Willkommen im Spiegelkabinett zweier Leben
In Wolf Haas‘ Roman „Wackelkontakt“ verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion
Von Dietmar Jacobsen
Franz Escher ist der Name eines der beiden Helden in Wackelkontakt von Wolf Haas. Und dahinter verbirgt sich schon ein wichtiger Hinweis. Denn der Nachname des sich mit Reden auf Begräbnisfeiern sein Auskommen sichernden Helden stellt eine Verbindung zwischen ihm und dem holländischen Künstler und Grafiker Maurits Cornelis (M. C.) Escher (1898–1972) her. Der hat es mit seinen raffinierten Darstellungen unmöglicher Figuren zu internationalem Ruhm gebracht. Und für „unmöglich“ hält man es zunächst auch, wie Haas, Erfinder des Privatdetektivs Simon Brenner, die Wand zwischen Realität und Fiktion in seinem Buch von Anfang an transparent werden lässt.
Denn Franz Escher, dem die Werke seines Namensvetters vertraut sind, seitdem ihm an seinem 19. Geburtstag ein Puzzle überreicht wurde, bei dem sich aus tausend richtig platzierten Teilen zuletzt jene berühmte Escher-Lithographie zweier sich gegenseitig zeichnender Hände ergab, taucht in Haas‘ Roman nicht nur als Mensch in Fleisch und Blut auf. Als solchen erlebt man ihn, auf den bestellten Elektriker wartend, in seiner Küche. Was mit ihm und dem Handwerker, der einen lange schon störenden Wackelkontakt in einer Steckdose beseitigen soll, aber des Weiteren geschieht, steht in einem Buch, das einem italienischen Ex-Mafioso in die Hände gefallen ist.
Klingt kompliziert? Wäre es vermutlich auch, wenn der Erfinder des Ganzen nicht Wolf Haas hieße. Der hat – neben den eingangs erwähnten Simon-Brenner-Romanen, neun sind es bis dato – schon mit Büchern wie Das Wetter vor 15 Jahren (2006) und Verteidigung der Missionarsstellung (2012) bewiesen, wie sehr ihn erzählerische Herausforderungen reizen. Nun, mit Wackelkontakt, ist ihm ein Roman gelungen, der nicht nur ausgesprochen witzig und unterhaltsam ist – das war von dem 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geborenen und aktuell in Wien lebenden Autor sowieso zu erwarten –, sondern auch so souverän wie verblüffend mit einer Erzählstruktur spielt, die in den Bereich der Literatur überträgt, was man in der Bildenden Kunst bisher vor allem mit dem Namen M. C. Escher in Zusammenhang brachte.
Aber zurück zu dem Mafioso, der sich in das Leben des Namensvetters des niederländischen Grafikers hineinliest. Elio Russo heißt der. Und außer dass sich der Bursche von frühester Jugend an als Genie erwiesen hat, wenn es darum ging, komplizierteste technische Probleme zu lösen, handelt es sich bei ihm eher um einen „Nachwuchskriminellen“. Einen kleinen Mitläufer der Ehrenwerten Gesellschaft, der sich noch dazu in höchster Not befindet. Denn er ist des Mitlaufens irgendwann müde geworden und hat 27 Bosse mit seinen Aussagen hinter Gitter gebracht. Nur den Mann ganz an der Spitze nicht. Der verdankt ihm sogar sein komfortables Überleben, wie sich später herausstellt.
Nun wurde Elio also in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen und demnächst soll sein zweites Leben unter dem Namen Marko Steiner jenseits der Alpen, in Deutschland, beginnen. Damit ihm die Zeit auf der Reise dorthin nicht zu lang wird und er sich schon einmal an die neue Sprache gewöhnen kann, hat ihm ein deutscher Zellengenosse ein Buch geschenkt – und zwar jenes, in dem die Hauptfigur namens Franz Escher zu Beginn in seiner Küche sitzt und auf einen Elektriker wartet, der ihm den lästigen Wackelkontakt in einer Steckdose beseitigen soll.
Verrückt, oder? Aber es geht noch verrückter. Denn eines der Hobbys von Franz Escher – als großen Puzzle-Fan hat man ihn ja schon kennengelernt, seine Wohnung ist voll mit den Kartons, in denen tausend kleine Teile mit unregelmäßig geformten Kanten darauf warten, zusammengesetzt zu werden, um dem emsigen Puzzler oder der emsigen Puzzlerin am Ende das Vergnügen des Blicks auf ein Meisterwerk der Weltkunst zu bereiten – ist auch das Lesen. Und weil er gerade zum wiederholten Male eines seiner Lieblingspuzzles, Die große Welle vor Kanagawa des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai, fertig zusammengesetzt hat und der Elektriker immer noch auf sich warten lässt, greift Escher zu dem Buch, das er am Abend zuvor begonnen hat.
Es gehört in die Kategorie jener Werke, die er seit Langem „mit einer Leidenschaft, die fast mit seiner Puzzlesucht mithalten konnte“, allein noch des Lesens für wert befand: „Bücher über die Mafia. ‘Ndrangheta, Cosa Nostra, Camorra, er fraß die Bücher regelrecht.“ Und natürlich heißt der Held des Romans, der ihm die Zeit beim Warten auf den Elektriker verkürzen soll, Elio Russo, sitzt in einer Hochsicherheitszelle im italienischen Süden und soll binnen vier Tagen in sein neues Leben, für das in Deutschland schon alles vorbereitet ist, entlassen werden.
Ein deutscher Trauerredner, der ein Buch über einen italienischen Mafioso liest, der innerhalb eines Zeugenschutzprogramms ein neues Leben in Deutschland beginnt. Und ein italienischer Ex-Mafioso, dem im Gefängnis ein Buch in die Hände gefallen ist, in dem ein deutscher Trauerredner, nachdem der Elektriker, auf den er so lange gewartet hat, endlich doch noch erschienen ist, in eine ziemliche Bredouille gerät, weil er, für einen kleinen Moment unaufmerksam, eine aus Gründen der Sicherheit ausgeschaltete Sicherung wieder eingeschaltet hat. Und beide lesen sich, immer wieder abwechselnd – gelegentlich wird die Lektüre beider Bücher auch durch zufällig anwesende Dritte weitergeführt –, durch das Leben des jeweils anderen.
Wer als Leser oder Leserin in dieses Spiegelkabinett von einem Roman hineingerät, ahnt schnell, dass er aus dieser literarischen Falle erst dann wieder entkommen wird, wenn sich die beiden Leben – das des Trauerredners und das des Ex-Mafiosos – schlussendlich treffen. Was er freilich nicht ahnt: Sie haben sich schon getroffen, aber das steht auf einem anderen Blatt und soll hier nicht verraten werden. Und außerdem beherrscht Wolf Haas die hohe Kunst, auch dann keine Zweifel an der logischen Verfasstheit seiner literarischen Konstruktion aufkommen zu lassen, wenn kluge Leute mit dem Einwand daherkommen sollten, dass die Erzählzeiten der beiden Leben zwar in ungefähr gleich lang sind, die erzählten Zeiten sich aber umso deutlicher voneinander unterscheiden.
Denn was rund um den Trauerredner Franz Escher geschieht, dürfte längstens ein paar Wochen füllen. Wochen, die allerdings voller Überraschungen stecken. Hingegen begleitet man als Leserin oder Leser Elio Russo fast durch sein gesamtes neues Leben. Der junge Mann nutzt die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die er aus seinem ersten Leben mitbringt, nämlich schnell, um in Deutschland eine ganz neue Karriere zu starten. Er repariert und verkauft Fahrräder, gelegentlich auch Vespas, findet eine Frau, die zu ihm passt, heiratet und bekommt schließlich sogar eine Tochter, Ala. Die ist gegen Ende des Romans fast erwachsen und hat so lange nichts von der Vergangenheit des Vaters geahnt, bis die sie einholt und ausgerechnet den ihr unbekannten Franz Escher dazu zwingt, sich auf eine abenteuerliche Befreiungsmission zu begeben.
Bei all den wilden Kapriolen, in die Wolf Haas seine beiden Hauptfiguren stürzt, bleibt ihm dennoch Zeit genug übrig für etliche Spielereien mit Dialekten und Fremdsprachen sowie die eine oder andere kleine Sprachkritik, wie man sie in seinen Romanen häufig findet. Etwa was die Angewohnheit betrifft, dass jeder heutzutage nur noch „O mein Gott!“ sagt statt, wie es richtiger wäre, wenn man sich von falschen Netflix-Synchronisierungen aus dem Englischen nicht den Sprachsinn verwirrren ließe, „O Gott!“ (wenn etwas Angst Machendes vorgeht) oder „Mein Gott!“ (wenn jemand genervt ist). Und auch an dem inflationär gebrauchten Wort „Empathie“ lässt der sich als Trauerredner mit Sprache auskennende Escher – er hat sogar einmal einen kleinen Roman über die Gepflogenheiten in seinem Milieu geschrieben, der sogar einen Vorschuss des publizierenden Verlags brachte, dann aber nicht zum Verkaufshit wurde – kein gutes Haar und äußert die Vermutung, dass es „ausgerechnet von jenen Menschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit im Mund geführt wurde, die über das Mindeste nicht verfügten, nämlich über ein normales menschliches Mitgefühl“.
Dass am Ende sogar noch Caravaggios im Oktober 1969 aus dem Oratorio di San Lorenzo in Palermo vermutlich von der Mafia gestohlenes Altarbild Christi Geburt mit den Heiligen Laurentius und Franziskus, zerlegt in 8.190 quadratische Puzzlesteine, wieder auftaucht und für Franz Escher zur größten Herausforderung seines Lebens wird, ist nur eine weitere jener Volten, von denen Wackelkontakt voll ist. Volten, die man manchmal gar nicht so genau erklären kann. Doch wenn das so ist, dann tritt etwas in Kraft, dass Elio Russos Tochter Ala von ihrem Vater gelernt hat und das „Trick 17“ heißt. Dass auch der Erfinder der beiden, Wolf Haas, diesen Trick in vollendeter Form beherrscht, beweist er in seinem neuen, raffiniert choreographierten Roman an zahlreichen Stellen, vor allem aber am Schluss, wenn dessen beiden Erzählstränge ineinanderfallen und plötzlich alles wieder gut ist.
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