnis der Protagonistin, sich seit längerem im trüben Zustand andauernder alkoholischer Benebelung zu befinden und der wiederholten Schilderung der dumpf zuschlagenden Türen, die zum Apartment in Kabukichô führen. Eine Schlüsselstelle nimmt der Bezug auf die (von einer Tätowierung verdeckte) Brandnarbe am Arm der Erzählerin ein, die sich sowohl als aggressiver Akt der Mutter verstehen lässt, eventuell aber auch als Unterfangen, die Attraktivität der Tochter zu mindern, paradoxerweise um ihr ein besseres Dasein zu gewährleisten. Ohne unbedingt eine konsequente feministische Position zu vertreten, äußert sich die Autorin zur Wertbemessung des weiblichen Körpers in der japanischen Gegenwartsgesellschaft und zu den aufdringlichen Begehrlichkeiten der privilegierten Männer, die auf diese Körper mittels finanzieller Macht zugreifen können. Die schöne und eben mit einer besonderen „Gabe“ ausgestattete Frau erfährt zwar temporär die Aufmerksamkeit eines Verehrers, erlangt, so die Erkenntnis der Mutter, aber nie den sicheren Status mittelmäßiger Ehefrauen. Eine Zweisamkeit mit der Begabten wäre für den grundsätzlich trägen Mann langfristig zu anstrengend:
Eine Frau, die von einem Mann bewundert würde, zöge immer den Kürzeren. Mit schönen Frauen schmücken sich die Männer gern, aber lieben würden sie insgeheim die hässlichen.
Suzukis Schilderung gesellschaftlicher Missstände, mütterlicher Brutalität, kindlicher Gleichgültigkeit sowie selbstzerstörerischen und egomanen Verhaltens bei Mutter wie Tochter wird in gelungenen Szenen entwickelt. In der fatalistischen Sicht auf die vergängliche Welt, lassen sich intendierte oder nicht bewusst gewählte Bezüge zu buddhistischen Leitbildern der landeseigenen Kultur entdecken – etwa das des ephemeren Charakters der menschlichen Existenz. Wenn Suzuki auf ebenso eindrückliche wie beklemmende Art den körperlichen Verfall der Mutter im Laufe ihres Aufenthalts bei der Protagonistin beschreibt, denkt man an die mittelalterlichen kusôzu-Bilderrollen, die die klassischen neun Stadien der Leichenzersetzung einer Edeldame illustrieren.
Ein neues Talent?
Der Roman hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Er überzeugt in seiner knappen, schlüssigen Form und mit manchen nachklingenden Szenen. Themen und Motive sind dabei leider entgegen der Verlagsprosa keineswegs als innovativ, stellenweise sogar als epigonal zu bezeichnen. Größere Bedenken ruft der Umstand hervor, dass ein Text, der sich mit der Käuflichkeit von Körpern befasst, parallel dazu intime, wohl der Biographie seiner Autorin entlehnte Details ausstellt – offensichtlich in der Absicht, den Voyeurismus der Leserschaft zu bedienen. Die Mutter-Tochter-Problematik wurde schon von etlichen japanischen Schriftstellerinnen zuvor behandelt, ebenso die soziale Kälte des urbanen Umfelds. Trostlosigkeit und präfinale Düsternis erreichen bei Suzuki, die mit diesem Werk im Alter von 41 Jahren den Schritt in die literarische Literatur wagt, allerdings eine gewollte, deutliche Verdichtung – zu einem satten Vantablack.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
![]() | ||
|
||
![]() |