Beobachten, fragen und erinnern. Respektieren, bewundern und anklagen
Navid Kermani bereist Ostafrika – und trifft dort immer wieder auf den Westen
Von Günter Helmes
Navid Kermani ist wie der eine halbe Generation ältere Rezensent im südwestfälischen Siegen aufgewachsen und lebt heute in Köln. Er ist bislang mit circa 30 Büchern hervorgetreten. Sie handeln von so unterschiedlichen Themen wie Religion, Naher Osten, Osteuropa, Rockmusik, Reisen, Literatur, Migration, Interkulturalität, Leitbegriffe sowie Erotik und Sexualität. Als einer der führenden, das heißt ebenso streitbaren wie beispielsweise im Falle des Themas „Ukraine“ für mich nachvollziehbarerweise umstrittenen Intellektuellen der Bundesrepublik Deutschland ist er vielfach geehrt und hochrangig ausgezeichnet worden. Mit seinem hier zur Rede stehenden vorletzten Buch In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika – vor wenigen Tagen ist die zusammen mit Mehdad Zaeri (Illustrationen) verfasste „Fern- und Heimweh“-Geschichte Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest erschienen – hat er auch einen Reisebericht vorgelegt. Einen solchen, der, unter Berücksichtigung „gutgemeinte[r]“ ökologischer Bedenken, ein vielzeiliges Loblied auf das Reisen anstimmt. Und das keineswegs nur aus persönlichen Gründen. Denn: „Es wäre […] politisch fatal, wenn wir uns immer nur selbst sähen“.
Bei näherem Betrachten zeigt sich allerdings, dass es sich bei In die andere Richtung jetzt vor allem um ein politisches Buch handelt. Das sieht auch eine der beiden Töchter so, die ihren Vater auf der letzten der insgesamt wohl vier zwischen August 2022 und April 2024 statthabenden Reisen begleitete. Gelegentlich handele das Buch zwar auch über „Musik und auch mal einen Nationalpark“, so wird die Tochter gegen Ende des Buches zitiert, vor allem aber gehe es um „Krieg, Klimawandel oder Kolonialismus“. Und das, wo Afrika doch „so viel mehr“ sei.
Der Tochter Kermanis ist zuzustimmen. In die andere Richtung jetzt handelt beispielsweise auch von brillanten Musikszenen, Religionen, Landschaften und von der anscheinend – Kermani reflektiert immer wieder seinen möglicherweise „durch rassistische Prägungen verstellte[n] Blick“– eine Willkommenskultur à la lettre darstellenden Gastfreundschaft allerorten. Doch im Vordergrund steht die Absicht, von der jeweiligen innenpolitischen Lage, von gesellschaftlichen Entwicklungen und Verwerfungen, von klimatischen Veränderungen und von den unheilvollen westlichen Einflussnahmen in den besuchten Ländern zu berichten: das sind Madagaskar, Komoren, Mosambik, Tansania, Kenia, Äthiopien und Sudan.
Dabei beschränkt sich Kermani aber nicht neusachlich aufs bloße Registrieren. Er prangert vielmehr unverstellt an: zum einen die Ignoranz des Westens gegenüber dem millionenfachen Hausen, Darben, Sterben und Morden in den genannten Ländern, jene Ignoranz, die die „Kehrseite“ eines „Achtsamkeitsdiskurses“ ist, „der sich tatsächlich nur für die eigenen Belange interessiert“. Zum anderen die sich seit vielen Generationen fortschreibende (Mit-)Täterschaft, die unleugbare (Mit-)Verantwortung des Westens für all das, was im Osten Afrikas geschehen ist und ganz aktuell geschieht; die nicht enden wollenden, von unvorstellbarer Grausamkeit geprägten kriegerisch-terroristischen Auseinandersetzungen eingeschlossen.
Vermutlich ist es schon oft gesagt worden: Was Kermani wie in vorhergehenden, so auch im hier zur Rede stehenden Buch auszeichnet sind seine Wissbegier, sein Bedürfnis nach Verstehen, seine Lernbereitschaft, sein Einfühlungsvermögen, seine Redlichkeit, seine Abstinenz gegenüber vorfabrizierten Antworten, sein genaues Hinhören und Hinschauen, sein unablässiges Befragen und Nachfragen, sein sich selbst Infragestellen, sein Respekt und seine Aufgeschlossenheit dem und den Fremden gegenüber. Letzteres im Bewusstsein, „daß Fremdheit eigentlich ein positiver Begriff ist, Voraussetzung sogar für Selbsterkenntnis“. Und dies alles – es erübrigt sich eigentlich, es eigens auszusprechen – gepaart mit breitem (kultur-)historischen Wissen, mit analytischem und synthetischem Geschick und mit der Fähigkeit, erzählend zu unterrichten, zu unterhalten, zu fesseln und – und aufzurütteln? Wen aufzurütteln? Mit welchen Konsequenzen aufzurütteln? „In die andere Richtung jetzt“ aufzurütteln?
In die andere Richtung jetzt, das durch Detailreichtum und Perspektivenvielfalt bestechende Ergebnis auch der Bemühungen zahlreicher im vierseitigen „Dank“ aufgelisteten Institutionen und Dutzender namentlich genannter Informanten, Helfer, Organisatoren und Begleiter, untergliedert sich inklusiver „Dank“ in 14 Kapiteln. Die sind zwischen 10 und knapp 50 Seiten lang. Dabei unterscheiden sich das einleitende, die großen Themen und Thesen des Buches intonierende Kapitel „Hinreise“ und das vorletzte Kapitel „Urlaub“ – alle bisherigen Zitate stammen aus diesem thematisch facettenreichen Kapitel – insofern von den anderen erzählenden Kapiteln, als sie als eine Art Tagebuchauszug daherkommen: „Hinreise“ umfasst den Zeitraum 13. bis 22. August 2022, „Urlaub“ den Zeitraum 21. März bis 4. April 2024; beide bestehen aus 4 Einträgen.
„Hinreise“ erzählt unter anderem von der „Scham“, die Kermani schließlich angesichts eines Teils jener Literatur empfunden hat, die er in Vorbereitung seiner Reisen gelesen hat, jenes apologetischen Teils nämlich, der dem Kolonialismus auch etwas Gutes abgewinnen will. Und andererseits von dem dank kompromissloser, faktengesättigter kolonialkritischer Literatur (Simone Weil, Aimé Césaire, Howard French, Frantz Fanon, John Coetze) hervorgerufenen Staunen,
wie konkret die kolonialen Verbrechen den Kontinent bis heute belasten, die Ökonomie, die ethnischen Konflikte, die schlechte Regierungsführung … Danach findet man den Untergang des Abendlandes fast so gerecht wie Thomas Mann und Albert Einstein das Ende deutscher Staatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Mit French teilt Kermani im Übrigen dessen „Grundthese“, dass „Afrikas Unterwerfung, Versklavung und Ausplünderung […] die Entstehung der modernen Welt“ begründete.
Des Weiteren streicht das Kapitel den enormen Schaden heraus, den „halb Afrika“ im Zuge der aktuellen Sanktionen gegen Russland und der damit auch einhergehenden Profitgier des Westens genommen hat, einen Schaden, von dem beim „Lesen schlecht wird.“ Der entscheidende Satz in diesem auf die zwangsläufig Schuld generierende Komplexität des Weltgeschehens abhebenden Zusammenhang: „Hier kommt keiner sauber raus.“
Schließlich geht es in „Hinreise“ um die Frustration, die angesichts der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostafrika allenthalben herrscht. Gibt es denn keinerlei Hoffnung auf Verbesserung? Wird es so bleiben, dass das Kind einer der ungezählten Bettlerinnen „vom ersten Atemzug an keine Chance“ hat, während das westliche Kind – Kermani nimmt sich als Beispiel – „nichts dafür geleistet“ hat, „damit mir qua Geburt die Welt offenstand“? Wird die Aussage „Als Weißer bist du hier Jesus“, die ein Begleiter Kermanis auf Madagaskar trifft, auch in naher wie ferner Zukunft noch Gültigkeit haben?
Die drei auf „Hinreise“ folgenden Kapitel „Klima“, „Ewigkeit“ und „Rhythmus“ gelten Madagaskar. In „Hinreise“ hatte es bereits geheißen, von Flugzeug aus sehe das Land „wie eine Mine“ aus, „die aufgegeben worden ist.“ Dieser Eindruck wird nun u.a. durch zahlreiche Gespräche, die der Autor hier wie anderenorts mit ganz unterschiedlichen Leuten führt – viele sogenannte einfache Leute darunter –, im Sinne auch von ‚einheimischen‘ Antworten und Thesen konkretisiert. So heißt es u.a. (neokolonialistisch?), Madagaskar sei erst nach der Unabhängigkeit „aus seinem natürlichen Gleichgewicht geraten“. Hoffnung liege „nicht in Entwicklungs-, geschweige denn Regierungspolitik, nicht in Indexen, Klimazielen oder Lieferketten“, sondern allein „in der Musik.“ Zugleich wird bspw. über unterschiedliche Religionen, über die „großartige Jazzszene“ und über den ganz anderen Umgang der Einwohner mit dem Tod beziehungsweise den Vorfahren berichtet.
Das in vier Teile untergliederte Kapitel „Entwicklung“ ist das längste des Buches. Es gilt den Komoren, deren Geschichte, Wirtschaftsbeziehungen, Kulturen und Religionen. Eindrucksvoll wird die ungeheure materielle Kluft zwischen der zur Europäischen Union gehörenden reichen Insel Mayotte einerseits und den drei die „Union der Komoren“ bildenden armen Nachbarinseln Anjouan, Moheli und Grande Comore herausgearbeitet. Mayotte, so ein Gesprächspartner, sei allerdings „geistig destabilisiert“ und „ausgebrannt“. Es herrsche, so ergänzt seine Ehefrau, „der Rassismus wie in Paris.“ Für Anjouan wird am Beispiel von Chanel No5 unter anderem nachvollziehbar gemacht, wie Verderben bringend es sein kann, am Anfang einer Lieferkette zu stehen. Die vom Autor exotistisch als „Idylle“ wahrgenommene Insel Moheli steht thematisch für ein im Übrigen überall anzutreffendes Fluchtbegehren der Jugend, für militante religiöse Auseinandersetzungen nicht alleine hier, die zerstörerische Macht des Geldes auch anderenorts und das prekäre Für und Wider des Tourismus. Grande Comore wird nicht nur als ein „Fest für Islamwissenschaftler“ vorgestellt, sondern auch als Ort mit „den meisten Militärputschen der Welt“, mit einer weltläufigen Künstler-, Musiker- und Intellektuellenszene und mit einem unter anderem durch Entwicklungshilfe initiierten bzw. beschleunigten wirtschaftlichen Niedergang.
An der Provinz Cabo Delgado im Norden Mosambiks demonstriert das umfangreiche Kapitel „Energie“, wie eine Region trotz enormer Bodenschätze die „ärmste Provinz eines der ärmsten Länder der Welt“ sein kann. Das Kapitel liest sich über weite Teile wie ein Polit- und Wirtschaftsthriller. Es lässt erahnen, was westliche Konzerne und Banken, westliche Länder und solche des Nahen Ostens und selbst internationale Organisationen mit den desaströsen, ja apokalyptischen Verhältnissen vor Ort zu tun haben. „Stabilisieren Sie das Land oder stabilisieren Sie den Krieg?, frage ich eine Mitarbeiterin der Vereinten Nationen […]. / Ich weiß es nicht, antwortet sie: Ich sehe nur, daß unser Ansatz hier sowenig funktioniert wie in Afghanistan, in Haiti oder im Sudan.“
Wie in den Kapiteln über Madagaskar, geht es auch in dem schmalen Kapitel „Frieden“ über den Norden Tansanias, vormals ein Teil der Kolonie Deutsch-Ostafrika, um die Bedeutung der toten Vorfahren für die Einheimischen. Hier konkret um die „für viele Nachfahren“ äußerst wichtige „Restitution“ jener „menschlichen Überreste“ – es dürfte sich „deutschlandweit“ allein um „über zwanzigtausend“ Schädel handeln –, die zu Kolonialzeiten ins Kaiserreich geschafft wurden, um à la Rudolf Virchow „die Aufteilung der Menschheit in «Primitive» und «Kulturvölker» wissenschaftlich zu beweisen.“
Das in Kenias Hauptstadt Nairobi angesiedelte Kapitel „Kolonialismus“ hingegen unternimmt es u.a. anhand der Struktur der Stadt – die Westlands als Miniatur der „Gated Communities EU, China oder USA“ hier, ein Slum wie Korogocho dort – Themen wie „Klassenunterschiede“, „Hierarchie der Hautfarben“, „soziale Apartheid“, „Ethnien übergreifende Gier“, „Träume vom sozialen Aufstieg“, „Entwurzelung“ oder „ökologischer Fußabdruck“ zu diskutieren.
Ähnlich intensiv wie mit den Komoren setzt sich Kermani mit Äthiopien auseinander, dem die drei Kapitel „Krieg“, „Gebet“ und „Jazz“ gewidmet sind. In der heute an ein „vorindustrielle[s] Zeitalter“ erinnernden Region Tigray bietet sich ihm das „Bild eines Friedens, der lediglich aus der Abwesenheit des Krieges besteht.“ Jenes von vielen Ländern weltweit aus Eigeninteresse angeheizten oder geduldeten Krieges, der, von höchster Regierungsstelle gezielt befördert, Verwüstung von Infrastrukturen, zahllose Massaker und Gräueltaten, systematische Vergewaltigungen, Hundertausende ermordete Zivilisten und „800 000 Binnenvertriebene“ mit sich brachte. Einher geht dessen Schilderung mit der Erinnerung an historische Hintergründe und ausgiebigen Reflexionen über die Natur von Mensch und Krieg.
Ausgiebig reflektiert wird auch im sich anschließenden Kapitel „Gebet“ – mit Kermani befinden wir uns in Lalibela, „dem religiösen Zentrum der Provinz Amhara“, und in Aksum, „der heiligen Stadt Tigrays“ –, über Religion nämlich, in der „der Mensch einen Umgang mit dem“ finde, „was er nicht erklären kann.“ Im Kapitel „Jazz“ dann trifft Kermani den gerne als Vater des Ethiojazz weltweit gefeierten Mulatu Astatke. Im gemeinsamen Gespräch geht es vor allem um den „Respekt vor unserer eigenen Vergangenheit“, der den Afrikanern fehle, um internationale Austauschbeziehungen auf musikalischer Ebene – „Musikalisch betrachtet, ist die Welt eine einzige Schatzkammer.“ „Musiker führen keine Kriege“ – und um „Ethnizität“ und „Identität“.
„Identität“ ist auch der Titel und das Thema des 12. Kapitels, das auf beschwerlichen Wegen in die Nuba-Berge im Sudan führt. In Gesprächen mit Mujahid, dem Reisebegleiter und Sohn des Gründers der gegen den arabischen Kolonialismus gerichteten Rebellenmiliz „Sudan People’s Liberation Movenment-North“, und mit Mitgliedern dieser SPLM-N werden die blutgetränkte ältere und jüngere Geschichte des Landes rekapituliert, „unwahrscheinlichste[] Lebensläufe“ präsentiert und der Status quo in den Blick gerückt. Dies nicht nur in politischer, sondern auch in (alltags-)kultureller Hinsicht. Was die aus einer Vielzahl von Volksgruppen bestehenden Nuba zumal im Kampf gegen die sudanesische Armee und weitere Feinde eine, so ein zentraler Befund, sei „das Bewußtsein, daß sie keine Araber sind.“ Ein anderer lautet:
Der Khartum-Prozeß war die Blaupause für weitere Abkommen der Europäischen Union und auch Deutschlands, die Diktaturen Nordafrikas mit Geld auszustatten und deren Armeen aufzurüsten, damit sie Flüchtlinge auf der Durchreise nach Europa abwehren.
Im Übrigen wird es nicht verwundern, dass es in diesem Kapitel auch ausführlich um Leni Riefenstahl geht.
Fazit: Mit In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika hat Navid Kermani ein Buch vorgelegt, das sich in jenen Diskurs über Kolonialismus und Postkolonialismus einschreibt, für den in Deutschland in jüngerer Zeit beispielsweise Bartholomäus Grills Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte steht. Utopistisch wie es ist: Man würde sich wünschen, dass allabendlich in den Nachrichten – „85 Prozent der Weltbevölkerung“ machen „lediglich 11 Prozent der Berichterstattung in Deutschland“ aus – uns selbstverliebten, selbstgerechten Achtsamkeitsheiligen und Werteverteidigern auf 5 Minuten aus diesen beziehungsweise Büchern dieser Art vorgelesen würde.
![]() | ||
|
||
![]() |