Modernität und Alterität des Mittelalters

Hans-Werner Goetz über Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung

Von Christian HeuerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Heuer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Quo vadis, Mediaevista, fragt Hans-Werner Goetz am Ende seiner Darstellung der "Modernen Mediävistik". Galt die Mittelalterforschung bisher als eher konservativ und traditionellen Ansätzen verhaftet, so wird sie mittlerweile vom Sog einer allgemeinhistorischen und fachspezifischen Diskussion erfasst, die einen veränderten Blick auf die Geschichte wirft: weg von den übergreifenden überpersönlichen Strukturen, hin zum 'einfachen' Menschen, seiner Mentalität, seinen Vorstellungs-und Glaubenswelten, seiner Kultur. Die Entwicklung wird dadurch besonders brisant, dass durch die eher zögerliche Rezeption 'neuer' Fragestellungen und Methoden die deutsche Mediävistik Gefahr läuft, den internationalen Anschluss zu den theoriefreudigeren französischen und angelsächsischen Forschungen zu verlieren. Diese Sorge treibt auch Goetz um.

Zwar betont dieser, dass die vorliegende Studie eher beiläufig aus der Beschäftigung mit dem Stand des Faches in Seminaren und Ringvorlesungen erwachsen sei, weshalb sie auch bescheiden als Essay tituliert wird, und sicherlich wirkt sie zuweilen skizzenhaft. Bedenkt man allerdings, dass für den Bereich der Mediävistik die Wissenschaftsgeschichte und selbst der Stand der einzelnen Methoden- und Themengebiete kaum umfassend dokumentiert sind (mit Ausnahme von Michael Borgoltes Bericht zur "Sozialgeschichte des Mittelalters in BRD und DDR nach 1945"), so wird man die Pionierarbeit von Goetz' Versuch durchaus würdigen müssen. Leitthema ist dabei die Frage nach den sich wandelnden spezifischen Mittelalterbildern, die die Forschungsgeschichte und die jeweiligen Themengebiete konstituiert haben. Goetz betont die in der Mediävistik nicht immer erkennbare Erkenntnis, dass das wissenschaftliche Bild vom Mittelalter immer auch die historische Position des Historikers reflektiert; dessen Gegenwart bestimmt die Fragestellungen, die interessieren und an die Vergangenheit herangetragen werden. Bei der Zeitgebundenheit des historischen Blickes wird oftmals all das verkannt oder modern überformt, was der jeweiligen Epoche eigentümlich und wichtig war. Dieses Dilemma kennzeichnet die Geschichtswissenschaft zwischen wissenschaftlichem Anspruch und modernen Aneignung dessen, 'was geschehen ist'. Modernität und Alterität des Mittelalters, Vergangenheit und Gegenwart, das Zusammentreffen von Betrachter und Betrachtetem mittels fachlicher Reflexion zu bestimmen, das ist nach Hans-Werner Goetz die große Aufgabe der Mediävistik.

Ein Blick zurück in die deutsche und internationale Geschichte des Faches erhellt dabei die verschiedenen Wege, auf denen die Mittelalterbilder erarbeitet worden sind. Das Bild für die nationale Forschung ist deprimierend: die letzten innovativen Leistungen liegen mit der politische Strukturgeschichte 60 Jahre zurück und die Anregungen beispielsweise der 'Annales'-Schule, aber auch der historischen Sozialwissenschaft der 60er Jahre, wurden zuerst abgelehnt, dann nur sehr zögerlich rezipiert. Felder wie die Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie wurden als 'Modetorheiten' bezeichnet, die eigene nationale Kulturgeschichte im Lamprecht-Streit abgewürgt, ehe sie begann. Den Perspektivenwechsel von der großen Geschichte zum Menschen zu vollziehen, bleibt weiterhin mehr Postulat, als dass sie schon Eingang ins allgemeine Bewußtsein des Faches gefunden hätte.

In einem zweiten Teil diskutiert Goetz anhand einzelner Themen und 'neuer' Ansätze die inhaltliche und methodische Diversifizierung der Mediävistik. Dabei wird deutlich, dass auch klassische Felder wie die Quellenkunde und die politische Verfassungsgeschichte deutlich von historischer Anthropologie und historischer Kulturwissenschaft beinflusst werden. Die Quelle wird (unter Einfluß des 'linguistic turn') wieder verstärkt als ein philologisch zu lesender Text verstanden, der keine historische Wahrheiten transportiert, sondern eine zeitspezifische Wahrheit und ein Weltverständnis konstruiert; in der Folge werden nicht 'neue ' Quellen gehoben, sondern z. B. Heiligenviten oder Memorialüberlieferungen neu gelesen und ausgewertet. In der Verfassungsgeschichte wandelt sich der Blick von der großen Strukturgeschichte im Sinne eines Otto Brunner hin zur Rekonstruktion der politischen Praxis und Herrschaftsausübung im Ritus, Zeremoniell und anderen Formen zeichenhaften Handelns, und schließlich ist eine ähnliche Verlagerung hin zur gesellschaftlichen Praxis (und damit auch Dynamik) in der Sozialgeschichte erkennbar. Es gehört zu Goetz' Leistungen, dass in diesem Kontext auch Nischen wie die mediävistische Wirtschaftsgeschichte und sogar die Technikgeschichte berücksichtigt werden. Ingesamt wird aus den Darstellungen ersichtlich, dass ältere Themenkomplexe und die alternativen Herangehensweise sich nicht per se ausschließen, sondern sich vielfältige Möglichkeiten zur Anbindung finden und die gängigen Modelle zur mittelalterlichen gesellschaftlichen Ordnung häufig den Ausgangspunkt zur Modifizierung und Ausgestaltung bilden.

Überhaupt wird man den großen Vorteil der historischen Anthropologie und der Kulturgeschichte gerade in ihrer inhaltlichen und methodischen Flexibilität sehen, zumal, da sie keine komplett neue Geschichtstheorie bieten kann (sieht man von extremen Positionen wie dem Ende der Geschichte als Konsequenz postmoderner Positionen ab), sondern häufig die scheinbare Selbstverständlichkeit bisheriger Erkenntnisse in Frage stellen und somit dazu beitragen möchte, 'zeitgemäße' Fragewürdigkeiten zu reformulieren. Goetz wirbt nicht für eine neue, sondern für eine anders betrachtete Geschichte. Darin könne sich auch eine neue Aktualität der Mediävistik abzeichnen.

Goetz sieht in allen Ansätzen Chancen, sofern sie kritisch überprüft werden und nicht historische Anthropologie und Kulturgeschichte eine Hegemonialposition einnehmen, wie es früher die politische Geschichte getan hat. Solch einer Pluralisierung des Faches (bei gleichzeitiger Verdichtung des Austauschs) wird die Zukunft gehören; die Studie selbst kann dazu beitragen, dass dieser Dialog über den Weg der Mittelalterforschung fortgesetzt wird. Die Darstellung der einzelnen Sachgebiete ist durchaus engagiert und scheut im Detail nicht die Kontroverse. Im Falle des Gastbeitrags von Hedwig Röckelein zur Psychohistorie, die sich eher mangelnder Akzeptanz in der Zunft erfreut, ist der Ton sogar etwas kämpferisch.

Ein kleiner Schwachpunkt ist, dass sich die Studie bei den Forschungsbeispielen oft (dies allerdings auch eingestandermaßen) auf das Früh- und Hochmittelalter beschränkt, obwohl, wie der Verfasser selber feststellt, gerade die jüngere Wissenschaftlergeneration das Spätmittelalter bevorzugt beackert. Eine gewisse Sorge um die zukünftige Vernachlässigung gerade der quellenarmen Zeiten und der sperrigen Auswertungen mag dabei eine Rolle spielen. Allerdings ergeben sich gerade im ausgehenden Mittelalter Berührungspunkte zu der ausgesprochen theoriefreudigen Neueren Geschichte, die bekanntlich als erste Fachrichtung anthropologische Konzepte für die Frühe Neuzeit historisch entwickelte und rezipierte und dabei die Anbindung an das Spätmittelalter suchte, was sogar zu neuen Ansätzen in der Periodisierung mit einheitlichen Phasen "langer Dauer" führte, oder auch an die mittlerweile in Wiederbelebung begriffene Reformationsgeschichte. Das hätte auch den seltsamerweise unterrepräsentierten Bereich der Frömmigkeit und der religiösen Bewegungen stärker als forschungsaktives Feld akzentuiert (auf die Arbeiten von Klaus Schreiner wird zumindest ansatzweise eingegangen).

Die Methoden- und Themendiskussion innerhalb der Geschichtswissenschaft erfolgt ausufernd und verstreut in den Foren der diversen Fachzeitschriften und in Sammelbänden. Den programmatischen Aussagen und Methodendarstellungen fehlen häufig die fachspezifischen Bezüge (auch wenn, in Unterschied zu anderen Teilbereichen, dies besonders die Mediävistik betrifft) und damit deren erprobte Tragweite. Goetz' Essay fokussiert die Debatte und sucht die Anbindung an die traditionelle Forschung des Faches, weshalb er insbesondere Studierenden im Übergang vom Grund- zum Hauptstudium zu empfehlen ist, die sich vertiefend mit dem Mittelalter in seinen unendlichen Facetten beschäftigen möchten, und trotz oder gerade wegen der z. T. vorsichtigen und abwägenden Darstellung der neueren Forschungsentwicklungen wird er als Einführungsband eine gewisse Brauchbarkeitsdauer behalten; es wird eine gute Anregung zur kritischen Methodenreflexion dargeboten, wie sie einzelne Darstellungen zu Methoden und Ansätzen historischer Deutung normalerweise nicht bieten. Daher wäre auch eine preisgünstige Taschenbuchausgabe begrüßenswert.

Titelbild

Hans-Werner Goetz: Moderne Mediävistik.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2000.
412 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3896781227

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch