Einführungen oder Einführung?
Ein neuer Aufsatzband über das Theoriegebäude von Pierre Legendre
Von Michael Niehaus
Der Sammelband, um den es geht, heißt Pierre Legendre. Einführungen in sein Werk, herausgegeben ist er von der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Katrin Becker und dem französischen Philosophen Pierre Musso, erschienen 2024 in der Reihe Velbrück Wissenschaft – ein ambitionierter Verlag, der sich seit 1999 als ein „weltoffenes Forum für die Humanwissenschaften“ darstellt und einen starken rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Schwerpunkt hat. Der Band über Pierre Legendre, einem der bedeutendsten Denker der letzten fünfzig Jahre auf diesem Feld, passt also sehr gut in das Verlagsprogramm. Gleichwohl ist das Unternehmen in mehrfacher Hinsicht problematisch.
Erstens gibt es ein Problem mit der unangemessen zurückhaltenden Rezeption des 2023 verstorbenen Rechtshistorikers und Lacan-Schülers im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen. Trotz verschiedener Bemühungen hat sich bislang, so die Einleitung, „nur eine kleine internationale Gemeinschaft von WissenschafterInnen an die Erforschung dieses Werkes gewagt“. Das trifft bedauerlicherweise zu, und es ist ein Verdienst dieser Einführungen, dass sie nicht nur eine „multidisziplinäre“, sondern auch eine „internationale Lektüre“ ermöglichen – namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Luxemburg, der Cardozo Law School in New York, der New York University, der Universitäten Turin und Rennes, der Universität Meiji-Gakuin in Tokyo sowie der Universität Glasgow haben sich beteiligt. Dass keine deutsche Universität vertreten ist, lässt sich wohl verschmerzen. Dass allerdings die deutsche Rezeptionsgeschichte von Legendre im ganzen Band mehr oder weniger unter den Tisch gekehrt worden ist, befremdet angesichts der Tatsache, dass dieses Buch auf Deutsch erscheint, schon. Eine Bibliographie mit „Quellen aus dem Werk Legendres“ und „Weitere[n] Quellen“ ist dem Band hinzugefügt worden. Der Status dieser Listen ist allerdings etwas unklar: Den Anspruch, wenn nicht vollständig, so doch wenigstens einigermaßen repräsentativ zu verfahren, können sie jedenfalls nicht erheben. Der ersten Versuche, Pierre Legendre in Deutschland bekannter zu machen, wird hier nämlich nicht gedacht: Das Tumult-Heft 26 mit dem Titel Pierre Legendre. Historiker, Psychoanalytiker, Jurist, herausgegeben von Cornelia Vismann in Zusammenarbeit mit Susanne Lüdemann und Manfred Schneider aus dem Jahr 2001, das unter anderem eine Reihe von Texten Legendres (und ein Interview mit ihm) enthält, kommt in der Bibliographie nicht vor, und in den „Weiteren Quellen“ sind auch die Namen der dort beteiligten (und nicht unbekannten) Personen, die sich eingehend mit dem Werk Legendres auseinandergesetzt haben, nicht vertreten.
Ein zweites Problem betrifft ebenfalls die Entstehung dieses Bandes mit insgesamt acht recht langen Beiträgen aus aller Herren Länder. Die Herausgeber geben keinerlei Auskunft darüber, wie diese Auswahl zustande gekommen ist, ob die Beiträge etwa alle auf Deutsch und mithin also für eine deutsche Leserschaft verfasst worden sind. Das wäre unwahrscheinlich. Um aber zu erfahren, dass es wirklich nicht der Fall ist, muss man auf die Website des Verlags gehen, wo zu lesen ist, dass die Originalausgabe unter dem Titel: Introductions à l‘œuvre de Pierre Legendre in den Éditions Manucius 2023 erschienen ist. Aber: Wurden nun alle Beiträge auf Französisch verfasst – etwa derjenige des renommierten japanischen Philosophen Osamu Nishitani? Ebenfalls unwahrscheinlich – aber das könnte man allenfalls herausbekommen, wenn man die französische Ausgabe konsultiert. In gewisser Weise ist das Buch nicht wirklich auf die deutsche bzw. deutschsprachige Leserschaft zugeschnitten. Am Ende der recht sparsamen Einleitung findet sich der Hinweis auf die „Website der Gesellschaft Ars Dogmatica“, die „dem Werk von Pierre Legendre und seiner Aktualität gewidmet ist“ – da wäre der Hinweis am Platz gewesen, dass es sich um eine rein französischsprachige Website handelt. Insgesamt wird der Leser nicht gerade besonders üppig mit Informationen versorgt. Außer den jeweiligen universitären Zuordnungen in der Einleitung finden sich keine Hinweise zu den Beiträgerinnen und Beiträgern; stattdessen findet sich hinten eine gesonderte „Biographie von Pierre Legendre“ im Umfang von zwanzig Zeilen, deren Inhalt in etwa schon der Einleitung zu entnehmen war.
Das dritte Problem hängt mit dem Konzept dieses Bandes zusammen. Stellen eigentlich „Einführungen“ im Plural zusammengenommen eine Einführung dar? Man kann sich leicht davon überzeugen, dass dies ein recht ungewöhnliches Konzept ist. Im Allgemeinen ist eine Einführung etwas, was durch das planmäßige Vorgehen eines Einzelnen oder einer Gruppe realisiert wird und dies dann auch durch den entsprechenden Singular im Titel zum Ausdruck bringt. Wenn es mehrere Einführungen gibt, wie verhalten sich diese Einführungen zueinander? In der Einleitung steht zu lesen: „Das vorliegende Sammelwerk enthält mehrere analytische und kritische Einführungen in die von Pierre Legendre begründete ‚dogmatische Anthropologie‘.“ Das Werk Legendres ist äußerst umfangreich und erstreckt sich über einen außerordentlich langen Zeitraum (die erste Buchveröffentlichung stammt aus dem Jahr 1964, die letzte aus dem Jahr 2017). Insofern ist es für eine Einführung wie geschaffen. Hinzu kommt, dass es von einer beträchtlichen Redundanz ist, da es immer wieder um dieselben Fragen, dieselben Konstellationen und dieselben Kategorien kreist. Auch das ist ein guter Grund, ihm mit einer Einführung zu Leibe zu rücken. Aber sind das auch Gründe für „Einführungen“ im Plural? Das wird man nur begrenzt bejahen können: Es müssten die Texte sehr gut aufeinander abgestimmt sein, damit sie nicht ihrerseits redundant sind, indem sie alle auf die „dogmatische Anthropologie“ zielen, die als das Zentrum des Werks von Legendre ausgewiesen ist. Nun bearbeitet Legendre die grundsätzlichen, mit der dogmatischen Anthropologie zusammenhängenden Fragen seinerseits kategorisch und teilweise auch hermetisch, mit brüsken Setzungen und Sentenzen – also eben „dogmatisch“. Es kann ja auch nicht anders sein. Die Einführungen müssten sich dazu verhalten, und sie könnten sich nur dazu verhalten, indem sie anders vorgehen als der Diskurs des Meisters, wie es ja auch in der Behauptung, es handle sich um „analytische und kritische Einführungen“, in Aussicht gestellt wird. Das bewahrheitet sich aber nicht wirklich. Der herrschende Ton der Beiträge ist weder analytisch noch kritisch, sondern affirmativ. Es wird sehr viel aus den Büchern von Legendre zitiert, und die Zitate erfahren eine kundige Auslegung.
Die Beiträge dieses Bandes sind also eher kundige Auslegungen von Spezialisten und grosso modo ohne propädeutische Bemühungen. Sie sind von Wissenschaftlern verfasst, die sich – freilich nicht alle in demselben Ausmaß – dem Werk von Legendre verschrieben haben. Das weist zunächst einmal auf die Faszination hin, die von diesem monolithischen Werk ausgeht und der kaum jemand entgehen kann, der sich ihm ohne Vorurteile nähert. Auch die hier vorgelegte Kritik verfolgt nicht zuletzt das Ziel, dazu einzuladen. Die Auslegungen sind auch deshalb kundig, weil ihnen ein sehr hohes Niveau attestiert werden kann. Hier sind nur Beiträge versammelt, deren Autorinnen und Autoren wirklich wissen, wovon sie sprechen. Ob das ihre Fähigkeit erhöht, angemessene Einführungen zu verfassen, ist allerdings fraglich. In dieser Hinsicht sind die Beiträge der Herausgeber, also Katrin Beckers Das Rechtssubjekt als lesendes Subjekt und Pierre Mussos Der Begriff der Institution als Schlüsselbegriff der dogmatischen Anthropologie Pierre Legendres, symptomatisch: Weil sie sich besonders intensiv mit Legendre beschäftigt haben, eignen sie sich weniger zur Einführung als etwa die Beiträge des Literaturwissenschaftlers Georg Mein (Die Macht des Zeigens. Zur ästhetischen Dimension von Legendres „Dogmatischer Anthropologie“) oder Osamu Nishitani (Was ist die dogmatische Anthropologie? Das Unerforschte), die sich Legendre ein wenig mehr von außen nähern und andere Kontexte heranziehen. Bei einigen Beiträgen ist die Lektüre so anspruchsvoll, dass sie auch denen erhebliche Schwierigkeiten bereiten, die sich schon viel mit Legendre beschäftigt haben. Und das ist ein wenig kontraproduktiv.
Warum ist es so schwer, in das Werk von Pierre Legendre einzuführen? Es ist nicht einfach deshalb schwer, weil dieses Werk schwierig zu verstehen ist, sondern auch deshalb, weil es so schwer ist, das Einfache zu denken (in dieser Hinsicht gibt es eine Parallele zum Denken Heideggers, auf die auch Osamu Nishitani hinweist). Denn der Grundgedanke der dogmatischen Anthropologie ist zunächst einmal sehr schlicht: Der Mensch ist ein sprechendes Tier (wie in fast allen Beiträgen referiert wird), schon die Sprache ist eine Institution; der Mensch kann nur als ‚instituiertes‘ Wesen leben (was unter Rückgriff auf eine Wendung des Römischen Rechts immer wieder unter die Formel vitam instituere gefasst wird); die Institutionen sind zwar in gewisser Weise vernünftig, können aber die Frage nach ihrer Begründung letztlich nicht beantworten; man muss also an ihre Begründetheit glauben, und ohne diesen Glauben öffnet sich ein Abgrund; um uns vor diesem Abgrund abzuschirmen, benötigen wir Gründungsfiktionen und Bilder. Das Bild, das sich die Gesellschaft machen muss, ist schlussendlich das Dogma: Der Mensch ist nur als dogmatisches Wesen möglich. Das ist die dogmatische Anthropologie. Alles weitere ergibt sich, wie in den Beiträgen unermüdlich wiederholt wird, aus der „‚elementaren Trilogie‘ des sprechenden Tieres, die aus Körpern, Bildern und Wörtern besteht“, wie es in dem Beitrag von Pierre Musso heißt. Darf man das so einfach zusammenfassen? Man darf es nicht, wenn man es ‚einfach so‘ zur Kenntnis nimmt und verstanden zu haben glaubt. Denn weder die Voraussetzungen noch die Implikationen der so aufgefassten dogmatischen Anthropologie sind zu übersehen, und sie führen in verschiedene Richtungen. Schon die ‚elementare Trilogie‘ selbst, in der – auf die Gesellschaft übertragen – die drei Register von Jacques Lacan (das Reale, das Symbolische und das Imaginäre) auf einer ‚überindividuellen‘ Ebene wiederkehren, macht deutlich, dass hier eine enge Verbindung zur Psychoanalyse besteht. Einer der Beiträger – Livio Boni, ein in Italien bekannter Theoretiker der Psychoanalyse – fasst zusammen: „Legendres Arbeit betont ein Thema, das die Psychoanalyse nur ungern behandelt: die Funktion des Staates.“ Die Unhintergehbarkeit der Institutionen ruft die Frage nach dem Gesetz auf den Plan, nach der Ordnung und dem Schicksal des Rechts sowie seinem Verhältnis zur Theologie (einer der Beiträge stammt von dem Juristen Peter Goodrich, dem einflussreichen Nestor der Legendre-Rezeption in den USA, ein weiterer von dem in Schottland lehrenden Rechtsprofessor Andreas Rahmatian). Für Legendre besteht in der „gregorianischen bzw. päpstlichen Revolution“ des 11. und 12. Jahrhunderts das für das Abendland entscheidende Ereignis, denn dort „begründeten zwei ‚Textblöcke‘ die Vision der westlichen Welt neu, nämlich das Römische Zivilrecht und die Rechtskompilation Gratians“, erklärt der französische Philosoph Pierre Musso. Die Bücher Legendres werfen immer wieder eine Frage auf, die in unserer Gegenwart so drängend und aktuell ist wie vielleicht nie zuvor: Wie ist „der Westen“ zu denken? Welche spezifische Montage ist sozusagen das ‚Seinsgeschick‘ der westlichen Zivilisation? Entsprechend kommen viele der Beiträge dieses Bandes darauf zu sprechen und beleuchten dies von verschiedenen Seiten: „Die Selbstgründung ist das Problem des Majestätssubjekts in unseren Post-Hitler-Gesellschaften, die den Begriff der Grenze privatisieren“, schreibt etwa Paolo Heritier. Man kann sagen, dass die Beiträge des Bandes Pierre Legendre als jemanden porträtieren, dessen Aufgabe es ist, an etwas zu erinnern in einer Welt, die sich zu einem ‚Imperium des Managements‘ entwickelt und die ‚dogmatische Anthropologie‘ sich gerade darin vollendet, dass sie vergessen sein wird.
Damit sind einige der Themen stichwortartig aufgeführt, um welche die Beiträge dieses Bandes kreisen. Es sind begreiflicherweise die Themen, um die Legendres Werk kreist, dessen Schicksal es gewesen sein wird, nicht genügend Gehör zu finden. Der Band von Katrin Becker und Pierre Musso möchte dem zwar abhelfen, und es ist auch nützlich, ihn zu konsultieren, auch wenn er seine Aufgabe, „Einführungen“ zu bieten, nicht wirklich zu bewältigen versucht hat. Um das Problem, wie man in dieses „Werk von großer Gelehrsamkeit“, aber auch von großer Unbeugsamkeit und Schroffheit einführen kann, zu lösen, hätte man in zwei Richtungen gehen können. Zum einen wäre es wichtig gewesen, es weniger monolithisch zu behandeln, um es – auch durch Abgrenzungen – besser erfassen zu können. So spielt etwa der Begriff der Institution in allen Beiträgen eine wichtige Rolle. Warum aber bemüht sich keiner der Beiträge, diesen Begriff zu anderen – verbreiteteren – Konzeptionen von Institutionalität ins Verhältnis zu setzen, um Anschlussfähigkeiten herzustellen oder sich kritisch gegen sie abzusetzen? Was beispielsweise ist der Unterschied zwischen instituieren und institutionalisieren? Oder wie verhält sich Legendres Denken der Institution zu John R. Searles Kategorie des institutional fact? Die Antwort ist einfach: Keiner der Beiträge hat dies als seine Aufgabe angesehen. Der Band ist eben keine wirklich ‚konzertierte Aktion‘. Eine solche wäre er gewesen, wenn man – das wäre die zweite Richtung – diesem ‚Einführungsversuch‘ ein ganz anderes Konzept gegeben hätte: Angesichts der Fülle, der Komplexität und vor allem der Vernetztheit der von Legendre verwendeten Begriffe wäre es sinnvoll gewesen, mittels eines Glossars dieser Begriffe in sein Denken einzuführen. Ein solches, alphabetisch geordnetes Glossar hätte eine Fülle von Eingängen und Erschließungswegen abdecken können, und zugleich ließe sich die Redundanz – die ja in diesem Falle durchaus unverzichtbar ist – von den Leserinnen und Lesern steuern. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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