Die Schuldigen und die Mündigen
Bernd Ulrich und Hedwig Richter setzen sich in „Demokratie und Revolution“ mit den Reibungspunkten zwischen Demokratie und Ökologie auseinander
Von Anne Stollenwerk
Wir befinden uns in einer ökologischen Unmündigkeit und wir haben diese selbst verschuldet. Der Untertitel des Buches Demokratie und Revolution. Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit, das die Historikerin und Universitätsprofessorin Hedwig Richter und der Zeit-Journalist Bernd Ulrich 2024 gemeinsam veröffentlicht haben, hat es in sich, er schockt und geht nah. Wer wird schon gerne als unmündig bezeichnet? Und dann soll man auch noch selbst daran Schuld haben.
Richter und Ulrich vertreten die Ansicht, dass – erstens – das 21. Jahrhundert von einem gestörten Mensch-Natur-Verhältnis, auch Klimakrise genannt, mit enormem zerstörerischen Potenzial geprägt ist. Dessen Folgen einzudämmen, muss daher auf der politischen wie gesellschaftlichen Agenda der erste Punkt sein. Zweitens sind sie der Überzeugung, dass die Demokratie „grundsätzlich in der Lage ist, ökologisch zu werden“ und dass ihr diese Möglichkeit auch bewusst ist, aber derzeit verdrängt wird. Dafür – drittens – reiche es allerdings nicht aus, auf die Fehler des kapitalistischen Systems, fehlende Technik oder anderes zu verweisen. Nein, bei der Bekämpfung der ökologischen Krise müsse auch das Individuum ran an den (eigenen) Speck: „Wir halten es jedenfalls für naiv, ausgerechnet bei der Ökologie an die fast völlige Ohnmacht und Gleichgültigkeit des Menschen zu glauben.“ Würden die Einzelnen der Gesellschaft Verantwortung übernehmen und die Politik sich ein bisschen mehr Zumutungen zutrauen, so der Gedanke, würden wir also mit weniger Trotz das Schnitzel umklammern und mehr der Forschung vertrauen. Das könne – viertens – eine konservativ-revolutionäre Öko-Wende zur Folge haben:
Die Befreiung aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit erwies sich für uns dann als noch revolutionärer und zugleich konservativer als vorher gedacht. Revolutionärer, weil es letztlich nicht nur um eine politische Wende geht, sondern auch um eine des Menschen- und Naturbildes, also um eine intellektuelle und spirituelle, wenn man so will. Konservativer, weil die revolutionären Wege, die wir sehen, nicht zerstören, nicht barrikadenherrlich die Welt in Brand setzen, sondern weil sie die Welt, die Natur und die Demokratie in ihrer Schönheit und Fragilität erhalten sollen.
Gemäß diesen vier Punkten gliedert sich auch das – übrigens wissenschaftlich sehr gut belegte und mit einem intensiven Appendix an Fußnoten und Literaturverzeichnis ausgestattete – Buch insgesamt. Es ist aufgeteilt in drei große und ein kleines Kapitel. Das erste, „Vergangenheit“, behandelt die Geschichte der Demokratie, parallel mit der Geschichte der Klimakrise, von den Anfängen der industriellen Revolution mit der Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert bis zum „erste[n] und letzte[n] gute[n] Jahr der Klimapolitik“, 2021. Das zweite Kapitel „Gegenwart“, befasst sich mit dem gegenwärtigen Zustand der Verdrängung und analysiert verschiedene Gründe. Zum Beispiel „[d]ie Agenda der Normalitätssimulation“, beziehungsweise der „Normalitäts-Bias“ des Journalismus. Damit ist gemeint, dass „vor der Herrschaft des Prinzips‚ verschieben ist verschärfen‘“ es genügt habe, der Politik zu folgen. „Heute bedeutet, keine Agenda zu haben, einer zu unterliegen, nämlich der Agenda des Weiter-So“. Solange die gesellschaftliche Mitte nicht gewisse Lebensstandards zugunsten von Nachhaltigkeit zu verändern bereit ist, sind ihre Normen eben alles andere als klimafreundlich oder überhaupt klimaorientiert. Die so vermittelte „Metabotschaft“ verschiebe die Zuständigkeit und Verantwortung weg von dem:der Otto-Normal-Verbraucher:in hin zu Einzelnen oder Gruppierungen:
Von den Spezialistinnen erwartet man Vorschläge, von ihnen möchte man Lösungen präsentiert bekommen, idealerweise nicht zu ausführlich. Ihnen macht man Vorwürfe, wenn die vegane Wurst doch nicht so gut schmeckt wie die gewohnte Salami, ihnen hat man aber immerhin den Gefallen getan, es mal zu probieren.
[…]
Das Praktische an dieser Klima-Spezialisten-Klasse für die Bevölkerung besteht darin, dass man sie für die ganzen Probleme rund um die Naturzerstörung verantwortlich machen kann.
Eine solche Denkordnung sorge unter anderem dafür, dass ein Moralisieren von bekannt als klimaschädlich geltenden Handlungen des Einzelnen „als Vorstufe des Ideologisierens und damit des Totalitären“ gedeutet werde. Der Veganismus der Person A kann so von der omnivoren Person B als direkter Angriff (miss)verstanden werden – gerade weil es für Person B (und deren Umwelt) sehr anstrengend ist, das Bewusstsein um die eigene Verantwortung(slosigkeit) und das damit einhergehende schlechte Gewissen zu normalisieren und zu unterdrücken.
Im Allgemeinen ist dieser Teil des Buches deutlich zugänglicher als das dann doch von teils recht komplizierten historischen Zusammenhängen strotzende erste Drittel und liest sich wesentlich schneller. Aber: spätestens jetzt wird das Lesen auch anstrengend. Denn immer wieder wird einem die eigene Verantwortung vor Augen geführt. In den beiden letzten Kapiteln „Neues aus der Demokratiegeschichte“ und „Zukunft“ wird schließlich zwar ein Weg in Richtung ökologische Mündigkeit präsentiert, aber: es bleibt unangenehm.
Der Konsum zum Beispiel habe sich von einem demokratiestärkenden emanzipatorischen Akt „zu einer Bedrohung für unsere Demokratie“ gewandelt. Mehr Verantwortungsbewusstsein auf Seiten des:r Einzelnen sei nötig, den Mündigen Deutschlands solle auch von politischer Seite mehr zugemutet werden dürfen. Doch so überzeugend Richter und Ulrich auch für die Macht und damit einhergehende Verantwortung des mündigen Individuums in Form seines Konsumverhaltens argumentieren, so irritierend ist, dass sie dabei die Macht und Verantwortung der großen produzierenden Gewerbe und der Industrie zwar mehrmals anteasern, aber eindeutig zu wenig in den Vordergrund rücken.
So wird zum Beispiel angesprochen, dass manche „westliche Unternehmen […] auf skandalöse Weise dafür gekämpft [haben], dass die ökologische Wende nicht stattfindet“ (der US-amerikanische Mineralölkonzern ExxonMobil beispielsweise habe bewusst „die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen in Kauf genommen“). Aber dass der berühmte individuelle ökologische Fußabdruck ursprünglich im Jahr 2004 mit genau dem Zweck von dem britischen Mineralölunternehmens BP vorgestellt wurde, die Aufmerksamkeit und Verantwortung von sich selbst auf die einzelnen Konsumenten zu lenken, wird nicht erwähnt. BPs PR-Move hat sich anscheinend gelohnt; auch Richter und Ulrich benutzen den Begriff. Das ist auch in Ordnung, denn die beiden argumentieren ja gerade, dass der Fokus der Verantwortung wieder mehr in Richtung Einzelne:r gerückt werden sollte. Und tatsächlich ist das durch den Terminus provozierte Bewusstsein über die Eigenverantwortung und Mündigkeit in Sachen Klima erst mal etwas Positives. Doch indem die Autoren diesen wichtigen Hintergrund aussparen, anstatt ihn zumindest transparent zu machen, machen sich die beiden angreifbar – und es sich zu einfach. Außerdem ergab eine Studie des MIT schon im Jahr 2008, dass allein schon der indirekte und deshalb nicht individuell beeinflussbare ökologische Fußabdruck eine:r US-Amerikaner:in damals eine signifikante Höhe von 8,5 Tonnen betrug. Selbst wenn jemand also Richter und Ulrichs Aufforderung nachkommt und diszipliniert den eigenen ökologischen Fußabdruck möglichst klein hält, müssen unweigerlich auch Konzerne in großem Stil umdenken und Verantwortung übernehmen.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch diese Formulierung:
„Zwar sind nicht alle gleich schuld an der fatalen Entwicklung, aber unterm Strich muss man sagen: Der Weg in die Menschheitskatastrophe führt über lauter lässliche Sünden. Es ist ein großes Verbrechen, zumindest an den Zukünftigen, ohne große Verbrecher.“
Wie kann man ernsthaft behaupten, dass es keine großen Verbrecher gäbe? Die Argumentation des Buches geht natürlich dahin, dass die Konsument:innen die Verantwortung (mit)tragen. Aber das Narrativ, es gäbe in Sachen Klimakrise keine großen Verbrecher, entlässt Großkonzerne aus der Verantwortung. Der Guardian titelte am 05. März 2025 beispielsweise, dass insgesamt 36 „fossil fuel firms“ für die Häfte der weltweit ausgestoßenen CO2-Emissionen verantwortlich sind. Es gibt also vielleicht nicht den einen großen Verbrecher – aber die Größenunterschiede sind doch gewaltig. Das Zitat bagatellisiert.
Das in Demokratie und Revolution präsentierte Narrativ der Verantwortung des Einzelnen ist natürlich nicht grundlegend falsch. Selbstverständlich kann ein ethisches oder eben eingeschränktes Konsumverhalten Gutes mit Blick auf unsere Umwelt bewirken. Aber die Verantwortung, die solch große Firmen haben, kommt im Buch schlicht deutlich zu kurz. Das ist schade, vor allem, weil Richter und Ulrich sich eigentlich nicht vor Schuldzuweisungen scheuen.
Es wäre außerdem im Sinne eines hoffnungsvollen Ausblicks und auch der didaktischen Vermittlung gen Ende des Buches motivierend gewesen, konkrete Zahlen zu erhalten: Was wäre denn, wenn Richters und Ulrichs Argumentation wirkte, die Politik sich und der Bevölkerung mehr Zumutungen zutraute und die mündigen und erwachsenen Bürgerinnen und Bürger Deutschlands sich tatsächlich einmal selbst in die Verantwortung nähmen? Wie groß genau wäre der gemeinsame Erfolg, wenn der Veggie-Wochentag eingeführt, CO2 (und Reiche) stärker besteuert und der private PkW mehr und mehr dem ÖPNV weicht?
Nach der Lektüre ist klar: Ein kultureller Wandel dieses Ausmaßes ist nicht einfach und muss sich, damit er funktioniert, auf die Schultern (und in den Bauch und die Hände) vieler Einzelner verteilen. Die Chance zum Wandel hin zu einer tatsächlich für alle besseren Welt kann jederzeit ergriffen werden. Aber während Markus Söder in sein heißgeliebtes Würstchen beißt, Arbeit weiter stärker besteuert wird als Vermögen, Großkonzerne buchstäblich Menschen die Grundnahrungsmittel klauen, die Grünen ihr ursprüngliches Parteiprogramm verraten und trotzdem noch von Medien und der CDU dämonisiert werden, fühlt sich der eigene Vegetarismus ein bisschen nutzlos an. Mit etwas weniger Schuldzuweisung aus der oberen Öko-Mittelschicht und einem stärkeren Fokus auf ein Gemeinschaftsgefühl – kurz: mit ein wenig mehr revolutionärer Aufbruchsstimmung – wäre Demokratie und Revolution wahrscheinlich ein Buch, das sein Anliegen wesentlich besser vermitteln könnte.
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