Akademikerinnen, Girls und jüdische Schicksale

Der von Sandra Beck und Thomas Wortmann herausgegebene Sammelband „Aber es wurde“ bietet neue Interpretationen der Werke Gabriele Tergits

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Abfolge der sechzehn Beiträge des von Sandra Beck und Thomas Wortmann herausgegebenen Bandes zum Werk Gabriele Tergits folgt im Wesentlichen der Chronologie der Publikationen Tergits, die vor allem als Gerichtsreporterin und Literatin tätig war. Dabei geht es den Worten der HerausgeberInnen zufolge darum, „neue Lektüren“ ihrer von der Forschung bereits rezipierten Texte zu erarbeiten oder durch „neue thematische Schwerpunktsetzungen“ innovative Perspektiven einzunehmen. Zudem sollen erstmals diejenigen Texte erschlossen werden, die von der Forschung noch nicht in den Blick genommen wurden.

Zuvor aber widmet sich Sabine Becker dem akademischen Dasein der Autorin und der Situation von Hochschulabsolventinnen in der Weimarer Republik im Allgemeinen. Diese seien dem feministischen „Typus der ‚Neuen Frau’“ zuzuordnen sowie in literarischer Hinsicht der Neuen Sachlichkeit. Tergit selbst habe „vornehmlich die Differenz zwischen Akademiker-Frauen und den modischen Girls [thematisiert]“, die wie Becker unter Anspielung auf einen Roman von Irmgard Keun formuliert, „als Teil der Weimarer Massenkultur kunstseidene Existenzen führten“. Tergit schildere zwar die emanzipatorischen Probleme ihrer berufstätigen Geschlechtsgenossinnen und ihrer akademischen Kolleginnen „nüchtern und stimmig“, ihre „Überlegungen und Urteile über die Girlkultur“ seien allerdings „mitunter nicht frei von Arroganz“.

Einen genaueren Blick wirft Tergit allerdings nur auf ihre akademischen Kolleginnen. Deren prekäre ökonomische Lage, den geringen sozialen Status als bei den Eltern wohnende alleinstehende Frau und ihre unterstellte „Unbeholfenheit“ in „Beziehungsangelegenheiten“ deute Tergit als „unmittelbare Konsequenz des weiblichen Akademikerlebens“. Die supponierte „Geschlechtslosigkeit und Unbedarftheit“ der Akademikerinnen gegenüber Männern seien Tergit zufolge deren akademischer Laufbahn anzulasten. Allerdings spreche Tergit verschiedentlich auch deren „Mehrfachbelastung“ durch „Ehe, familiäre[n] Haushalt, Mutterschaft und Beruf“ an. Dass dies in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Tergits Befund steht, Akademikerinnen seien (in der Regel) alleinstehend, thematisiert Becker nicht weiter. Zu pauschal ist auch ihre Feststellung, dass sich „Vertreterinnen der älteren Frauenbewegung in der Weimarer Republik […] weitgehend auf konservative Positionen zurückzogen“. Frauenrechtlerinnen des sogenannten gemäßigten Flügels der ersten Frauenbewegung wie etwa Gertrud Bäumer  vertraten auch zuvor schon eine Reihe konservativer Positionen. Andere wie Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann oder Helene Stöcker  nahmen in der Weimarer Republik hingegen keineswegs von ihren früheren radikalen Positionen Abstand. Gerade letztere setzte sich mit der von ihr propagierten Neuen Ethik für die „Unabhängigkeit der Frau von Familie und Ehe, Eltern und Männern“ ein. Dass das Verhältnis zwischen Müttern, die sich zur Zeit des Kaiserreich für Frauenrechte engagierten und ihren Töchtern allerdings durchaus spannungsreich sein konnte, hat Gabriele Reuter in Töchter. Roman zweier Generationen (1927) literarisiert.

Die ersten der den Werken Tergits gewidmeten Beiträge befassen sich mit den Gerichtsreportagen der Journalistin. Irmtraud Hnilica beleuchtet etwa das von Tergit dort angewandte literarische Verfahren und beleuchtet es auf instruktive Weise vor dem Hintergrund des im 18. und 19. Jahrhundert populären Mediums der Bilderbögen. Tergit selbst bezeichnete drei ihrer Gerichtsreportagen als „Moabiter Bilderbögen“. Außerdem erwähnt Hnilica Tergits wiederholte Bezugnahmen auf die „Gretchentragödie“ in ihren Berichten über Prozesse wegen Verstoßes gegen das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs oder gegen Mütter, denen vorgeworfen wurde, ihr Kind getötet zu haben. Erhellender aber ist, wie die Autorin herausarbeitet, dass Tergit „die Möglichkeiten der Literatur in ein Konkurrenzverhältnis mit denen des Rechts treten [lässt]“ und zeigt, wie jene „Wahrheiten generiert, die dem juridischen Diskurs unverfügbar bleiben“.

Julia Blanck fokussiert sich ganz auf Tergits Reportagen über Verfahren wegen Verstoßes gegen den §218 und befindet, es sei „natürlich anzumerken, dass nicht nur Frauen schwanger werden können“. Auch bezeichnet sie Menschen, die gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen eintreten, als „Abtreibungsbefürworter*innen“. Mit dieser pejorativen Bezeichnung insinuiert sie, GegnerInnen des § 218 würden sich dafür einsetzen, dass werdende Mütter ihre Schwangerschaft abbrechen.

Lesenswerter ist der Beitrag von Claudia Liebrand. Sie geht „Genremuster und Referenztexte[n] in Gabriele Tergits Gerichtsreportagen“ nach und macht auf zahlreiche intertextuelle Bezugnahmen aufmerksam, die von Giovanni Boccaccios Decameron (um 1350) über William Shakespeares Richard III. (um 1593) und Johann Wolfgang Goethes Wahlverwandtschaften (1809)bis zu Arthur Conan Doyles The Devil’s Foot (1910) reichen.

Lutz Ellrich nimmt hingegen das „Rechtsverständnis in der Weimarer Republik und bei Gabriele Tergit“ unter den Aspekten „Klassenjustiz und Richterrecht“ in den Blick. Tergit zeige in ihren Reportagen „unermüdlich“, dass der Verlauf von Gerichtsverfahren und die gegen die Angeklagten verhängten Urteile zwar „ganz erheblich mit der sozialen Lage“ der DelinquentInnen zusammenhängen; die „Einstellungen und Entscheidungen der (ausschließlich männlichen) Richter“ jedoch keineswegs „auf einen ‚simplen Klassenstandpunkt’ zu reduzieren“ sind. Bei „aller prononcierten Skizzierung eigentümlicher Individuen“ sei es der Reporterin dabei stets gelungen, „das Typische der vor Gericht gestellten TäterInnen zu erfassen“. Eine „genauere[] Beschreibung typischer Richter“ habe sie hingegen weit weniger interessiert. Ellrich analysiert die Berichterstattungen der Gerichtsreporterin allerdings nicht nur, sondern bringt auch einige „Einwände gegen Tergits Reportagen-Konzept“ vor. So kritisiert er unter Bezugnahme auf  Daniel Siemens Studie Metropole und Verbrechen  (2007) „die Stoßrichtung und den ‚Sound’“ von Tergits Reportagen. Zudem werde in ihnen „die soziale Differenz zu den Angeklagten, die meist aus dem Proletariat stammten, nicht überw[u]nden“.

Nicht den Gerichtsreprotagen, sondern den „Konstellationen von Alkohol und Nüchternheit in Tergits Prosa der 1920er und 1930er“ wendet sich Vanessa Höving zu, die in Tergits einschlägigen Texten „Soziotopographien urbaner Trinkkultur“ ausmacht.

Moritz Strohschneider wiederum begibt sich auf die Spuren der Neuen Frau und den „Grenzen der Emanzipation“ in Tergits erstem Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1932), in dem er einen „wichtige[n] Beitrag zum Bild der ‚Neuen Frau’ in der späten Weimarer Republik“ ausmacht, da Tergits Romandebut die „neue[] weibliche[] Selbständigkeit […] positiv beschreibt“, diese zugleich aber  auch „problematisiert“.

Sandra Beck ist die erste von drei AutorInnen, die sich mit dem Roman Effingers (1951), Tergits opus magnum, zuwenden. Sie moniert, dass die „Lektüreempfehlungen“ der meisten Rezensionen des umfangreichen Werks ausblenden, wie „konsequent“ der Roman eine „Kulturgeschichte des Antisemitismus“ in das bereits von Gustav Freitag und Thomas Mann bearbeiteten Genres des „Familien- und Generationenromans […] einträgt“. Denn „an die Stelle der einen Kontrastfamilie“ in Freytags Soll und Haben (1855) und Manns Buddenbrooks (1900) „setzt“ Tergits Romans „die jeweils zeittypische Fassung von Antisemitismus“.

Das stimmt insofern mit Ulrike Vedders Befund ein, als Effingers ihr zufolge auf „Traditionen genealogischen Erzählens“ antwortet, ohne sie schlicht zu wiederholen. Ausgehend von dieser These geht die Autorin Tergits „Strategien der Modernisierung des genealogischen Romans“ nach. Hierzu stellt sie nicht nur „literaturgeschichtliche Formüberlegungen“ an, sondern untersucht auch „historiographische und politische Implikationen“.

Julia Bohnengel hat den umfangreichsten Beitrag des vorliegenden Bandes verfasst und fokussiert dabei auf nur einen einzigen dreißigseitigen Abschnitt der Effingers. Es sind dies die fünf kurzen Kapitel, in denen die Protagonistin Lotte in Heidelberg studiert. Bohnengel bestimmt die Universitätsstadt des Romans als „Ort der Liminalität bzw. der Heterotopie“ und plausibilisiert zugleich sehr überzeugend ihre These, dass die „Heidelberg-Kapitel […] von der eminenten Bedeutung des Aufenthalts für den Roman und die lebensgeschichtliche und schriftstellerische Entwicklung Tergits [zeugen]“. Mit ihrem akribischen close reading dieser kurzen Episode bietet die Autorin einen der innovativsten und erhellenden Beiträge des an instruktiven Aufsätzen nicht eben armen Bandes. Eine von ihr beiläufig erwähnte Schriftstellerkollegin Tergits hieß allerdings nicht Franziska von Reventlow sondern zu Reventlow.

Sabine Kyora verortet die „Autorschaftsentwürfe“ Gabriele Tergits „zwischen Neuer Sachlichkeit und Nachkriegsliteratur“, wobei sie unter den Begriff Autorschaftsentwurf sowohl „Formen von Autorschaftsinszenierung“ wie auch „Praktiken von Autorschaft“ fasst. Werde der Autorschaftsentwurf der Journalistin schon zu Beginn ihrer Autobiographie deutlich, gehöre derjenige der Literatin einer „spätere[n] Lebensphase“ an. Im Unterschied zu Tergits „Selbstinszenierung als Journalistin“ sei es ihr als Romanautorin „von vorneherein um eine politisch-moralische Begründung von Autorschaft [gegangen]“.

Mitherausgeber Thomas Wortmann beklagt anschließend die (weitgehende) Absenz von Sekundärliteratur zu Tergits Erinnerungen. Etwas Seltenes überhaupt (1983) und unternimmt es, diese Forschungslücke ein wenig zu schließen, indem er sich Tergits Beschreibung ihrer Memoiren als „Tadsch Mahal“ zuwendet.

Das von den HerausgeberInnen anvisierte Ziel des Bandes, einen „grundlegenden Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung“ von Tergits Leben, ihrem Werk und der (postumen) Rezeption vorzulegen, wurde mit Bravour erreicht, denn fast alle Beiträge des Bandes sind in vielerlei Hinsicht für weitere Forschungen entschlussfähig.

Titelbild

Sandra Beck / Thomas Wortmann (Hg.): ‚Aber es wurde‘. Zu Leben, Werk und Wiederentdeckung von Gabriele Tergit.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
386 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835356917

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