Der Wald ist kein Märchen
Thomas Harlans wüster, verschlingender Mahlstrom von Wörtern
Von Mario Alexander Weber
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Folgerichtig lief auch von jetzt an die Zeit rückwärts ab." In einer von vielen eindrücklichen Textsequenzen aus "Rosa" sitzt der Ich-Erzähler auf dem Plumpsklo der verkommenen polnischen Kneipe "Unter dem Engel" und entleert seinen von Blumenkohlsuppe, falschem Hasen und Preiselbeeren geplagten Darm. Der Gestank der Fäkalien transformiert sich zum Geruch von Kölnisch Wasser in Josef Goebbels' Haupthaar. Was dann folgt (Schauplatz ist noch immer die Latrine), ist eine Rückblende zum Geburtstag des kleinen Tommy, der nachts um 03.00 Uhr vom Minister für Volksaufklärung selbst überraschend aus dem Schlaf gerissen wird, um dann mit seinem Erwecker in ein Berliner Kaufhaus aufzubrechen, wo sich das Geburtstagskind eine Märklin-Spielzeugeisenbahn aussuchen darf. Als der kleine Tommy am nächsten Morgen aus der Schule zurückkommt, findet er eine in Silber eingerahmte, für ihn signierte Photographie vor. Unterschrift: Dr. Goebbels.
"Noch in den braunen Gewässern des Scheißhauses hätte ich mit dem Steiß die Schriftzüge, von leichtem Plätschern begleitet, nachzeichnen, und jedem graphologischem Gutachten die Zunge rausstreckend, die Mobilmachung des warmen Kollektivs gesammelter Fäkalien am Eisenbahnknotenpunkt Kolo unterschreiben können und den ganzen Auswurf, mich eingeschlossen, zum Volkssturm einberufen..."
Wer hier so schreibt, ist Thomas Harlan, der 1929 geborene Sohn des Nazi-Filmers Veit Harlan (1899 - 1964), zu dessen Machwerken der wohl folgenreichste Propagandafilm des Dritten Reiches "Jud Süß" gehört, der Sohn auch der Schauspielerin Hilde Körber (1906 - 1969). Doch es gilt, drohenden Schlussfolgerungen vorzubeugen: "Rosa" ist kein Erinnerungsbuch, keine Lebensbeichte und auch keine Abrechnung mit dem Vater. "Erkenntnisse sind an Zuckermoleküle gebunden, nicht an Elternhäuser." "Rosa" ist, um es auf einen Nenner zu bringen, ein Text wider die deutsche Schlussstrichmentalität.
Im Todeslager Kulmhof/Chelmno wurden zwischen Dezember 1941 und April 1943 sowie zwischen April 1944 und Januar 1945 nach polnischen Schätzungen mehr als 300.000 Menschen mittels mobiler Kraftfahrzeug-Gaskammern umgebracht. Häftlinge mußten im nahegelegenen Wald Massengräber ausheben und die Toten begraben bzw. verbrennen.
Kulmhof und sein Wald sind das Zentrum des Textes. Auf einer Lichtung innerhalb dieses Waldes wohnen unter der Erde Rosa Peham, die Titelfigur, und Józef Najman, ihr neuer Liebhaber. Rosa hatte eine Affäre mit dem Zahlmeister des Vernichtungslagers, Franz Maderholz, doch dieser wurde 1943 nach Italien versetzt, die deutschstämmige Rosa bleibt in Sehnsucht zurück. Fünf Jahre später zieht sie mit Józef, Kriegsheld und Gattinnenmörder, in die Lichtung des Jagens 77 in eine Wohnung unter der Erde, über die der Ascheregen der verbrannten Toten fällt. Der Wald bei Kulmhof beginnt sich zu verändern. Graupapageien, Aras, südamerikanische Feldmäuse, westafrikanische Stechmücken, elfenbeinfarbene Schmetterlinge nisten sich im Jagen 77 ein.
Der Elsässer Richard F., Theologe und Doktor der Tiermedizin, stößt durch einen Zufall auf den Nachlaß der früh verstorbenen Helena M., auf "Helenas Blätter". Helena M. hatte sich im Auftrag eines polnischen Verlages Anfang der 50er Jahre über die Vorgänge in Kulmhof kundig gemacht und darüber Aufzeichnungen hinterlassen. Richard F.s "Leidensweg" nimmt seinen Lauf, eine manische Suche und Recherche rund um die Ereignisse in Kulmhof, in deren Zentrum für ihn die Dreiecksgeschichte Franz, Rosa & Józef steht, beginnt. Durch einen weiteren Zufall kommt Richard F. mit dem Erzähler der Geschichte zusammen, der einen Film mit dem Titel "Die Reise nach Kulmhof" plant. "Folgerichtig lief auch von jetzt an die Zeit rückwärts ab."
Harlan arbeitet mit Rückblenden, transkribierten Schallplattenaufzeichnungen, Gerichtsakten & Vernehmungsprotokollen, Reiserouten, Auszügen aus Briefen, Dokumenten, Notizen. Seine Sprache ist ein dunkler, wüster, verschlingender Mahlstrom, seitenlange Sätze sind keine Seltenheit. Nicht umsonst sind dem Buch zwei Lesezeichen mit der Chronologie der wichtigsten Geschehnisse beigelegt. Im Anhang findet sich eine fünfseitige, ausführliche Zeittafel, anhand derer sich der Leser orientieren kann. Doch innerhalb der Komplexität des Textes tauchen aus der Flut der Wörter immer wieder Bilder auf, sich wiederholend, aufgreifend, die sich im Kopf des Lesers festhaken. Geschwüre, Krebs wuchern aus dem Text heraus, Verwesung, unglaubliche Verkrüppelungen an Körpern, vor allem bei Rosa, die bei einem Streit mit ihrer Zwillingsschwester Malgorzata das linke Auge verloren hat, welches trotzdem weinen kann. Nur die Nazis, scheint es, bleiben gesund. So trifft Richard F. bei seinen Recherchen in der Lungenheilanstalt Sancellemoz/Savoyen inmitten der dahinsiechenden Kranken die mittlerweile hochbetagten Kulmhof-Nazis Huppenkothen und Höppner, die sich bester Gesundheit zu erfreuen scheinen. Von Franz Maderholz, dem Zahlmeister von Kulmhof, heißt es: "starb nie. Er wurde jünger." Die Altnazis betreiben ihre Dekubitusprophylaxe besser, halten sich und werden zumindest zeitlos: "Ewigkeit [...] ist ansteckend."
Konträr zu den Entstellungen steht die bereits erwähnte Verwandlung des Waldes um Kulmhof, über den Richard F. schreibt, er habe einen "seelischen Schock" erlitten und die Ereignisse in Kulmhof bis in seine "Wurzeln erfahren". Der Wald wird trotzdem/deshalb zur Herberge einer neuen, wundersamen Tier- und Pflanzenwelt.
Verglichen mit vielen (gut gemeinten) literarischen Büchern über das Dritte Reich wirkt "Rosa" wie ein schwarzer Monolith; herausragend. Der (fast) weiße Fleck Chelmno auf der Erinnerungs- und Historienlandkarte ist Gegensatz zu dem zum Schlagwort mutierten Auschwitz; politisch korrekt "betroffen" ("das ekelhafteste Wort aus deutschen Schuld- und Kanzlermäulern") zu sein, ist nicht die Angelegenheit Harlans. Die Vergangenheit (und Gegenwart) Deutschlands finden in dem Wortstrom und der Komplexität des Textes eine annähernd äquivalente Umsetzung; Harlan macht es sich nicht einfach. Verdrängtes wird immer und immer wieder aus dem Dunklen hervorgeholt, denn es "scheint daß Untaten nur deshalb begangen werden können, weil die ihnen vorangegangenen nicht ans Licht gekommen sind."
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