Die Erinnerung ist eine Katze
Monika Zeiners Roman „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“ enthält eine Fülle an Reflexionen grundsätzlicher philosophischer Provenienz
Von Werner Jung
An einer Stelle in Monika Zeiners zweitem Roman sinniert einer der Protagonisten, der Ich-Erzähler Nikolas, darüber, dass die Erinnerung „kein Hund, den man erziehen und Gehorsam lehren kann“, sei, sondern vielmehr eine Katze. „Sie springt dir auf den Schoß, wenn du es nicht erwartest, und bleibt in ihrer Ofenecke liegen, wenn du sie rufst.“ Ja, schmerzlich ist die Erkenntnis, dass sich die Erinnerung und das Erinnern nicht zwingen und bändigen lassen, dass sie sich unverhofft und unwillkürlich einstellen, dass sie den Menschen gleichsam überfallen. Darin mag man Reminiszenzen dieses überaus gelehrten (jedoch nie aufdringlichen) Romans an die Bergson-Proust‘sche Idee einer memoire involontaire erkennen, wie überhaupt Zeiners Text, dem von der Autorin dankenswerterweise am Ende noch diverse Quellen- und Zitatnachweise beigefügt worden sind, eine Fülle an Reflexionen grundsätzlicher philosophischer Provenienz enthält: Sie reichen von Überlegungen zur Erinnerungs- und Gedächtnisproblematik über das Verhältnis von „Sein und Zeit“ (im Heidegger‘schen Sinne wie auch darüber hinaus) bis hin zu selbstreflexiven poetologischen Aspekten des Erzählens. Was aber – so geht die Stelle weiter, an der sich der Protagonist im Zwiegespräch mit der in einem Schächtelchen verwahrten toten Feuerwanze namens Gisberta unterhält – wenn dem Ich wesentliche Erinnerungen fehlen? Dann hat dieses Ich Löcher:
Eine ganze Generation hat dann Löcher, denn uns wurde beigebracht, dass das Erinnern etwas Gefährliches ist, etwas, das unsere Existenz nicht bedingt, sondern infrage stellt und bedroht. Also meiden wir die Erinnerung. Wie auf einem unsicheren Gelände tasten wir Schritt für Schritt voran und fürchten ständig, in Abgründe zu fallen.
Zeiners Roman ist eine Familiengeschichte, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die aktuelle Gegenwart verläuft, da der 103-jährige Großvater verstirbt, während sein Enkel Nikolas sich an seine eigene Lebensgeschichte erinnert, dabei aber dann zugleich auch facettenartig andere Epochen ins Spiel kommen. Von der Erfindung der Columba-Schulbank und ihrer Präsentation bei der Pariser Weltausstellung über das beständige Wachsen dieses mittelständischen Unternehmens aus dem Fränkischen unweit Nürnbergs, die – vornehm ausgedrückt – problematische Übernahme, die – anders formuliert – Arisierung eines jüdischen Möbelgeschäfts 1935 mit der bohrenden Frage für die Nachgeborenen: War es eine brutale Übernahme oder doch, wie die verantwortliche Generation es gedeutet haben möchte, die Hilfsaktion für eine befreundete jüdische Familie?, bis hin zur Restauration nach dem Krieg spannt Zeiner den Bogen, der auch mit der zum Schluss angedeuteten Umstrukturierung des Unternehmens zu einer Aktiengesellschaft nicht endet.
Die Familiengeschichte repräsentiert damit die Ambivalenzen der deutschen Geschichte vom 19. bis in die Anfänge des 21. Jahrhunderts, und sie zeigt eine ehemalige Handwerker- und spätere Unternehmerfamilie zwischen Reichtum, Macht und sozialer Verantwortung wie zugleich deren Zaudern und Zögern, ein Mitläufertum und eine fatale Angepasstheit, dazu dann noch – die Buddenbrooks als Prätext lassen grüßen! – bei einzelnen Mitgliedern, nicht zuletzt einem der wesentlichen Protagonisten, eben Nikolas, der Drehbuchautor ist, musisch-künstlerische Anlagen, die den beherrschenden Eindruck einer geradlinig verlaufenden Dynastie wieder unterlaufen.
Zeiner nutzt ihre (fiktive) Familiengeschichte, die sich mäandernd durch den fortlaufenden Text zieht, auch noch, um sich in herrlichen wie kurzweiligen Digressionen, wobei sich erneut das poetologische Konzept Thomas Manns, etwa im Zauberberg, aufdrängt, über Gott und die Welt, die Metaphysik, über Religion und Aufklärung bis hin zu Reflexionen über die Geschichte der Zivilisation als einer Geschichte des Sitzens zu verbreiten:
„Der Protestantismus“, so Nikolas‘ philosophierender Gesprächspartner Achaz, neben einer Columba-Schulbank [sic!] lehnend, „befeuert also, ohne es zu wollen, das, wovor er Angst hat, nämlich die Entfesselung der ökonomischen Kräfte, die im 18. und 19. Jahrhundert zur Aufklärung und allmählichen Auflösung der Religion führen werden.“ – Ich fühle mich wie ein Schüler. Ich fühle mich wie der Schüler par excellence, das Urbild aller Schüler, die jemals auf diesen Schulbänken gesessen haben. „Das ist ja alles hinlänglich bekannt“, sage ich. „Was ist aber mit dem Sitzenbleiben in der Schule? Das Wort zeigt, wie negativ der Begriff des Sitzens gleichzeitig konnotiert ist, als ein Instrument der Strafe und Disziplinierung. Der Schüler wird in die Schulbank gezwängt wie in einen Schraubstock und wird vom Lehrer bearbeitet und abgeschliffen, bis ein funktionierendes Teil der industriellen Gesellschaft dabei herausspringt.“ – „Genauso ist es.“ Achaz nickt. „Der Stuhl wäre also beides: Zeichen der Macht und Disziplinierungsinstrument für die Unterworfenen.“
Ein wunderbares Lesevergnügen!
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
![]() | ||
|
||
![]() |