Ein Schriftsteller, der am Lieben, Leben und am Schreiben scheitert

Rudolph J. Wojta behandelt in seinem Roman „Zerfall der Lage“ die sexuellen Repressionen eines Schriftstellers in den 1930er Jahren

Von Rafael HähnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Hähn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ars longa, vita brevis“, zu Deutsch: „Die Kunst währt lange, das Leben kurz“, so spricht der Lateiner. In Rudolph J. Wojtas 130 Seiten umfassenden Roman Zerfall der Lage versucht ein parasitierender, von der Mutter finanzierter Schriftsteller im Winter 1930/31 sein Künstlerleben diesem Sprichwort gemäß unter ein allein der Produktion verpflichtetes Diktum zu stellen: „Erst Schreiben. Danach Leben.“ Sein Vorsatz ist ein Irrglaube, wie sich herausstellt. Viel zum Schreiben kommt der junge Mann nicht, „weil er sich mit ‚scribere‘ immer schwerer tat, da das ‚vivere‘ aus dem Schritt hochdrängte, bis ins Hirn, und von da auf die Sündenzettel, die immer zahlreicher in den Ofen wanderten.“ Sein Roman Dicke Damen, an dem er zu arbeiten plant, aber niemals arbeitet, hat nur insofern mit seinem Leben zu tun, als er alles daran setzt, mit dieser Fixierung auf das Weibliche seine homosexuellen Neigungen irgendwie zu übertünchen. Statt sein Innerstes literarisch zu verarbeiten, lässt der Schriftsteller seine Bekenntnisse lieber in Form der „Sündenzettel“ von Flammen vertilgen. Abwertend nennt er seine Begierde nach einem Geigenspieler, den er im Restaurant kennenlernt – wie überhaupt seine Liebe zum eigenen Geschlecht –: „sexuellen Unrat“, ersehnt sich den Begehrten, versagt ihn sich und hofft insgeheim wohl darauf, ihn vollständig aus seinem Leben zu verbannen. Der Dichter ringt die gesamte Romanhandlung hinweg mit seiner Bi- oder womöglich Homosexualität. Mal bejaht er sie, das andere Mal verleugnet er sie. Dass er dabei mit einer „separat gemeldeten“ Frau verheiratet ist, sein einziges Glück allerdings mit einem Sträfling im sibirischen Offiziersgefangenenlager in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs erlebt hatte, scheint ihn nur dahingehend zu bekümmern, dass er sich erfolglos damit abmüht, das vergangene Glück erneut aufleben zu lassen. Leider verschafft ihm auch ein Wiedersehen mit dem zu seiner Enttäuschung inzwischen gealterten Geliebten keine Freude, sondern Ernüchterung. Obendrein quälend für ihn: der Glaube, im Wiener Wohnhaus, in dem er sich bei einer Frau Faber als Untermieter einquartiert hat, bespitzelt zu werden. Ständig habe man ein Auge darauf, wen er nach Hause bringe und was für ein Geschlecht seine nächtlichen Gäste haben. In Wirklichkeit entfaltet sich für ihn in dem Mietshaus eine bedrohliche Atmosphäre. Selbst der Brodem sämtlicher Gerüche aus den Nachbarsküchen dringt in seine kaum zu erreichende Privatsphäre ein, dem „licht blauen Zimmer der Frau Faber“. Die Spannung des Romans äußert sich auf eine geradezu aufreibende Weise in der Frage, ob sich der junge Mensch endlich dazu bekennen wird, wonach ihn Lust und Liebe in Wahrheit ziehen, und ob er jemals seinem ersehnten Geigenspieler nahekommen wird. Versäumt er sein Leben, weil er sich zu sehr an sein Kunstideal klammert? Ja, mehr noch: Magert sein Schreiben ab, will es nicht gedeihen, weil er sich außerstande fühlt, in Ehrlichkeit und Einigkeit mit sich selbst vorrangig eins zu tun, nämlich – zu leben? Sein Motto müsste eigentlich lauten: Erst Leben. Danach Schreiben.

Mit seinem (Anti-)Helden gibt der Roman ein eindrückliches Beispiel dafür, was geschieht, wenn man sich zu viel verwehrt, nicht ins Volle hineingreift, oder sich, wie es Dostojewski in Schuld und Sühne so wehmütig formuliert hat, „alles vor der Nase wegschnappen [lässt] – einzig und allein aus purer Feigheit.“

Der ehemalige Journalist Rudolph J. Wojta (geb. 1944 in Wien) hat, wie der Klappentext verrät, diesen Plot zu einem erheblichen Teil den Tagebüchern Heimito von Doderers entlehnt und ins Fiktive entrückt. Nicht nur diese Anleihe ist im Text bemerkbar, vor allem der Romananfang liest sich wie eine Mischung aus Kafkas Der Prozess und Thomas Manns Der Tod in Venedig. Überhaupt gelingt es Wojta, sich den Ton des frühen 20. Jahrhunderts in einer Genauigkeit anzueignen, die weitgehend überzeugt, mitunter jedoch misslingt. Das Dativ-E, wie etwa beim „Herbste“, „Kinde“ oder „Kopfe“, verwendet Wojta in einer solchen Häufigkeit, dass es schnell seinen Wert als Stilmittel einbüßt und trivial, ja irgendwann abgenutzt wirkt. Der Gebrauch des „ward“ und weiterer Archaismen überschreitet in allerdings verzeihbaren Momenten beinahe die Grenze zum Kitsch. Umso erfrischender blitzen die vielen kleinen Stellen auf, in denen gewienert wird, in denen durchaus ein humorvoll-salopper Tonfall an Dominanz gewinnt. Sprachlich ist der Roman trotz seiner gelegentlichen Fehlgriffe von hohem Wert. Hier hat es ein Autor gewagt, ein Werk zu präsentieren, welches in der zeitgenössischen Literatur kaum seinesgleichen findet. Ein Unikat. Eine Rarität. Ein Finderglück, ihm zu begegnen! Kein anderer Roman ist mit Wojtas Zerfall der Lage direkt vergleichbar, wenn auch einzelne Restaurantszenen von Ferne an Joris-Karl Huysmans’ Gegen den Strich erinnern und einige Sätze, wie der Autor in Interviews preisgegeben hat, unmarkierte Zitate aus Heimito von Doderers Werk darstellen. 

Rudolph J. Wojtas Roman Zerfall der Lage ist ein Vergnügen für Leser*innen, die an einem originellen Sprachgebrauch Gefallen finden und jene, die sich in den Irrungen und Wirrungen, die (nicht nur) der Bisexualität zu eigen sein können, widergespiegelt sehen. Der Buchmarkt könnte deutlich mehr von diesen ungewöhnlichen Stimmen gebrauchen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Rudolph J. Wojta: Zerfall der Lage.
Verlag Klingenberg, Graz 2024.
CXXXIV Seiten , 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783903284333

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