Das Projekt der Welterleichterung

Joseph Vogl macht sich in seinem neuesten Essay „Meteor. Versuch über das Schwebende“ Gedanken über das Leicht-Werden, das Flüchtige und das Verirren in unseren Weltwahrnehmungen

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir haben Joseph Vogl zuletzt vor allem als einen entschiedenen Kritiker des Finanzmarktkapitalismus erlebt, ausgewiesen durch Publikationen wie Das Gespenst des Kapitals (2010), Der Souveränitätseffekt (2015) und schließlich Kapital und Ressentiment (2021). In Kapital und Ressentiment greift er das verbündete Finanz- und Informationskapital an, die im Internet eine „Bewirtschaftung von Ressentiments“ machtvoll betreiben mit dem Ergebnis einer „Feindseligkeit aller gegen alle“ nicht nur als ein erfolgreiches Geschäftsmodell, sondern auch als ein von Algorithmen gesteuertes, offenbar zukunftsfähiges Gemeinschaftsgefühl.

Mit dem vorliegenden Essay zeigt sich der Autor als Experte in der Poetologie des Wissens. Er nimmt uns mit bei seinen Lektüren, in deren Zentrum vor allem Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und Franz Kafkas Das Schloss stehen, um über das Schwebende in einem handlichen Band, der bei aller favorisierten und thematisierten Leichtigkeit und Schwerelosigkeit einiges an intellektuellem Gewicht mitbringt. Es ist auch nicht so, dass wir bei den beiden genannten Romanen zuerst oder überhaupt an genau die erwähnten Aspekte denken würden. Umso verblüffender, wie uns Vogl unerwartete Perspektiven eröffnet.

Um es auf einen Punkt zu bringen: Vogl liest aus unseren sich naturwissenschaftlich verändernden Weltverhältnissen unsere darin sichtbar werdenden Wahrnehmungs- und Bewusstseinsweisen als Horizonterweiterungen. Was heißt das? Vor allem heißt es, dass das Denken immer wieder aus seinen Verankerungen gelöst wurde, um mit dem Blick ins Meteorologische, mit dem Blick in den Himmel und in die Wolken und schließlich mit dem Blick in das Universum und ebenso ins Nichts, in die Leere gleichsam ein buchstäbliches Freiwerden zu beobachten. Es ging darum, das Gewicht der Welt, zum Schweben zu bringen. Wie dies geschah, ist bei Vogl auf hohem poetischem Reflexionsgrad nachzulesen.

Robert Musil betritt bei Vogl die Bühne als ein Meister der „Schwebeakrobatik“. Das beginnt mit dem berühmten Wetterbericht zu Beginn des Romans, diesen Phänomenen des Übergangs und des „Dazwischenliegenden“, und es setzt sich fort in zentralen Figuren. Letztere würden sich an ein „Jenseits des Triebprinzips“ herantasten:

Dieses Vorhaben ist vom Vorsatz geprägt, Triebbegriffen und ihren Verwandten nicht die Auslegung des Lebens zu überlassen und die nicht appetithaften, d.h. schüchternen, weniger energischen, zaudernden, unschlüssigen und irgendwie ‚kontemplativen‘ Anteile im Gefühlsleben zu einem Angelpunkt für die theoretische, aber auch ethische und ethologischen Dimensionen des Romans aufzuwerten.

Damit widersprach Musil dem Psychoanalytiker Freud, der für bedeutend hielt, was die Triebe agitiere. Denn bei Musil geht es um das Gegenteil, um „die weltverändernde Tendenz des Trieblosen“. Was nichts anderes bedeute: „das allgemeine, stimmungsmäßige, selbstlose, asoziale Verhalten verändert.“

An manchen Stellen geht Vogl weit zurück in die Geistesgeschichte – so etwa zu Epikur und Lukrez, in deren Lehren er das Projekt der Welterleichterung bereits vorformuliert findet. Bei ihnen habe die Erde an Gewicht und Schwere verloren, weil sie dort vereint mit der Luft und dem Himmel gedacht worden ist. Darin eingeschlossen die „Entzauberung des Firmaments“:

Der Raum zwischen Himmel und Erde […] wurde zum Kosmos entgrenzt, der nun kein ‚Äußerstes‘ […] weder Maß noch Schranke kennt und wo sich alles ‚in beständiger Bewegung‘ rührt und regt.

Hinzu kam das Flüchtige der Wolken, als das Schwebende schlechthin. Man verglich schließlich das Denken mit Wolken, wo nichts notwendigerweise begrenzt und abschließbar sein müsse. Offensichtlich, wie sich hier wissenschaftliche und literarische Erkenntnisprozesse überlagern, vermischen:

Das Schwebende der Wolke verfügt ein Verfahren, das festen Grund und Boden systematisch misstraut. Zusammen mit dem Erfahrungswirklichen steht hier auch ein ‚Wissenschaftswirkliches‘ auf dem Spiel.

Mit Kafkas Schloss scheint jedoch all die Bewegung, die vorher so prägend war in und für die Beobachtungen und die das Denken ins Horizontlose öffnete, diese Bewegung scheint nun mit der Ankunft des Landvermessers K. in jenem Dorf mit seinem ominösen Schloss in Stillstand zu münden, während die Wege wiederum endlos scheinen wie ihre Verzweigungen. Vogl verweist darauf, dass sich schon Kafkas frühe Texte wie Wegweiser für das Verirren lesen lassen. Und dass der Schlossberg eher als eine manifeste Leere erscheint, kann hier nur ins Konzept der Verirrung passen. Dieses Schloss sei eine „konsequente Verwirrung von Anschauung, Bild und Begriff“ – und so gesehen gehe von ihm vor allem ein „Sog der Derealisierung“ aus.

Vogls Schlussfolgerung ist ein Argument für das Offensein für ein anderes Mögliches:

Das Schwebende wäre demnach nicht nur ein Paradigma des Paradigmatischen, sondern […] das Emblem einer Welt, in der festgestellte Tatsache vom Schatten ihrer Interpretationen heimgesucht werden und die verwirklichten Ereignisse sich um den Saum ihrer uneingelösten Möglichkeiten verdoppeln.

Den Essay, der aus Vogls Abschiedsvorlesung vom Sommer 2023 hervorging, eröffnet der Autor mit dem Hinweis, Italo Calvino sei 1985, kurz vor seinem Tod, eingeladen gewesen zu Vorlesungen an der Harvard University, die mit dem Thema Leichtigkeit beginnen sollten, um sich „dem Gegensatz zwischen Gravitation und Levitation [zu] widmen, dem Angriff auf die Trägheit der Welt, dem Besinnen auf das eigene Schreiben und der Absicht, den Figuren, den Himmelskörpern oder Städten, der Erzählweise und der Sprache selbst Gewicht und Schwere zu nehmen“. Woraus allerdings nichts wurde. Vogl hat nun, wenn wir so wollen, auf seine Weise das Nicht-Zustande-Gekommene nachgeholt. Ein unbedingt lohnendes Unterfangen.

Titelbild

Joseph Vogl: Meteor. Versuch über das Schwebende.
Verlag C.H.Beck, München 2025.
144 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783406829246

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