Seelenspaltung als Sozialgroteske
Natsuko Imamuras „Frau im lila Rock“ betreibt ein raffiniertes Verwirrspiel
Von Lisette Gebhardt
Warum die deutsche Verlagswelt bei den in letzter Zeit erfreulicherweise häufiger stattfindenden Debuts japanischer Autorinnen meist nur mit dem mantraartig wiederholten Satz „eine der aufregendsten jungen Autorinnen“ aufzuwarten weiß, obwohl die betreffende Schriftstellerin bereits eine reife Persönlichkeit ist, bleibt rätselhaft. Auch im Fall von Natsuko Imamura. Die 1980 in Hiroshima geborene Schriftstellerin betrat 2010 mit beachteten Kurzgeschichten die Literaturszene. Sechs Jahre später wurde sie mit einem anderen Werk für den Akutagawa-Preis nominiert – in Konkurrenz zu Sayaka Murata, die damals mit ihrer Convenient-Store-Angestellten und dem schrägen Mann in der Badewanne den Sieg davontrug. Für die Erzählung Murasaki no sukâto no onna (Die Frau im lila Rock) erhielt Imamura dann im Jahr 2019 die begehrte Trophäe.
Literarisches Labyrinth
Es gehört zu den eindeutigen Stärken gegenwärtiger japanischer Autorinnen, in wenigen Sätzen oft derart absonderliche Szenarien entstehen zu lassen, dass man sich sofort im Sog des Erzählten befindet. Natsuko Imamuras kompakter Text enttäuscht die Erwartungen nicht und zeigt sich als ebenso originell wie rätselhaft. Er handelt von einer alleinstehenden Frau, wohnhaft in einem „maroden Apartmenthaus“. Die Freizeit verbringt sie häufig im nahen Park auf der Bank. Dort kennen sie die Kinder als die Frau im lila Rock. Sie fällt nicht nur den Jugendlichen auf, sondern befindet sich offensichtlich auch im Fokus einer anderen Frau, nämlich der mit der gelben Jacke. Warum hat die Gelbjacke ein so großes Interesse an der zierlichen Gestalt? Die Beobachterin kennt ihre Vorliebe für Vanillecremebrötchen und weiß um die wechselnden Arbeitsstellen der Bewohnerin von Apartment 201, führt in ihren „Notizen“ penibel Protokoll über deren Tun:
Letztes Jahr im September hat sie gearbeitet. Im Oktober hat sie nicht gearbeitet. Im November hat sie nur die erste Hälfte gearbeitet. Im Dezember hat sie auch nur die erste Hälfte gearbeitet. Im neuen Jahr hat sie am 10. Januar angefangen zu arbeiten. Im Februar hat sie gearbeitet. Im März hat sie gearbeitet. Im April hat sie nicht gearbeitet. Im Mai hat sie außer der Golden Week gearbeitet. Im Juni hat sie gearbeitet. Im Juli hat sie auch gearbeitet. Im August hat sie nur die zweite Hälfte gearbeitet. Im September hat sie nicht gearbeitet. Im Oktober hat sie mal gearbeitet, mal nicht. Und jetzt, im November, arbeitet sie vermutlich nicht.
Je genauer die Aufzeichnungen Auskunft zu geben scheinen, desto weniger stichhaltige Informationen erfährt der Leser in Bezug auf die Hauptakteurin. Schon im Anfang signalisiert der Text in der sehr gelungenen Übersetzung, dass sich sein Anliegen über die Erzählstruktur und den Sprachstil vermittelt. Beide stiften sowohl Verwirrung als auch einen Hintersinn, der stellenweise leises Lachen provoziert.
Äpfel, Orangen und Bananen
Die Protagonistin, ihr Name lautet wohl Mayuko Hino, versucht nach zahlreichen früheren Jobs in Fabriken für Schrauben, Zahnbürsten, Augentropfenfläschchen oder Fleischklöße gerade als Zimmermädchen in einem großen Hotel Fuß zu fassen. Ausnahmsweise hat sie zum Vorstellungsgespräch und dem ersten Tag Körperpflege betrieben, sieht sogar „adrett“ aus. Mayuko zeigt sich bei der Einführung in die Tätigkeitsbereiche gelehrig, unterwirft sich einem Stimmtraining, durchgeführt vom dicklichen, durchsetzungsschwachen Facility-Manager an der Müllsammelstelle des Hotels, und bemüht sich, den zahlreichen Vorschriften sowie den sozialen Gepflogenheiten vor Ort zu entsprechen.
Süffisant beschreibt Imamura die Regelungswut, die japanische Arbeitsbedingungen charakterisiert. Die Hotelpassagen widmen sich dem Thema der Zurichtung von Humankapital in der landeseigenen Billigarbeiterkultur, um insgesamt Licht auf die wenig erbaulichen Sozialstrukturen im Bereich prekär Beschäftigter zu werfen. Im hierarchischen System von Dienstälteren und sogenannten „Chiefs“ werden Neue schnell ausgeschlossen, wenn sie sich nicht als „gewissenhaft“ und „anständig“ erweisen, Gerüchte verbreiten sich schnell, nur um im nächsten Moment durch zusätzliche Latrinenparolen abgelöst zu werden. Erstaunlich, dass Chief Tsukada Mayuko am Ende des Tages einen „großen roten Apfel“ zusteckt. Chief Tsukada, Chief Hamamoto und Chief Tachibana, die aus sämtlichen Öffnungen ihrer Bekleidung Obst hervorholen, räumen bei dieser Gelegenheit freimütig ein, sich Äpfel, Bananen und Orangen einzustecken, die man in den Zimmern für Gäste vorhält. Ihre Absicht sei es, die Lebensmittel vor dem Wegwerfen zu bewahren. Nur Chief Gondo mag kein Obst. Schon hat die Außenseiterin als „Mitverschwörerin“ in den inneren Kreis gefunden. Mayuko nistet sich nun förmlich in ihrem Habitat ein, bedient sich an den Ressourcen und kann auf diese Weise auch ihrem abgezehrten Körper wieder die nötigen Nährstoffe zuführen:
Sie trinkt den Kaffee vom Willkommenstablett, stibitzt sich den Nuss-Mix beziehungsweise die Schokolade aus der Minibar oder verputzt die Reste von den Sandwiches, die sich die Gäste aufs Zimmer bringen lassen haben. Dann fläzt sie sich auf das Bett und sieht fern, hält im Anschluss ein kleines Nickerchen oder nimmt in der Wanne ein schönes heißes Fußbad.
Realitätsverschiebungen
Doch freilich währt die Harmonie nicht lange. Gravierender als die stetig wachsende Verstimmung unter den Mitarbeiterinnen gegenüber der Neuen, die zusehends an Attraktivität gewinnt und der sich wohl der Facility-Manager (Tomohiro, Kosename Tomo) zugewandt hat, nimmt sich die fortschreitende psychische Zerrüttung Mayukos aus. Als immer mehr Verluste an Hotelausstattung („[z]ehn Badetücher, zehn Handtücher, fünf Badematten, zehn Tassen nebst Untertassen, fünf Weingläser, fünf Champagnerflöten […]“) zu beklagen sind, wird es Zeit, der Gesamtsituation zu entfliehen. Das Zimmermädchen vollführt, wie man denken kann, eine Selbstvaporisierung: Das in Japan jȏhatsu genannte Sich-in-Luft-Auflösen, wortwörtlich verdampfen, ist eine verbreitete Sozialtechnik und meint das absichtliche spurlose Verschwinden einer Person, die sich in Schwierigkeiten gebracht hat. Im Zuge der allem Anschein nach bereits von der Frau in Gelb getätigten Fluchtvorbereitungen bemerkt man, dass etwas mit der Abfolge der Ereignisse und der gesamten Perspektive des Berichteten irgendwie nicht ganz stimmig ist: Wer hat die Gegenstände aus dem Hotel entwendet? In welchem Verhältnis stehen die Frau im lila Rock und die Frau in Gelb, die im Übrigen als Erzählerin fungiert? Woher weiß sie über die Dinge so gut Bescheid, obwohl sie sich nicht immer in der Nähe der Lila-Rock-Frau aufhält? Und welche Rolle spielt der Facility-Manager Tomohiro?
Lesarten des Disparaten
Imamura schildert die harten Umstände von Jobberinnen im Hotelbetrieb, d.h. die Höllen Unterprivilegierter an geisttötenden Arbeitsplätzen. Die Umstände – lange Schichten, Überstunden, schlechte Bezahlung, mangelnde Entfaltungsmöglichkeiten, Gruppenzwang, Machtmissbrauch (power harassment) und generell eine unangenehme Atmosphäre – sind spätestens seit 2017 in die Kritik geraten, so dass man sukzessive staatliche Gegenmaßnahmen trifft. Während der Text in die Nähe der Prekariatsliteratur (akute Geldnot, Thema Mietschulden, Leben im Manga-Café) rückt, zeigt er sich zum einen als satirische Anleitung zur Sabotage toxischer Arbeitsstrukturen, zum anderen als literarische Repräsentation diverser Problematiken in zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie für das Japan der Gegenwart typisch sind – nicht zuletzt der Anonymität und Verletzlichkeit alleinstehender Frauen. Schwierige Situationen, denen eine gewisse Bedrohlichkeit anhaftet, werden meist ins Komische entkräftet oder am Ende positiv bewertet, dennoch bleibt das Gefühl latenter Gefahr: Den Drill unter der Devise der Chiefs „kontrolliert, drangsaliert, tyrannisiert“ darf man zum Beispiel als Weg zur „Freiheit“ verstehen. Die Existenz als Lohnsklave oder, um es mit einem japanischen Ausdruck zu sagen, Firmenvieh (shachiku), erscheint als Normalität und bietet temporär eine trügerische Befriedigung in dem Gefühl eingegliedert zu sein.
Eine weiterreichende Auslegung wäre, dass Gelbjacke alias Chief Gondo eine Stalkerin darstellt, die die Frau im lila Rock um ihre vermeintliche Popularität bei den Kindern im Park, um ihre wachsende Attraktivität und um ihren Erfolg als Geliebte des Managers beneidet. Ihre obsessiven Wahrnehmungen in Hinblick auf die von ihr Beobachtete entsprechen vermutlich nicht der Realität und basieren auf den eigenen Minderwertigkeitskomplexen sowie auf ihrer Unfähigkeit, adäquate soziale Bande zu knüpfen.
Lesarten als Prekariatsliteratur mit Bezug zur Hotelbranche (eine Selbstreferenz Imamuras bzw. ein autobiographisches Element), als Stalkerroman, als Drama weiblicher Eifersucht und als Erzählung über urbane Einsamkeit liegen nahe. Ein besonderes Kunststück ist der gleitende Wechsel der Szenen vom Realen zum Hyperrealen. Die faszinierende Fragmentierung des Texts, der kafkaeske Elemente beinhaltet, sich einer schnellen Zuordnung entzieht und in japanischen Rezensionen als shinri fikushon (Psycho-Fiktion) bewertet wird, ließe durchaus Spekulationen dahingehend zu, dass die Autorin eine psychopathologische Interpretationsebene einbaut. Leidet die Frau im lila Rock an einer dissoziativen Identitätsstruktur? Dann wäre die gelb Gewandete bezeichnenderweise (gelb-lila-Farbpendant) ihr komplementäres Ich, das als seelischer Schutzmechanismus abgespalten wurde. Eine solche Störung hat, wie die Psychiatrie weiß, ihre Ursachen häufig in der Kindheit der Betroffenen: Die gelbe und die lila Frau ergänzten sich demnach in ihrem Bestreben, die psychische Stabilität der Mayuko Hino zu verteidigen. Der häufige Rückbezug auf die spielenden Kinder mag zusätzlich in diese Richtung deuten. Unschlagbar bleibt jedenfalls die subversive Sprechweise des Romans, die maliziöse Aufforderung eben zur Sabotage eines ungesunden Systems.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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