Kein Thai, kein Japaner, kein Koreaner
Tash Aw erzählt in „Fremde am Pier“ die Geschichte seiner Familie
Von Diana Hitzke
Tash Aw erzählt in seinem schmalen Roman Fremde am Pier die Geschichte seiner Familie. Der Stoff, die Figuren, die Motive würden wohl auch für einen mehrteiligen Generationenroman reichen, doch Aw entscheidet sich für die kurze Form, was dem Erzählen über Migration, Mehrsprachigkeit und Transkulturalität sicher keinen Abbruch tut. Auserzählt haben das viele andere vor ihm, neben ihm. Tash Aw verdichtet und er nimmt eine neue Perspektive ein.
Der Roman beginnt mit einer mehrsprachigen Aufzählung dessen, was der Ich-Erzähler alles nicht ist: „Pom mai ben Thai. Watashi no nihonjinde wanaidesu. Jaesonghaeyo, han-guk saram ahniaeyo. Bukan orang Indonesia. Ma Nepali ta hoina. Ich bin kein Thai. Ich bin kein Japaner. Entschuldigung, ich bin kein Koreaner. Ich bin auch kein Indonesier. Ich bin kein Nepalese.“ Mit diesen vorangestellten Sätzen werden die offenbar von anderen zugeschriebenen Identitäten abgewiesen. Darauf folgt eine Szene, in der beschrieben wird, wie wandelbar das Gesicht des Erzählers auf andere wirkt. Es kann sich offenbar überall anpassen:
Meine Gesichtszüge sind neutral, unauffällig, die Hautfarbe veränderlich – blass in den sonnenarmen Klimazonen des Nordens, doch nach ein oder zwei Tagen in den Tropen wird sie schnell dunkler. Mein Gesicht fügt sich in die kulturelle Landschaft Asiens ein.
Aufgrund dieser Flexibilität wird er von den anderen immer in deren Sprachen angesprochen, für einen der ihren gehalten. Dieses Motiv – sein Gesicht, die Situationen, die dazu führen, dass er immer wieder als Gleicher unter Gleichen behandelt wird und dann erklären muss, dass er anders ist, dass er nicht dazugehört, ein Fremder, ein Ausländer ist – ist die genaue Umkehrung dessen, was wir sonst aus der Literatur zu diesem Themenfeld kennen: das unerträgliche Othering, die stets wiederkehrende harmlos wirkende Frage nach der vermeintlich „eigentlichen“ Herkunft, das unablässige Konstruieren und unverfrorene Benennen von Unterschieden.
Während die Protagonist:innen aus vielen anderen Romanen, die von Migration handeln, oft gerade darum kämpfen, dazuzugehören, wünscht sich der Ich-Erzähler das Gegenteil. Er hätte gern, dass man ihn fragt, woher er kommt, er würde gern die Unterschiede erklären.
Es wird in knappen Szenen erzählt: eine Taxifahrt, ein Gespräch mit dem Vater, die letzte Begegnung mit der Großmutter vor ihrem Tod. Zwischen den Szenen, aus nebenherlaufenden Reflexionen und Erinnerungen erfahren wir kurz und knapp, was aus der chinesischen Geschichte relevant für diesen Text ist. Sehr elegant erklärt Aw die Kürze der Darstellung dadurch, dass seine Großväter eine größere Komplexität nicht verstanden hätten, und meint damit wohl auch die westlichen Leser:innen. Die Großväter haben China verlassen, nachdem das tausendjährige Kaiserreich zerfallen war und sich die nationalistische Kuomintang und die Kommunistische Partei Chinas einen Machtkampf lieferten.
Der rasche Wandel, die schnelle Modernisierung Chinas, seine Stellung als Weltmacht werden einerseits beschrieben in Hinsicht auf ein homogenisierendes Chinabild, das sowohl von innen als auch von außen konstruiert wird, und andererseits parallel zum sozialen Aufstieg der Familie, in der die Großväter Migranten waren, der Vater noch so arm war, dass er erst mit zehn Jahren sein erstes Paar Schuhe bekam und der Sohn schließlich an einer britischen Spitzenuniversität studieren konnte.
Aws Perspektive – vielleicht beeinflusst durch das eingangs beschriebene Äußere des autofiktiven Erzählers, welches ihm überall ein, wenn auch teils unerwünschtes „Passing“ erlaubt – ist eine, die die ethnischen und kulturellen Unterschiede als fast marginal erscheinen lässt, sobald die Klassenunterschiede in den Blick rücken. Das bleibt natürlich denen vorbehalten, die den sozialen Aufstieg schaffen und dann – scheinbar ohne rassistische Diskriminierung erlebt zu haben – beobachten können, wie sich Klassenbewusstsein und kulturelle Unterschiede verbinden: so ist in der britischen Eliteschmiede eine gewisse Nonchalance geboten, was das Lernen angeht. Keinesfalls darf mit der Leistungsbereitschaft angegeben werden, wie es im asiatischen Kulturkreis üblich wäre. In derselben Szene spielt Aw zugleich auf Klasse an, weil dieselbe Nonchalance sich auch darin zeigt, wie in den höheren Schichten abgetragene, teils schon löchrige Pullover ganz selbstbewusst aufgetragen werden – Tradition, versteht sich.
Auch wenn die Szenen, in denen die Klassenunterschiede im Bildungssystem sowohl in Malaysia als auch in Großbritannien beschrieben werden, zu den schwächeren gehören, sind sie aus Sicht des Erzählers der zentrale Unterschiedsmarker. Dass Rassismus auch innerhalb der Klasse eine Rolle spielt, ist nicht Aws Thema. Darum geht es, ähnlich verdichtet, etwa in Assembly (2021) von Natasha Brown, deren Protagonistin sich durch geschickte Job- und Partnerwahl ihren gesellschaftlichen Status erarbeitet hat und sich – nun in der gehobenen Gesellschaft angekommen – fragt, zu welchem Preis das passiert ist. Denn die sexistischen, klassistischen und rassistischen Alltagsbegebenheiten hören nicht auf und kommen fortan aus dem inneren Kreis.
Auch wenn Rassismus nicht thematisiert wird, spielt „Weißsein“ eine Rolle, ebenso die kritische Sicht auf kulturelle Hegemonie. Aw beschreibt, wie unangenehm es für die weitgehend assimilierten Nachkommen der Migrant:innen sein kann, wenn sie von weißen Asienwissenschaftlern, die fließend Mandarin sprechen, interessiert nach ihrer Sprache ausgefragt werden und beschreiben sollen, welchen Dialekt sie genau sprechen, und sie dann nach den genauen Übersetzungen ringen. Oder wenn der Autor auf Lesungen gefragt wird, warum er auf Englisch, der Kolonialsprache schreibe, ob er sich damit vielleicht der Sprache des Marktes bedienen wolle.
Der zweite Teil widmet sich der Großmutter mütterlicherseits, die im Sterben liegt und die dem Enkel, gerade weil er soweit entfernt von ihr ist, wichtige Szenen aus ihrem Leben erzählt, auch solche, die der Familie, nicht einmal der Mutter, bekannt sind. Die Beschreibung der Figur der Großmutter steht in diesem schmalen Band im Vordergrund. Der Abschied von ihr führt auf ein weiteres Thema hin – die Liebe. So heißt es: „Jemanden zu lieben, bedeutet, sich von ihm zu trennen.“ Auch dazu fällt dem Erzähler eine beiläufig erlebte Szene ein und er spricht eine Erfahrung an, die für viele Familien prägend ist. Im Bus beobachtet er das Videotelefonat einer Mutter mit ihrem kleinen Sohn, der immer wieder wegläuft. Sie hat Tränen in den Augen. Dem Erzähler wird klar, dass er hier eine Mutter beobachtet, die auf der Suche nach Arbeit von ihrem Kind getrennt ist. Die schmerzhafte Trennung der Eltern von ihren Kindern ist der Preis für den Weg aus der Armut. Die Trennung deutet er als ein Zeichen von Liebe.
Man fühlt sich nach den knapp hundert Seiten fast, als hätte man 800 Seiten gelesen. Vielleicht hätte das Thema auch nach mehreren hundert Seiten verlangt. Die Unterschiede zwischen den Dialekten, die unterschiedlichen Kochgewohnheiten, die Traditionen, die Geschichte Chinas und Malaysias, das mühsame Leben der Eltern und Großeltern, das alles ließe sich auch zu einem großen Panorama entfalten. Aw entscheidet sich für die Verknappung, legt Spuren aus, setzt auf Miniaturen, Andeutungen und die Beschreibung kleiner Szenen. Ein unbedingt lesenswertes Buch!
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