Thüringen ist mehr als Thüringen

Reinhard Hahn fasst „Die mittelalterliche Literatur Thüringens“ lexikalisch zusammen

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lexika sind ein eigenartiges Phänomen, mit dem nicht erst in jüngerer Zeit das Attribut des Muffigen, Verstaubten und vor allen Dingen gnadenlos Veralteten verbunden wird. Vorbei die Zeiten, als die im Regal präsentierte Mehrbändigkeit eines solchen Nachschlagewerkes Eindruck erwecken sollte (und oft genug auch erweckte). Kaum vorstellbar, dass, wie Jack London in seinem Seewolf beschreibt, der Titelheld, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Wolf Larsen, sein Weltwissen durch die Lektüre zufälliger digitaler Angebote erwirbt – mit dem Aufkommen von Wikipedia & Co. scheinen die klassischen Lexika perdu zu sein. Vermutlich wird das für die Giganten der lexikalischen Welt wie im deutschsprachigen Raum vor allem Brockhaus auch fürderhin so sein. Es wird wohl kaum noch jemanden geben, die oder der beträchtliches Geld für ein Gesamtwerk zu investieren bereit ist, dessen erster Band beim Erscheinen des letzten bereits in vielen Bereichen hoffnungslos veraltet ist.

Und doch sind Lexika nicht vollkommen ausgestorben. Gerade im Hinblick auf ‚Randgebiete‘, wie immer diese auch definiert sein mögen, gab es, gibt es und wird es wohl zumindest auch noch zukünftig Nachschlagewerke geben, die im weitesten Sinne gemäß eines Handbuches Basisinformationen geben und damit zur weiteren Orientierung in den meisten Fällen definitiv besser geeignet sind als die Ergebnisse der Konsultation einer beliebigen digitalen Suchplattform.

In diese Kategorie grundsätzlicher, übersichtlicher und nicht zuletzt praktischer Orientierungshilfen gehört auch der vorliegende Band Die mittelalterliche Literatur Thüringens, die Reinhard Hahn fundiert vorstellt. Dafür setzt er den Zeitraum vom 10. bis zum 15. Jahrhundert an, was unter Zugrundelegung der in der Literaturwissenschaft tradierten Epochenaufteilung stimmig ist. Bereits im Vorwort macht der Verfasser auf das Desiderat aufmerksam, dass die Bedeutung des Thüringer Raumes für die deutsche Literaturgeschichte zwar nicht vollkommen außerhalb eines breiteren Fokus stehe, das heißt durchaus wahrgenommen werde, das entsprechende Zeitfenster jedoch ein äußerst eingeschränktes sei.

Wo die Weimarer Klassik mit ihrem prominentesten Protagonisten Johann Wolfgang von Goethe einen deutlichen Bezug zu Thüringen aufweist (zumindest dann, wenn geografische Grundkenntnisse gegeben sind), so Hahn, sei allenfalls noch eine Verbindung der Barockliteratur und hier an erster Stelle der ebenfalls mit Weimar assoziierten Fruchtbringenden Gesellschaft mit der Landschaft respektive dem heutigem Bundesland geläufig. Mittelalterliche Literatur hingegen werde kaum damit verbunden. Vermutlich ist es allerdings sogar so, dass im Allgemeinen lediglich der Blick auf die Klassik gerichtet bleibt – es scheint schwer vorstellbar, dass über den Kreis intensiv an Literaturgeschichte Interessierter hinaus die Fruchtbringende Gesellschaft bekannt ist, und für die mittelalterliche Literatur wird sicherlich Gleiches gelten.

Der Autor betreibt hier jedoch keine Begründungssuche, wenngleich nicht ausgeschlossen werden kann, dass die deutsche Teilung, zumindest was die Wahrnehmung im Westen der Republik betrifft, bei diesen blinden Flecken eine Rolle gespielt haben dürfte. Und so ist ein auf die kulturelle Leistung und Geschichte im westmitteldeutschen Raum gelenkter Fokus auch grundsätzlich keinesfalls von Übel. Wie in der Einleitung ausgeführt, werden wesentliche Aspekte einer Kulturlandschaft angesprochen, die sich bis in die Gegenwart durch eine hohe Bibliotheksdichte auszeichnet, in der eben explizit auch mittelalterliche Texte umfangreich erhalten sind.

Die mittelalterliche Literatur Thüringens wird stringent untergliedert. Dem bereits erwähnten Vorwort, das eine klare Wegweisung darstellt, folgt eine knappe, aber dichte und zielführende Einleitung, in der zum einen wesentliche Informationen zum Vorgehen geliefert, darüber hinaus aber auch allgemeinere Fragen diskutiert werden. So werden hier zunächst „Paradigmen der Literaturgeschichtsschreibung“ vorgestellt, die ebenfalls einen knappen Blick auf forschungs- und editionsgeschichtliche Aspekte erlauben. Im Rahmen einer „Literaturgeschichte der Region“ wird nicht nur der mitteldeutsche Sprach- und Literaturraum vorgestellt, sondern der Blick auch auf die aus unterschiedlichsten Gründen gegebenen Unschärfen gelenkt, die einer Absolutheit der Zu- und Einordnung der entsprechenden Textkorpora entgegenstehen. Dies liegt unter anderem daran, dass mitunter mitteldeutsches Material nur außerhalb des geografischen Bereiches Mitteldeutschland belegt ist oder etwa nicht-mitteldeutsche Texte in Bibliotheken im Groß- beziehungsweise Traditionsraum Thüringen vorkommen.

So werden als Belegnamen etwa der Maasländer Heinrich von Veldeke, der Österreicher Wolfram von Eschenbach oder der aus Franken stammende Walther von der Vogelweide angeführt. Zusätzlich wird auch auf die – so Reinhard Hahn – zumindest teilweise zutreffende Aussage Ulrich Wyss’ rekurriert, dass literaturgeschichtliche Regionen durch ‚Rezeption‘ und nicht ‚Ursprung‘ definiert seien. Diese Aussage gehört in den Kontext der Rezeptionsgeschichte, der in einem eigenen Unterabschnitt kurz, aber zielführend behandelt wird.

Im Folgenden werden noch einmal verdichtend „Räumliche-zeitliche Dimensionen der Literaturregion“ Thüringens definiert; ein Abschnitt, in dem die bereits zuvor gemachten Feststellungen und Zielmarken aufgegriffen und dabei noch expliziter an den thüringischen Raum angepasst werden. Hier bezieht sich der Autor nochmals auf Grauzonen und Grenzbereiche zwischen Räumen, aber auch zeitlichen Ein- und Zuordnungen, die etwa im Ganzen auch die wichtige Frage nach der zeitbezogenen Definition des Mittelalters betreffen. Dass es dabei einen gültigen ‚Kernbereich‘ gibt, steht allerdings außer Frage – ansonsten erübrigte sich ja auch die vorliegende Publikation. Dieser Aspekt einer gewissermaßen ‚uneindeutigen Verbindlichkeit‘ wird im letzten Block der Einleitung zum „Literaturbegriff“ nochmals herangezogen – und das gilt nicht nur für das Mittelalter, sondern auch für die im Vorwort bemühte Weimarer Klassik. Die knappe Einleitung zeichnet sich durch eine übergreifende Perspektive aus, in der auch die Elemente der Redundanz verdichtenden und zielorientierten Charakter aufweisen.

Über den Hauptteil, das mit einem Abkürzungsverzeichnis und einem (sehr praktischen) Artikelverzeichnis eingeleitete eigentliche Lexikon, viele Worte zu verlieren, würde auf eine Nacherzählung hinauslaufen. Nur so viel: Zunächst mag es zugegebenermaßen befremdlich wirken, dass Text- und Autorenlexikon in einem vorliegen. Diese Irritation allerdings wird durch den vorgestellten Ausweis der Lexikon-Artikel aufgehoben und spielt für die Benutzung des Lexikons dann keine einschränkende Rolle mehr.

Zielorientiert und überschaubar sind die – vornehmlich volkssprachlichen, aber teils auch lateinischen – verschiedenen Textgattungen vertreten, die von der geistlichen bis zur weltlichen Dichtung reichen und dabei auch den Rahmen des rein Fiktiv-Literarischen sprengen. So finden sich Chroniken, Rechtsbücher, Fürstenspiegel, medizinische Traktate sowie Reiseberichte. Aufgenommen sind selbstverständlich auch anonyme Werke sowie verlorene Dichtungen, die nur indirekt überliefert, also in anderen Werken bezeugt sind. Wer in diesem reichhaltigen Fundus nach dem Sängerkrieg auf der Wartburg sucht, wird positiv enttäuscht werden: Dieses Motiv, von dem sich etwa auch Richard Wagner inspirieren ließ, entstammt der Mittelalterapotheose der Romantik und hat mit dem echten mittelalterlichen Thüringen nichts zu tun.

Was bleibt zu konstatieren? Auf den ersten Blick erscheint eine solche lexikalische Literaturgeschichte zu einem modernen Bundesland etwas merkwürdig. Aber Thüringen ist mehr als die Gegenwart, sondern stand, wie bereits ausgeführt, vielfach als ein Kultur tragender und vorantreibender Hotspot im Ereigniszentrum von Kultur- und Literaturgeschichte. Dabei ist es dem – wohlgemerkt im positivsten Sinne – schlicht gehaltenen Werk erst auf den zweiten, wenn nicht gar auf den dritten Blick anzusehen, wie viel Aufwand und Arbeit tatsächlich in seine Erstellung eingeflossen sind. Und auch wenn der Rezensent mit Martin Luther und Thomas Müntzer zwei wesentliche Protagonisten des – kulturgeschichtlichen wie im weiteren Sinne auch literarischen – Umbruchs vermisst, ist dieses Desiderat nachvollziehbar und wohl weniger Fragen der chronologischen Zuordnung als denen des Umfangs geschuldet. Dieses Buch ist wesentlich mehr, als es zu sein vorgibt, und sei allen, vielleicht gerade auch denen, die Thüringen lediglich aus den Nachrichten kennen, ans Herz gelegt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Reinhard Hahn: Die mittelalterliche Literatur Thüringens. Ein Lexikon.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2018.
361 Seiten , 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783825369194

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