Lebendige AutoBIOgrafie – Die Geschichte einer Buche
„Buchenleben“ von Peter Wohlleben ist eine wahrlich fesselnde Geschichte einer Außenseiterin, die sich über Grenzen hinwegsetzt und dafür groß gefeiert wird
Von Veronique Bläske
Peter Wohlleben gelingt es mit Buchenleben erneut, das Zusammenspiel von Natur und Wissenschaft einem breiten Publikum näherzubringen. Indem er einer 250 Jahre alten Buche eine Stimme verleiht, erschafft er eine einzigartige Verbindung zwischen biologischer Erkenntnis und poetischer Erzählkunst.
Das Werk erschien 2024 in zwei Varianten – als Standardausgabe und als Sonderedition. Der 352 Seiten starke Spiegel-Bestseller wurde vom Ludwig Verlag veröffentlicht und ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil wird aus der Perspektive der Buche erzählt, die hinter Wohllebens Forsthaus steht, und gewährt detaillierte Einblicke in das Leben, die Herausforderungen und die Umwelt des Baumes. Dabei wird die Entwicklung eines Baumes vom Keimling bis zur majestätischen Riesin anschaulich dargestellt. Gleichzeitig werden die Bedrohungen und Herausforderungen, denen Bäume ausgesetzt sind, auf eindrucksvolle Weise vor Augen geführt. Wohlleben gelingt es, das Baumleben lebendig zu schildern, indem er darstellt, wie Bäume kommunizieren, Gefahren wahrnehmen und Erinnerungen weitergeben:
Durch die Luft und den Boden erreichten uns nämlich ständig Nachrichten, Hilferufe oder Liebesbotschaften; kurz, der Wald war regelrecht geschwätzig. Es dauerte allerdings mehrere Sommer, bis ich verstand, wie ich die Botschaften entschlüsseln konnte […]. Je weiter entfernt der Ort des Geschehens, desto schwächer waren nämlich die Signale. So konnten wir mit etwas Übung spüren, wenn irgendwo ein Baum durch einen Sturm gefällt wurde und auf dem Waldboden aufschlug. Dann ging ein wellenartiges leichtes Beben durch das Erdreich, dem ein dumpfer Schlag folgte. […] Viel häufiger waberten Duftbotschaften zwischen unseren Blättern hindurch. Manche von ihnen waren so aufdringlich, dass wir gar nicht darüber hinwegriechen konnten.
Was die Buche vernimmt, sind die Hilfeersuche anderer Bäume, die in einer fremden Sprache – denn jede Art spricht ihre eigene Sprache – „Flieger“ (Vögel) um Unterstützung bitten.
Die Buche berichtet ihren vermutlich letzten Nachkommen von ihrem ereignisreichen Leben, wodurch nicht nur sie, sondern auch die Lesenden neue Erkenntnisse über die faszinierende Welt der Bäume gewinnen. So wird etwa erläutert, dass Bäume sehen, riechen und sich unter anderem durch Klicklaute verständigen können.
Wohlleben nutzt in seinem Werk gezielt literarische Verfahren wie Personifizierung und Anthropomorphisierung, um die Natur als handelndes Subjekt zu inszenieren. Durch die Vermittlung aus der Sicht der Buche entsteht eine Nähe zur Protagonistin, die über reine Sachinformationen hinausgeht:
Im Herbst fielen die Embryos zu Boden, und die nächste Schar Neugeborenen schlüpfte nach dem langen Schlaf um mich herum. Doch als ich versuchen wollte, sie mit meinen Wurzelspitzen zu umsorgen, entließen die Ausläufer der Nachbarinnen giftige Substanzen, die meine Spitzen schmerzhaft absterben ließen. Ohne Kommentar blockierten sie jeden Versuch, Kontakt aufzunehmen, und kümmerten sich an meiner statt um meine Kinder. Meine Kinder! Das tut nun wirklich weh, doch egal, was ich versuchte, meine Wurzeln stießen auf unerbittlichen Widerstand. Jetzt erst spürte ich zum ersten Mal, dass ich wirklich auf mich allein gestellt war. Es gab niemand, mit der ich meinen Schmerz teilen konnte.
Die Dialoge zwischen der Buche und anderen Waldwesen verleihen der Erzählung eine dynamische Lebendigkeit, während die eigens entwickelte Terminologie eine mythische Ebene schafft.
Im zweiten Teil des Buches wird die biografische Erzählung durch wissenschaftliche Erklärungen und 117 Quellen erweitert, sodass die einzelnen Kapitel durch Forschungsergebnisse ergänzt und vertieft werden. Kritiker, die Wohlleben vorwerfen, seine Darstellung sei zu wenig wissenschaftlich, dürften hier eines Besseren belehrt werden. Mit akribischer Sorgfalt belegt der Autor sein Wissen und seine Beobachtungen mit Hilfe von Radiosendungen, Zeitungsartikeln, Studien und Forschungsberichten und zeigt, dass seine Methode der Wissensvermittlung nicht nur unterhält, sondern auch fundiert ist:
Ob es Schabernack bei Bäumen gibt, wäre noch zu erforschen. Dass Tiere etwas aus reiner Freude machen, war auch lange umstritten, ist aber mittlerweile bestens belegt. So haben Krähen beispielsweise eine diebische Freude daran, angeleinte Hunde in den Schwanz zu zwicken, die sich daraufhin verärgert umdrehen, der Krähe aber nicht nachsetzen können.
Besonders originell ist die eigens für das Buch entwickelte Sprache der Buche. Begriffe wie „Die Wahren“ für Buchen, „Der braune Tod“ für Rehe oder „Die Haarwesen“ für Pilze verleihen dem Werk eine fast mythische Dimension, die uns in die Gedankenwelt des Baumes eintauchen lässt; dadurch erscheint die Welt des Waldes nicht nur als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt, sondern als tief verwobenes, fast spirituelles Gefüge. Die kreative Wortwahl und die Inszenierung der Natur als lebendiges, kommunizierendes System verstärken den Perspektivwechsel und regen dazu an, die Natur auf eine ungewohnte Weise zu erleben.
Die Personifizierung des Baumes, die bildhafte Sprache, die ungewöhnliche Perspektive und die erzählerische Struktur verleihen dem Werk eine literarische Qualität, die es über ein reines Sachbuch hinaushebt. Wohllebens Schreibweise macht aus wissenschaftlichen Erkenntnissen eine eindrucksvolle Erzählung. Anerkennung verdient auch die visuelle Gestaltung des Buches . Die Illustrationen von Mascha Greune unterstreichen die poetische Kraft der Erzählung und lassen die im Text beschriebenen Szenen lebendig werden. Zudem erleichtern zwei Lesebändchen den Wechsel zwischen den erzählenden und den sachlichen Passagen, was die Lektüre besonders angenehm macht.
Letztlich regt Buchenleben dazu an, den Wald und seine Bewohner bewusster wahrzunehmen. Wer nach der Lektüre durch einen (Buchen-)Wald spaziert, wird mit Sicherheit mit anderen Augen auf die imposanten Baumgestalten blicken. Es bleibt zu hoffen, dass Wohllebens Buch dazu beiträgt, das Bewusstsein für den Schutz dieser uralten Lebewesen zu schärfen und damit die Zukunft der Wälder langfristig zu sichern. In diesem Sinne gibt die Buche ihren Lesenden einen letzten weisen Rat mit auf den Weg:
Wirkliches Leben, das ist Gemeinschaft, das ist gemeinsames Arbeiten, Teilen, Leiden und Lieben. Glück kann man weder messen noch festhalten, es ist so flüchtig wie die Wolken, die über den Himmel ziehen. Das ist es, was ich euch wünsche: ein glückliches Dasein.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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