Die Wachhunde von London
Mit „Atom“ gelingt Steffen Kopetzky ein außerordentlich spannender Roman über eine Zeit, in der die Weichen für unsere Gegenwart gestellt wurden
Von Dietmar Jacobsen
Als ihn der britische Auslandsgeheimdienst MI 6 anwirbt, ist er gerade einmal 21 Jahre alt und studiert in Bristol Ingenieurwissenschaften. Als zentraler Verbindungsspieler zwischen Verteidigung und Sturm der Rugby-Mannschaft seiner Universität ist Simon Batley, „ein mittelgroßer junger Mann mit kurzem Scheitel und sonnengebräuntem Teint“, den sich immer auf der Suche nach geeignetem Agentennachwuchs befindlichen Diensten aufgefallen. Denn offensichtlich scheint er über ausgezeichnete Fachkenntnisse in den Naturwissenschaften, ein ausgeprägtes strategisches Denkvermögen und große Sprachgewandtheit zu verfügen. Kurz gesagt: Er ist der geborene Anführer.
Bereits ein Jahr später, 1927, studiert er mit einem Auslandsstipendium bei Albert Einstein in Berlin Physik – und begründet seinen Ruf als eine „Berühmtheit innerhalb des Dienstes“, als er bei einer legendären geheimdienstlichen Operation einen Hauptpart übernimmt. Allein dass als Folge dieser Aktion nicht nur einer seiner besten Freunde stirbt, sondern Simon zunächst auch die Verbindung zu der Frau verliert, die die Liebe seines Lebens ist, wird für ihn lange Zeit zu einer seelischen Belastung.
In Steffen Kopetzkys (Jahrgang 1971) neuem Roman Atom erfährt man zunächst nichts über die Hintergründe dieses Traumas der Hauptperson. Sie stellen aber offensichtlich den Grund dar, warum sich der Geheimdienst 1939 wieder an Batley – der ist inzwischen als Lehrer an einer Internatsschule tätig – wendet und ihn vom Fleck weg in eine Abteilung holt, die sich mit dem Auskundschaften des deutschen Raketenprogramms beschäftigt. Der in Dresden promovierte Physiker, der zehn Jahre in Deutschland gelebt hat und in dieser Zeit einer ganzen Reihe jener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begegnet ist, die sich vorgenommen hatten, das, was ihre Lieblingsautoren von Jules Verne über H. G. Wells bis zu Kurd Laßwitz in ihren Romanen visionär voraussahen, in die Realität umzusetzen, scheint der auch fachlich richtige Mann zu sein für die anstehenden Aufgaben.
Und so wird Simon Batley zu einem jener „Wachhunde“, deren Aufgabe nicht nur darin besteht, britische Spionage und Gegenspionage mit ihrem technisch-physikalischen Wissen zu unterstützen, sondern auch alle eingehenden Informationen über neue Waffensysteme des Feindes dahingehend zu prüfen, welche potentiellen Gefahren für die nahe Zukunft sich hinter diesen Innovationen verbergen und wie man ihnen am besten begegnen könnte. Mit dem Einsatz der „Vergeltungswaffen“ V1 und V2 durch die Nazis, von deren Propagandaapparat als „Wunderwaffen“ apostrophiert, ab dem Frühjahr 1944 ergibt sich schließlich noch eine ganz andere Dringlichkeit für die Briten: Im sich langsam abzeichnenden Rennen der Supermächte USA und Sowjetunion um die Frage, wer in Zukunft am meisten von einer deutschen Niederlage profitieren könnte – technologisch wie personell – will die einstige Weltmacht nicht abgehängt werden.
Atom gelingt es durch seine raffinierte Mischung von genau recherchierter Historie und in diese eingebettetem fiktiven Plot, seine Leserinnen und Leser mitzunehmen in eine Zeit, in der die politischen Weichen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gestellt wurden. Damit ist der Roman mehr als nur ein Stück Wissenschaftsgeschichte, das zu seiner Zeit relativ geheim bleiben musste. Denn zum einen wollte Nazideutschland den Vorsprung, den es in der Raketentechnik gegenüber anderen Staaten hatte, nicht aus der Hand geben.
Und zum anderen stellte sich natürlich spätestens mit der sich immer deutlicher abzeichnenden deutschen Niederlage nach der gescheiterten Ardennenoffensive im Winter 1944/45 die Frage, welche der kommenden Siegermächte sich den in den deutschen Laboren gemachten technologischen Fortschritt samt den daran beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für die eigene Seite.
Dass man sich da, wo es um Dinge geht, die das Potential besitzen, das Kräfteverhältnis in der Welt zugunsten einer Partei zu verändern, eine Machtkonzentration zu erreichen, der potentielle künftige Gegner nichts entgegenzusetzen haben, auch auf dem Terrain der Geheimdienste befindet, nimmt nicht Wunder. Und damit mitten im Spiel von Intrigen, Spionage und Gegenspionage, Agenten und Doppelagenten, Aushorchen, Verschleiern und Fintieren, welches Steffen Kopetzkys Roman unterm Strich so spannend macht – ohne je auszublenden, dass die „Herrschaft des Atoms“, die, wie es auf den letzten Seiten des Buches heißt, mit dem Wettstreit der Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkriegs um eine alles zerstörende Waffe beginnt, bis in unsere Gegenwart fortdauert.
Kopetzky rüstet seinen Helden Simon Batley für diese Schlacht nicht nur mit dem wissenschaftlichen Sachverstand aus, der ihn die drohende Gefahr, die das Zusammenspiel von Atomforschung und Raketentechnik für die Zukunft der Welt bedeutet, von Beginn an begreifen lässt. Er setzt ihn auch mitten hinein in ein Feld von Akteuren, die sich, obwohl man sich aus den gemeinsamen Berliner Studientagen gut kennt, ja einst sogar miteinander befreundet war, im Konflikt um die Bombe plötzlich auf unterschiedlichen Seiten wiederfinden.
In der intensiven Beziehung seiner zentralen Figur zu der deutschen Physikerin Hedwig von Treyden, der Liebe seines Lebens, unterstreicht der Roman den engen Zusammenhang von Privatem und Politischem und die sich aus der Notwendigkeit der Entscheidung, entweder seinem persönlichem Glück oder seinem Gewissen zu folgen, entstehende Tragik. Nach sorglos-glücklichen gemeinsamen Studententagen macht ihr weiteres Schicksal aus den beiden jungen Menschen „zwei Planeten […], die den größtmöglichen Abstand zueinander eingenommen hatten“. Hedi arbeitet für das deutsche Raketenprogramm, Simon für den britischen Geheimdienst. Erst in den letzten Kriegstagen finden die beiden wieder zueinander. Aber auch jetzt ist ihnen kein Happy End vergönnt.
Zum großen Gegenspieler des zentralen Helden aber avanciert in Atom ein Mann, über den Kopetzky im Nachwort schreibt, „trotz meiner langjährigen Beschäftigung mit der Naziherrschaft [von ihm] noch nie gehört“ zu haben. Bei dem auf Betreiben seiner Frau 1948 für tot erklärten früheren Bauingenieur Hans Kammler, im Dritten Reich aufgestiegen zum SS-Obergruppenführer, lag nicht nur die Verantwortung für alle KZ-Lager-Bauvorhaben und den Ausbau unterirdischer Produktionsstätten für Düsentriebwerke, Motoren und Raketen. Er befehligte ab August 1944 auch den Einsatz sämtlicher V2-Raketen gegen Ziele in Westeuropa und Großbritannien. Er war der Mann, auf den es ankam. Der über das Wissen und Know-how verfügte, hinter dem die Siegermächte nach der deutschen Niederlage her waren. Und der durchaus Bescheid wusste, wie wertvoll er damit für diejenigen war, die sich noch während der letzten Tage, Wochen und Monate der Naziherrschaft auf die Konflikte der Zukunft vorbereiteten. Auf Kammlers Spuren gelangt Simon Batley deshalb in den letzten Kriegsmonaten 1945 über Göttingen, das sogenannte „Mittelwerk“ bei Nordhausen in Thüringen und das bayerische Oberammergau bis nach Pilsen und Prag, wo Kopetzky seinen Roman mit einem großen Knall enden lässt.
Zu dessen ganz besonderen Reizen zählen übrigens auch die in die Handlung eingelassenen kleinen Porträts historischer Personen. Ob Winston Churchill mit „Siren Suit“ und „gediegene[r] Cognacfahne“ in seinem Londoner „War-Room-Bunker“, Jona von Ustinov, Vater des später so berühmten Schauspielers Peter Ustinov, oder Wernher von Braun – „ein Student von beinahe merkurischer Intelligenz“ –, Kopetzky versteht es, ihnen allen mit wenigen Worten Individualität zu verleihen. Dass sein Hausheiliger Thomas Pynchon – für Kopetzky ist der Autor von Gravitys Rainbow „Evangelist Johannes und Homer in einer Person“, wie er kürzlich in einem Gespräch auf der Internet-Seite des Rowohlt Verlags bekannte – in gewisser Weise verantwortlich zeichnet für die parabelhafte Handlungsführung von Atom, James Joyces ohnehin schon verschlüsselt genug daherkommender Roman Finnegans Wake mit seiner „kalauernde(n) Sprachmusik“ Simon Batley zur Entschlüsselung geheimer Nachrichten dient und Shakespeare-Zitate zu Scully Hamilton, Simons Führungsoffizier beim MI 6, gehören wie der Stock, an dem er seit seinem letzten Einsatz geht, zeigt nicht zuletzt, wie vertraut die Literatur des Landes, in dem sein Roman zum größten Teil spielt, dem Autor ist.
Den letzten Auftritt freilich gönnt Steffen Kopetzky einem der ganz Großen aus der Welt der Agenten und Spione, dem James-Bond-Erfinder Ian Fleming nämlich, der in seinem Leben den Bogen von der Geheimdienstarbeit zur Schriftstellerei geschlagen hat. Ihn, der in der Nachkriegszeit mit seiner Frau als Fotografin für die Sunday Times auf dem europäischen Kontinent unterwegs ist, schickt der Roman in seinem Epilog ins italienische Dolceacqua, wohin sich Batley nach dem Krieg als einfacher Dorfschullehrer zurückgezogen hat, um ihn ein weiteres Mal für den britischen Geheimdienst anzuheuern. Nach Berlin wollen die Herren in London ihn schicken, um die Identität eines Doppelagenten – dahinter steht der Fall des im Januar 1963 in die UdSSR geflohenen britischen Agenten Kim Philby – herauszufinden. Und man hat ein Lockmittel in der Hinterhand, dem Simon Batley beim besten Willen nicht zu widerstehen vermag.
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