Zwischen Kindheit und Verantwortung

In „Die erste halbe Stunde im Paradies“ erzählt Janine Adomeit eine bewegende Familiengeschichte

Von Lena Kiara GojevicRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lena Kiara Gojevic

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Krankheit, Familie, Liebe und Vergebung – eine bewegende Reise durch die prägenden Ereignisse der Vergangenheit, gewürzt mit einem Hauch von Humor. Das charakterisiert Die erste halbe Stunde im Paradies, den zweiten Roman von Janine Adomeit, deren Erstling Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen (2021) mit dem Preis „Debüt des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Das neue Werk erzählt auf rund 270 Seiten aus der Perspektive von Anne die Geschichte der Halbgeschwister Anne und Kai, die in ihrer Kindheit ihre kranke Mutter gepflegt haben – eine Erfahrung, die sie auf ganz unterschiedliche Weise geprägt hat.

Als bei ihrer Mutter Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, übernahmen die gerade einmal zehnjährige Anne und der 17-jährige Kai die Pflege ihrer Mutter. Multiple Sklerose ist eine chronische, schubweise verlaufende Erkrankung des Zentralnervensystems, welche aufgrund der Vielfalt der Symptome auch als Krankheit der tausend Gesichter bekannt ist. Lähmungen, verschwommenes Sehen, Gehstörungen und Erschöpfbarkeit sind nur einige der typischen Symptome, die sich schleichend ausbreiten und zunehmend verstärken. Aus Angst, die eigenen Kinder zu verlieren, möchte die erkrankte Mutter keine Hilfe von außen holen lassen. Dadurch liegt die Verantwortung nach und nach mehr auf dem Geschwisterpaar, während Annes wahre Gedanken und Gefühle gegenüber der Pflege ihrer Mutter in den Hintergrund geraten, weil sie die Mutter nicht belasten will: „Doch es ergab keinen Sinn, ihr das zu sagen, meine Gefühle waren angesichts ihrer Krankheit und ihrer Einschränkungen klein und unwichtig.“

Durch die Einführung zweier wechselnder Zeitebenen zeigt der Roman die Auswirkungen der Vergangenheit auf das Erwachsenenleben des Geschwisterpaars Anne und Kai auf, welches unterschiedlicher und ironischer nicht hätte ausfallen können. Während sich Anne zu einer erfolgreichen Pharmareferentin entwickelt hat, bittet ihr Bruder Kai sie, ihn aus einer Drogenentzugsklinik auf Pellworm abzuholen. Doch es geht noch einen Hauch ironischer: Anne soll für ihr Unternehmen einen Vortrag über opioidbasierte Schmerzbehandlung halten, der die damit verbundenen möglichen Auswirkungen verheimlichen soll, während ihr Bruder Kai zuvor an einer Fentanylsucht erkrankte.  Seit Jahren haben die beiden Geschwister sich aufgrund vergangener Ereignisse nicht mehr gesehen und nun holt Anne ihren Bruder aus der Entzugsklinik ab. 

Durch eine einfache und zugleich tiefgründige Sprache gelingt es Adomeit, den emotionalen Kern der Geschichte greifbar zu machen. Besonders in dem Moment, in dem Anne über die Bedeutung von Freiheit nachdenkt, ausgelöst durch den Streit mit ihrem Bruder Kai, der seine eigene Freiheit über die Pflege der Mutter stellte, wird die emotionale Vielschichtigkeit spürbar: „Es hätte ja im Umkehrschluss bedeutet, dass wir nicht frei waren, solange unsere Mutter uns brauchte.“

Das Verstecken der eigenen Gefühle ist bei Anne aufgrund ihrer Kindheit zum Normalfall geworden. Die erfolgreiche Pharmareferentin trägt in ihrem Unternehmen den Spitznamen „Schneekönigin“. Denn sie gilt als still und kalt. Anne selbst beschreibt „[…] die erste halbe Stunde im Paradies –  [als] die Zeitspanne, in der niemand etwas von einem will oder braucht und […] daher nichts wehtun kann […]“. 

Durch den steten Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit gewährt die Erzählung tiefe Einblicke in die Motive der Figuren. Humorvolle Passagen, wie die, in der Anne mit ihrem Bruder unterwegs ist, mildern die emotionale Intensität der Thematik und verleihen dem Werk eine zusätzliche Leichtigkeit: „Er sollte sich, sobald er in seinem Wohnheim angekommen ist, rasch wieder einen Therapeuten suchen, denen bluten so schnell nicht die Ohren.“

 

Aufgrund der gewählten Ich-Perspektive der Figur Anne werden die Gedanken und Gefühle der Figur Kai nur knapp thematisiert. Die Erzählungen aus der Vergangenheit liefern zwar Einblicke in die Handlungen, jedoch erfolgt dies ausschließlich durch die subjektive Wahrnehmung und Gedankenwelt der Figur Anne. Lediglich die Erzählungen aus der Gegenwart ermöglichen einen kurzen Zugang zu den Beweggründen seiner vergangenen Handlungen, welche jedoch ebenfalls durch die Ich-Perspektive von Anne erzählt werden. Kais Gedanken aus den Rückblenden seiner Vergangenheit bleiben jedoch außen vor, wodurch eine Identifikation erschwert wird.

Ob dieser Umstand möglicherweise mit der traditionellen Vorstellung zusammenhängt, dass Weiblichkeit oft mit Care-Arbeiten verbunden wird, bleibt umstritten. Kai wird im Verlauf des Romans achtzehn Jahre alt und beginnt, neben der Schule zu arbeiten, um die Familie finanziell zu entlasten. Dadurch fällt die körperliche Pflege der Mutter hauptsächlich der zehnjährigen Anne zu.

Nichtsdestotrotz hätte es auch zu einer Vertauschung der Rollen kommen können, sodass am Ende Kai die Care-Aufgaben übernommen hätte und Anne arbeiten gegangen wäre, um die Familie finanziell zu unterstützen. Die geschlechtsspezifische Frage der Aufgaben und Erwartungen bleibt demnach offen.

Die erste halbe Stunde im Paradies von Janine Adomeit ist ein berührender Roman, der die emotionale Schwere durch den Einbau humorvoller Sequenzen erleichtert. Der Roman behandelt wichtige Themen wie Sucht, Vergebung und Familie. Themen, die stets aktuell sind. Jedoch werden nicht alle Motive der Figuren gleichermaßen beleuchtet, wodurch der Roman zuweilen etwas einseitig anmutet und das Thema Care genderspezifisch darstellt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Janine Adomeit: Die erste halbe Stunde im Paradies.
Arche Verlag, Hamburg 2025.
272 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783716000113

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