Raben besingen die Seele

Anna Zepnicks literarisches Debüt „rabensingen“ und ihr Hörbuch „und singt ewige Lieder“ bieten eine gemeinsame Meditation

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Raben krächzen. Raben kommunizieren strategisch miteinander, seit Jahrzehnten wird ihre Kommunikation erforscht. Aber singen Raben auch? Anna Zepnicks Gedichtband trägt den Titel rabensingen – es ist ihr literarisches Debüt. Vögel spielen darin eine zentrale Rolle, sie tauchen auf, schweben über dem Geschehen, sind nicht immer sichtbar, aber immer anwesend. Kohlmeisen trillern. Einer Taube wird salutiert. Reiher kreuzen in der Luft. Vögel fliegen Bilder in der Dämmerung. Und ein Rabe beobachtet das lyrische Ich mit aufmerksamem Blick und nickt. Was er wohl über Menschen denkt?

In Anna Zepnicks Gedichtband suchen Raben die Nähe des Menschen, setzen sich auf deren Schultern und singen. Es erhebt sich gar ein „rabensopran“ in den Versen. Das Singen in diesen Gedichten ist im besten Eichendorffschen Sinne ein Sich-Aufschwingen, ein Flug der Seele. Es wird in den Rang einer symbolischen Handlung erhoben, als ein Zeichen der Einheit von Mensch und Natur. Indem Raben diese Fähigkeit zugeschrieben wird, erhalten sie zugleich eine Kraft der Verführung. So brechen Zepnicks Gedichte mit Erwartungen. Sustentio – wie an etlichen Stellen des Buches. Zepnick bricht mit der Sehnsucht nach dem Meer, der grenzenlosen, romantischen Weite: „ich fürchte mich vor der entgrenzung“. Stattdessen belauscht das lyrische Ich die Zeit, achtet auf die Geräusche des Frühlings oder auf  das Summen der Bienen im Sommer und badet im Fluss: „und wenn ich jetzt losließe/ flösse ich einfach ins meer“. Zepnick bricht mit der Sehnsucht nach dem Meer, der grenzenlosen, romantischen Weite: „ich fürchte mich vor der entgrenzung“. Stattdessen belauscht das lyrische Ich die Zeit, achtet auf die Geräusche des Frühlings, Vögel und das Summen der Bienen im Sommer. Es badet im Fluss: „und wenn ich jetzt losließe/ flösse ich einfach ins meer“, erkennt es und erschaudert ängstlich. Sogleich wird das Bad abgebrochen: „und dann war es genug/ ich stellte mich ungelenk wieder hin/ wankte barbrüstig zurück“. Es geht um den perfekten Moment im Alltäglichen, bei der Dichterin daheim zwischen Dresden und Pirna, an der Elbe: „hier ist weder rom noch madrid/ nur obervogelgesang“. Zepnicks Gedichte lenken den Blick auf die Kleinigkeiten, die doch so wichtig sind. Auf einer Schaukel „für große“ freut sich das lyrische Ich „wie schön/ da bin ich doch gleich wieder vier“, strahlt „kopf in den nacken“ und genießt das „ewig ewig vor und zurück“ – die Seele ausschaukeln. Pure Lebenskraft, Begegnung mit anderen Menschen, auf der Schaukel direkt am Friedhof. Finden wir die Krähe, die für immer das Nest mit uns teilt? Können wir glücklich sein und bleiben, fragt sich der Leser. Es geht um Betrug, Suche und Liebe, um das Muttersein und Verunsicherung, um das Leben und die Vergänglichkeit.

Die Distanz zwischen lyrischem Ich und Verfasserin scheint in diesen Versen wie im gesamten Buch sehr gering zu sein. So deutete es Anna Zepnick auch in einer Laudatio an, welche sie auf ihre Freundin Manuela Bibrach anlässlich der Verleihung des Klopstock-Förderpreises 2024 hielt. Die in der Laudatio zitierte erste Strophe eines Gedichts, welches Zepnick für Bibrach schrieb, ist im Gedichtband rabensingen mit drei Strophen in Gänze enthalten. Es ist ein Gedicht über zwei Wortakrobatinnen, die viele Stunden zusammen verbringen. Die eine isst, die andere raucht, eine spielt Klavier. Gemeinsam häkeln sie Worte „um das klavier an der wand“. Es ist, als säße der Lesende neben ihnen, bis der Sternenhimmel zu sehen ist.

Die Zeit vergeht, und wem es schwerfällt, einen Sinn im Vorbeiziehenden zu erkennen, während Haare ergrauen und erste Gebrechen festgestellt werden, dem können Anna Zepnicks Gedichte helfen. Sie reduziert Beobachtungen auf das Wesentliche. Mit wenigen Worten schafft sie Nähe und weckt Erinnerungen: an Großeltern und Gemütlichkeit, Erinnerungen an Lachen, gute Zeiten, Freunde, den Geruch nach Kirchkuchen und Waschkessel-Lauge. Fotos gelten als Beweis: Es hat sie gegeben, die familiäre Wärme in der DDR. Doch es wird auch die Rolle der Großeltern im Nationalsozialismus hinterfragt: „hat er im krieg auch/ getötet hast du ihn jemals gefragt“. Der Großvater verlor ein Bein im Krieg. Auf dem jüdischen Friedhof fällt es dem lyrischen Ich schwer, die richtigen Worte zu finden.

Sehr treffend persifliert Zepnick hernach das deutsche Nachkriegs-Spießbürgertum. Sie wagt eine Identitätssuche, welche mit einer Bockwurst im Kurpark einer Kleinstadt beginnt und mit einigen Gedichten später in einer nervösen Stadt mit Dealern endet: „die romantik ist aus“. Sie fragt sich mehrmals, ob sie die Wildheit der großen Stadt noch liebt. Und am Ende dieser Sinnsuche unterstreicht sie: „ich vermisse den kochwäscheduft“ – den Waschkessel und die Großeltern. Am Ende bleibt nur die Musik. „Music is your only friend“, sangen The Doors in ihrem Grenzen auslotenden Epos When The Music’s Over. In Zepnicks gleichnamigen Gedicht herrscht eine ähnlich psychedelische Stimmung, glasige Augen, eine Autofahrt im Vollrausch; „until the end“, schrien The Doors.

Anna Zepnick hat Musik studiert. Sie ist Klavierpädagogin und Yogalehrerin. Vers- und Satzrhythmus ihrer Gedichte schwingen. Sie nehmen Bezug beispielsweise auf Werke von The Doors und des russischen Komponisten Sergej Newski. Die Nähe zur Musik ist offenkundig. Daher scheint es geradezu folgerichtig, dass Anna Zepnick außerdem ein wundervolles Hörbuch geschaffen hat, dessen Titel und singt ewige lieder lautet. Ein Rabe ziert das Cover. Ein singender Rabe? Die Einzelteile des Hörbuchs sind auf der Website der Autorin frei verfügbar. Es ist eine Kombination aus Klavier, Inventionen, Flügelschlagen, Geräuschen und Gedichten. Es werden Gedichte aus dem Lyrikband rabensingen vorgetragen, die Verse gehen in improvisierte Klavierklänge, Klaviermeditationen und sich wiederholende Klangfarben über. Wort und Musik vereinen sich. Und wenn sich die Klaviertöne nach dem letzten Gedicht im wald entfernen, allmählich verklingen und sich die Stille im Raum ausbreitet, bedauert der Hörer das Ende seiner Gedankenreise. Nur langsam findet er wieder zurück in die Gegenwart und atmet tief durch. Jenes Hörbuch ist außergewöhnlich, weil es eine gemeinsame Meditation ist. Es stellt eine tiefe Verbindung zwischen dem Hörer, dem Gesagten und Zepnick am Klavier her. Das Innen und das Außen verschmelzen in einer lyrisch-musikalischen Stimmung. Diese Erfahrung ist wiederholbar. Sie kann jederzeit neu gestartet werden und scheint die Zeit damit überlisten zu wollen.

Damit befindet sich der Lesende wieder bei Joseph von Eichendorff und seinem eingangs betonten Bild des singenden Aufschwungs der Seele. Die Wirkungsmacht der Gedichte von Anna Zepnick ist groß.

Titelbild

Anna Zepnick: rabensingen. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2024.
120 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305284

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