Zwischen Heimatlosigkeit und Hoffnung

Zwei Figuren auf der Suche nach einem Zuhause und Schokobrot-Momenten in Maren Wursters „Hier bleiben können wir auch nicht“

Von Annelie KnaubRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annelie Knaub

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das moderne, urbane Leben hinter sich lassen und aufs Land fliehen – nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes erfüllt sich Gesa ihren Traum. Doch ihr Körper wehrt sich. Geplagt von einem metallischen Geschmack auf der plötzlich pelzigen Zunge sucht Gesa einen Arzt auf und wird mit seiner Frage „Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was Zuhause für Sie bedeutet?“ auf eine Reise in ihre Vergangenheit geschickt.

Seit 2017 veröffentlicht die im Wendland lebende Autorin Maren Wurster Prosa, darunter die Romane Das Fell (2017) und Eine beiläufige Entscheidung (2022) oder zuletzt den autobiografischen Erfahrungsbericht Totenwache. Eine Erfahrung (2022). Als freie Autorin schreibt sie außerdem Essays und Beiträge für Die Zeit. Einfühlsam und in prägnanter Sprache erzählt Wurster in ihrem neuesten Roman Hier bleiben können wir auch nicht die Geschichte von Gesa und Marie – beide sehnsüchtig nach einem selbstbestimmten, erfüllten Leben fernab von der digitalisierten Welt, in der die Menschen über Chips im Körper überwacht werden.

Nicht nur das dystopische Setting, sondern auch die Reaktion der Protagonistin und zugleich Erzählinstanz auf die Bewachung charakterisieren den Roman als Kritik an einer modernen, überdigitalisierten Welt. Gesa möchte fliehen, findet die Kontrollen beängstigend, die Digitalitätsabhängigkeit belastend: „Ich konnte nicht anders, ich hatte einen inneren Widerstand, ein Gefühl, dem ich folgen wollte. Nur wohin?“

Voller Zuversicht zieht Gesa mit ihrer kleinen Tochter Marie weg: raus aus der Stadt, in ein altes, von Efeu überwuchertes Fachwerkhaus. Doch die Hoffnung, in der ländlichen Peripherie ein besseres und naturverbundenes Leben führen zu können, schwindet mit dem Erscheinen von Gesas Vergiftungssymptomen. Während der ergebnislosen Suche nach ihrer Ursache findet das Mutter-Tochter-Paar Zuflucht bei einer esoterischen Kommune, die Gesas Wunsch nach Ursprünglichkeit teilt. Im Zusammenleben mit den Systemverweiger*innen, inmitten von spirituellen Ritualen und langen, ideologisch aufgeladenen Dialogen, versucht Gesa erneut, ein Zuhause für sich und Marie zu finden.

Diese Themenvielfalt – Dystopie und Gesellschaftskritik, alternative Lebensmodelle, die Frage nach Freiheit und Heimat – vereint Wurster in stets unprätentiöser Sprache, lakonischem Ton und ohne dass die Erzählung überladen wirkt. Trotz schnörkellosen Schreibstils ist der Roman – besonders durch die präzisen und lebendigen Umwelt- und Naturbeschreibungen – detailreich und befindet sich dadurch nicht nur thematisch auf einem hohen Niveau. Auf inhaltlicher Ebene sind außerdem spannende, vieldeutige Metaphern zu finden: Beispielsweise stoßen Gesa und Marie bei ihrem Einzug ins neue Haus auf eine tote Krähe. Sie begleitet die beiden durch den gesamten Roman – nicht nur durch ihre Blutspuren im „Krähenzimmer“, sondern auch metaphorisch als schlechtes Omen.

Wenn Gesa im Hier und Jetzt von Erlebnissen oder Worten getriggert wird, erlebt sie Flashbacks und die Erzählung wechselt für einen Moment fließend in die Vergangenheit. Gesa gibt dann Erinnerungen an ihre Mutter, ihren Freund und ihr ehemaliges Leben in der Stadt wieder und obwohl die Sprache im Roman so klar ist, ist inhaltlich vieles nicht eindeutig. Dadurch bleibt der Roman spannend und mancher Aspekt rätselhaft, besonders Gesas Gefühle gegenüber ihrem Mann: „Ich dachte viel an ihn, aber traurig konnte ich nicht sein. Denn ich hatte mir seinen Tod gewünscht.“

Im Mittelpunkt steht immer die enge Mutter-Tochter-Beziehung von Gesa und Marie und ihr Wunsch, gemeinsam ewige Erinnerungen sammeln zu können – egal, ob im Gemüsegarten oder am Badesee. Wenn sie für einen kurzen Augenblick in die Vergangenheit fliehen und sich mit Marie verbunden fühlen möchte, fragt Gesa sie: „Erinnerst du dich an den Moment?“ An den Moment, als Marie ein Schokobrot isst und Gesa fragt, ob sie sich als Erwachsene noch an alles erinnern wird. Und Gesa erklärt: „Nein. Wir wissen jetzt nicht, an was wir uns später erinnern. […] Wir können aber versuchen, uns an diesen Moment, jetzt und hier, für immer zu erinnern.“ Die beiden halten sich an ihre Vereinbarung: Jahre später erinnert sich die jugendliche Marie an diesen Moment und blickt im letzten, deutlich kürzeren Romanteil als neue Erzählerin zurück auf ihr Aufwachsen und ihre Vergangenheit, ähnlich wie es ihre Mutter ihr Leben lang tat.

Maren Wurster hat zwei komplexe und realistische, unperfekte und zugleich liebevolle Protagonistinnen geschaffen, die sich über 256 Seiten hinweg zu Identifikationsfiguren entwickeln und dazu anregen, das persönliche Verständnis eines Zuhauses zu hinterfragen.

Gesa und Marie auf der lesenswerten Suche nach dem Ankommen und in der Hoffnung auf das ‚Hier können wir bleiben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Maren Wurster: Hier bleiben können wir auch nicht. Roman.
Piper Verlag, München 2025.
256 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783827015228

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