Leben und Wirken des armen B.

Zur ersten Biografie über den Dichter Rolf Dieter Brinkmann und eine Neuedition seines Gedichtbands „Westwärts 1&2“

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Periodisch gefeiert, kaum je intensiv gelesen; kultisch verehrt, aber doch nur aus Interesse an der skandalösen Person; zum Klassiker erhoben, aber beim Lesen schon nach wenigen Seiten aufgegeben.“ So fasst das 2020 im J.B. Metzler erschienene Brinkmann-Handbuch die Wirkung des am 23. April 1975 im Alter von 35 verstorbenen Autors Rolf Dieter Brinkmann in einem zugespitzten Satz zusammen. 

Innerhalb der westdeutschen Literatur haftet Brinkmann immer noch das Label des Außenseiters, des Unangemessenen im Literaturbetrieb an. Nicolaus Born, einer seiner wenigen engeren Freunde und Weggenossen, hatte sein Werk als hoffnungslosen Versuch einer Annäherung“ an das literarische Feld bezeichnet.

Wer sich heute näher damit beschäftigen möchte, sieht sich vor zahlreiche editorische Probleme gestellt: Seine Schriften sind – wie das Handbuch schon 2020 mitteilte – noch immer „weder vollständig bekannt noch auch nur annähernd zuverlässig gesammelt“, was sich wohl erst mit dem Erlöschen der Publikationsrechte im Jahr 2045 ändern wird. Sascha Seiler hatte die Tatsache, dass deshalb immer noch die Drucke aus den 80er Jahren kursieren, bereits in seiner Würdigung des Schriftstellers vor fünf Jahren als editorische „Schande“ bezeichnet.

Inzwischen wurde von Gunter Geduldig und Claudia Wehebrink eine sorgfältig zusammengestellte Bibliographie der gedruckt vorliegenden Veröffentlichungen der Werke Brinkmanns vorgelegt, die Universität Vechta veröffentlicht fortlaufend einen Online-Katalog und auch die an der Hochschulbibliothek Vechta angegliederte Archiv- und Dokumentationsstelle Rolf Dieter Brinkmann betreut das literarische Erbe des Schriftstellers – eine kritische Werkausgabe existiert jedoch bis heute nicht.

Der Literaturwissenschaftler Michael Töteberg hat in Zusammenarbeit mit Alexandra Vasa weitere dieser Nachlassmaterialien, die sich in den Literaturarchiven befinden oder die ihnen von Maleen Brinkmann, der Witwe des Dichters, zur Verfügung gestellt worden sind, ausgewertet und eine sehr lesenswerte, fast 400 Seiten umfassende Biografie veröffentlicht, die weit über die im Handbuch bereits vorgestellten Informationen hinausgeht. Zahlreiche neue Quellen und Zeitzeugenberichte sind darin eingeflossen und zeichnen ein anschauliches Porträt dieses in vielerlei Hinsicht kompromisslosen Schriftstellers.  

Typisch für den Umgang mit dem Werk Brinkmanns ist ein Mosaikstück, das im Prolog dieser Biografie nachzulesen ist. In ihm wird geschildert, wie ein engagierter Lehrer vor seinem Deutsch-Leistungskurs schon im Jahr 1983 einen Stapel Papier auspackte, „lauter zerrissene Seiten“, „teilweise mit Maschine getippt, andere mit Tinte sauber abgeschrieben, überwiegend Typoskripte mit handschriftlichen Notizen oder Korrekturen am Rand“. Töteberg und Vasa beschreiben sehr ausführlich die den Schülerinnen und Schülern gestellte Aufgabe, „Ordnung in den chaotischen Haufen zu bringen“. Der Lehrer war ein ehemaliger Mitschüler Brinkmanns in Vechta und in den 1960er Jahren auch sein Wohnungsgenosse in Köln. Wie er an den lange geheim gehaltenen Nachlassbestand gelangt war, bleibt allerdings nach wie vor unklar. Ein Glück für die Forschung ist es jedenfalls, dass der von seinem Leistungskurs vorsortierte Fund im November 2005 an die Universität Vechta verkauft und so der Forschung zur Verfügung gestellt werden konnte. 

Mit ähnlich kuriosen Details können die Biografen auch zu anderen Lebens- und Arbeitsstationen Brinkmanns aufwarten, die durch Aussagen von Förderern des Schriftstellers kenntnisreich belegt werden. Es geht um seine Kindheit und Alltagsituationen in Vechta und Köln, um Einblicke in die Aufenthalte in den USA und in das abgebrochene und missglückte Arbeitsstipendium in der römischen Villa Massimo, um Brinkmanns manchmal manisches Schriftstellertum und um private Sorgen eines Ehemanns und Vaters. Beleuchtet werden aber auch seine Rückzüge und Entfernungen vom Literaturbetrieb und seine Versuche, ein Werk zu begründen, das sich aus vielen medialen Quellen speiste. Nicht zuletzt geht es um sein Bemühen, nach dem ersten Roman Keiner weiß mehr aus dem Jahr 1968 ein zweites großes Prosawerk zu schreiben.

Jetzt bin ich aus
den Träumen raus, die über eine
Kreuzung
wehn. […]
was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?

Wer hat gesagt, dass sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
 

Ein Zitat aus diesen Zeilen des mit der schlichten Bezeichnung Gedicht versehenen Text im posthum veröffentlichten Band Westwärts 1&2, der dem Schriftsteller zu einem neuen Erfolg führen sollte, diente den beiden Biografen als Titel. 

Obwohl sich Brinkmann aus dem offiziellen Literaturbetrieb seit 1970 immer mehr zurückzog, ist er nicht ‚verstummt‘, sondern hat unermüdlich weiter geschrieben. Brinkmann hatte Ende der 60er Jahre noch die Anthologien Silverscreen. Brinkmann hatte Ende der 60er Jahre noch die Anthologien Silverscreen und (zusammen mit Rainer Rygulla) Acid herausgegeben – beides Adaptionen der us-amerikanischen Underground-Literatur – und lieferte noch 1968, also zur Hochzeit der Politisierung in Westdeutschland, mit seinem Gedichtband Piloten das eigene Pendant dazu. Sein Schreiben entsprang einem Unbehagen an der Realität und an sich selbst, was er selbst einmal in einem Brief aus dem Jahr 1974 an seinen Freund Hartmut Schnell als „Drecksrealität“ bezeichnet hat. Dieser Briefwechsel wurde vom Juni 1974, nach der Rückkehr Brinkmanns aus Austin, Texas, bis zum 22. März 1975 geführt, also knapp vier Wochen vor seinem Unfalltod in London. In diesen Briefen geht es – neben einer Bestandsaufnahme seiner lyrischen Tätigkeit – auch um seine Niederschrift des geplanten Gedichtbands Westwärts 1&2, dessen Veröffentlichung er nicht mehr erlebt hat.  

Darin lieferte Brinkmann ein Bild der Stadt Köln, die er als Abbild einer „zerrottete[n] westlichen Ziviehlisation“, als „Schrott“, „Scheißdreck“ und „zum Kotzen“ fand. Dort lebte er mit seiner Frau Marleen und seinem kleinen behinderten Sohn Robert in einer verwahrlosten Mietwohnung, oft ohne Heizung, Strom und Telefon unterhalb des damals üblichen Existenzminimums, der Alltag war von unbezahlten Rechnungen, Mahnungen und Androhungen von Vorbeugehaft bestimmt. 

Gegenüber dem verhassten Westdeutschland und der dort empfundenen Enge setzte er immer wieder Bilder der Weite, orientiert an seinem USA-Aufenthalt, in denen sich seine frühere Beschäftigung mit der amerikanischen Pop-Literatur spiegelte, trotz aller politischer Restriktionen in dem fernen Land. So erklärt sich auch der fast sehnsüchtige Blick „westwärts“, den er für seinen neuen Gedichtband wählte. Brinkmanns inhärente Poetologie war von Reflexionen über die Sprache, Sprachkritik und ein „unkontrolliertes“ Schreiben geprägt, was ihn zum Beispiel mit Peter Handke und mit den Vertretern der Konkreten Poesie verband.  

In seinen Gedichten wandte er sich gegen die Fixierung der Welt in sprachlichen Bildern, was zu seinen Collagierungen und Text-Bild-Montagen in den Aufzeichnungen ab 1970 deutlich hervortritt. Er arbeitete sich ab an der Sprache der Popkultur, den Massenmedien, sowie der Werbung und deren Bildhaftigkeit – die für ihn aus „Killer-Wörter[n] und Killer-Bilder[n]“ bestand: „Veränderung durch Wörter / ist Dichtung“, heißt es in Westwärts 1&2. Sein Gedichtband, der schon kurz nach der Erstpublikation von der Kritik als die bedeutendste Veröffentlichung Brinkmanns angesehen wurde, sei – so Brinkmann in seiner Ankündigung der geplanten Publikation an den damaligen Herausgeber Jürgen Manthey beim Rowohlt Verlag – deshalb ein „subjektives Buch, ohne Rücksicht auf die herrschenden literarischen Konventionen.“ Der Titel sollte beides umfassen: „westwärts“ in Richtung USA (Teil 1) und „westwärts“ in das „traurige alte Europa“ (Teil 2), also eine Kontinent-übergreifende Chronologie und Topographie. Immer wieder kommt Brinkmann darin auf seine Geburtsstadt Vechta und seinen letzten Wohnort Köln zurück und führte seinen literarischen Kampf gegen die von der westdeutschen Gesellschaft unbewältigte Vergangenheit und die als ungesichert empfundene Gegenwart weiter. 

Der nun in einer seit 2005 nochmals erweiterten Fassung herausgegebene Gedichtband Westwärts 1&2 eröffnet ein großes lyrisches Tableau, das Brinkmanns frühe Themen zusammenfasst und den „Endzustand“ unserer westlichen Zivilisation in visionären Bildern beschreiben soll. Der Band ist auch Kennzeichen seiner zunehmenden Angst und seinem Gefühl der Verlassenheit und spiegelt den Zustand der Ich-Auflösung eines Autors wider. 

Der editorischen Notiz ist zu entnehmen, dass in diese Ausgabe viele bereits veröffentlichte Texte aus teilweise entlegenen Quellen übernommen worden sind, aber auch, dass der überwiegende Teil der in den Anhang aufgenommenen Gedichte hier erstmals veröffentlicht wird. Der Verlag kommt damit seiner Verpflichtung nach, der 1975 nur in verstümmelter Form zustande gekommenen Erstveröffentlichung eine vom Autor möglicherweise angedachte Form zu verleihen und dem Lesepublikum einen der wenigen wirklich herausragenden deutschsprachigen Lyrikbände nach 1945 in der bekannten Aufmachung und ausgestattet mit dem ursprünglichen, ergänzenden Bildmaterial zugänglich zu machen.

Titelbild

Michael Töteberg / Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann − eine Biografie.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025.
400 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003920

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe.
Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Mit einem Nachwort von Michale Töteberg.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025.
422 Seiten, 16 ungezählte Seiten , 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783498007744

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