Das Schlafzimmer auf der Straße
Warum der private Raum öffentlich geworden ist – und der öffentliche Raum privat
Von Dirk Kaesler
und Stefanie von Wietersheim
Rätsel des Lebens. Warum, um Himmels willen, hat ein Teil der Menschheit das Schlafzimmer in den Zug, das Büro auf die Arztliege und die Toilette ins Telefon verlegt? Was wie die philosophische Kurzgeschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“ des erst kürzlich verstorbenen Schweizer Autors Peter Bichsel klingt, ist Alltag geworden.
Kein Tag, an dem man nicht erlebt, dass die Zugnachbarin am Handy der Freundin die Details ihrer Bikinizonen-Enthaarung beschreibt („Hölle an den Schamlippen!“), dass der Immobilienmanager in der Infusionskabine nebenan eine halbe Stunde lautstark Finanzdeals macht („Wir haben da 25 Millionen reingesteckt und brauchen noch 10, Müller ist rausgefallen, Scheiße“) oder der auf Tuchfühlung sitzende Gast im Berliner Café Einstein fröhlich an beruflichen Videocalls mit den USA teilnimmt – ohne Kopfhörer.
Was man als gezwungen Mitlauschender alles in diesen Situationen lernt! Die Isolation des Einzelnen und die Grenzen der normalen Wahrnehmung fremden Lebens sind dabei aufgehoben. An Faszination, Grusel, Ungläubigkeit ob des Gehörten haben wir uns schon fast so gewöhnt wie an das Duzen in Briefen, die von Telefonanbietern ins Haus flattern. Nachdem Menschen den privaten Raum zu einem halb-öffentlichen oder ganz-öffentlichen gemacht haben, hat sich ein neues Private-Public-Partnership-Universum gebildet, das all seinen Bewohnern aufgedrängt wird. Lautes Telefonieren, Boomboxen und Computerspielen in der Bahn ist bereits seit Jahren das neue Normal geworden – auch wenn eine aussterbende Spezies Mitreisender um Ruhe bittet. Die kabellosen Handy-Kopfhörer haben es zudem nicht besser gemacht, denn manche Telefonierer gehen während des Gesprächs damit auf die Toilette und lassen den Zuhörer an akustischen Wasserstrahl-Aktionen teilnehmen.
Die Frage stellt sich: Warum ist bei so vielen Männern und Frauen eine wahrscheinlich jahrhundertelang gefühlte Schamgrenze gefallen? Die Mauer, die das Intim- und Privatleben vor Augen und Ohren vollkommen Fremder schützte? Klar, natürlich sind die üblichen Verdächtigen schuld: Handy, iPad, Social Media und Video-Apps.
Sich selbst hören, sich zuzuhören, sich mit den Ohren der anderen wahrzunehmen, innezuhalten – dieser menschliche Reflex scheint spätestens nach Ende der Corona-Lockdowns ausgelöscht zu sein. Die Symbiose von Mensch und Maschine macht taub und blind gegenüber den Bedürfnissen anderer Menschen. „Ich bin online, also bin ich“, ist das Motto, koste es, was es wolle. Das Aufdrängen von emotionaler Nacktheit, Geschäftsgeheimnissen und nervtötendem Blabla im eigentlich öffentlichen Raum wird erstaunlicherweise von den meisten Zuhörern akzeptiert, auch wenn sie peinlich berührt sind, in das Leben von Wildfremden gesogen zu werden. „Wo ich bin, ist meine private Zone! Ich bitte das zu respektieren!“
Diese Kolumne soll jedoch kein kulturkritisches Geheule über den Verlust von Manieren im vermeintlich öffentlichen Raum werden. Wir wollen die viel grundsätzlichere Frage aufwerfen, ob der öffentliche Raum überhaupt noch öffentlich ist und bleibt. Und wer immer mehr aus ihm ausgesperrt wird. Im Vergleich dazu ist die Beobachtung unbedeutend, dass sich manche Mitmenschen in der Öffentlichkeit so benehmen, wie manche von uns das nicht einmal zu Hause tun.
Was ist öffentlicher Raum?
Öffentlicher Raum ist in der Regel Eigentum des Staates, der im Interesse der Allgemeinheit handelt. Das bedeutet, dass Parks, Straßen und Plätze uns allen „gehören“ und für die Nutzung durch uns alle bestimmt sind. Dass diese Räume einigermaßen gepflegt sind, man nicht in Gruben fällt oder von Bäumen erschlagen wird, darum müssen sich die lokalen, staatlichen oder bundesstaatlichen Behörden kümmern. Der Staat ist dafür verantwortlich, dass diese Räume zugänglich sind und den Bedürfnissen der Bevölkerung dienen. So die juristische Theorie.
Das Konzept des öffentlichen Raums beinhaltet ursprünglich die Idee, dass er dem kollektiven Nutzen aller dient und die Interaktion und das bürgerschaftliche Engagement fördert. Er ist Treffpunkt, Diskussionsforum, Sportplatz, Promenade, Ort für Demos und Erholung. Er gehört uns allen und heißt so schön altmodisch „Gemeingut“. In diesem öffentlichen Raum gibt es Regeln. So unterliegen etwa Versammlungen wie Demonstrationen dem Versammlungsgesetz.
Interessant ist dabei, wie die Auflösung des öffentlichen Raums im 20. Jahrhundert durch die explodierende Zahl von Autos auf den Straßen auf der einen Seite und durch Fußgängerzonen auf der anderen Seite zu einer Spezialisierung von Lebensräumen geführt hat. Oft ist dadurch die Vielfalt, soziale Durchmischung und auch die gemeinschaftsbildende Funktion des öffentlichen Raums verloren. Siehe Gentrifizierung.
Wie kann eine nachhaltige und sozial gerechte Gestaltung des öffentlichen Raums gelingen, bei der alle sozialen Gruppen arm, reich, mittelarm, mittelreich zusammenleben können? Oft gewünscht ist die „Stadt der kurzen Wege“, um alltägliche Wege für Menschen zu erleichtern, die den üblichen Wahnsinn zwischen Beruf und allen möglichen Care-Arbeiten zu meistern haben. Der öffentliche Raum soll zudem sicher sein, besonders für Frauen, Kinder und ältere Menschen. Personen mit eingeschränkter Mobilität sollen ihren Platz finden, ruhen können, ohne etwas bezahlen zu müssen.
Die Privatisierung und Vermarktung des öffentlichen Raums
Das Problem dabei ist, dass viele Gemeinden die Organisation und Ausbeutung des öffentlichen Raums an privatrechtliche Unternehmen übergeben haben. Wenige wissen, dass private Eigentümer dann im öffentlichen Raum, der in Privatbesitz verbleibt, allgemeine Grundrechte wie die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit durch das Hausrecht einschränken können. Warum können private Unternehmen öffentliche Räume so bestimmen? Ganz einfach: weil die Finanzierung von Bau und Unterhaltung öffentlicher Räume teuer ist, viele Städte oder Kommunen klamm sind und sich freuen, wenn öffentliche Räume zumindest auf dem Papier attraktiv aussehen.
Zügig geht das Aussperren weiter
Sind Bahnhöfe noch öffentliche Räume, oder nicht? Nehmen wir den Kölner Hauptbahnhof. Sie haben etwas Wartezeit zwischen zwei Zügen. Sie wollen sich hinsetzen und zudem die Toilette aufsuchen. Kein Problem, dann freuen sich viele auf Ihren Besuch: Pizzaläden, Salatbars, Fischfeinkosttheken und ein Restaurant der mittleren Preisklasse warten auf die werten Gäste. Auch auf der Toilette sind Sie hochwillkommen, Sie müssen sie nur finden. Suchen Sie einfach nach jenem Eingang, über dem „McClean“ steht. Das ist nicht die chemische Reinigung, sondern das Service-Center für Ihre sehr persönlichen Bedürfnisse. Zahlen Sie einen Euro und das sanitäre Paradies öffnet auch Ihnen seine Drehtür.
Sie wollen keine Pizza, sondern sich nur einfach hinsetzen? Dann haben Sie ein Problem. Die Mitarbeiter der Bundespolizei oder eines privaten Sicherheitsdienstes werden nachdrücklich dafür sorgen, dass Sie sich nicht auf den blanken Boden setzen. Und schon gar nicht, dass Sie Ihre sonstigen Anliegen irgendwo gratis erledigen. Im Privatisierungskonzept der Bahn AG steht nicht, dass solche Dienste umsonst zu finden sind. Darum verkaufen sie die Nutzung ihres Raums den kommerziellen Betreibern, von McDonald bis McClean.
Wer aufmerksam durch die gegenwärtige Republik geht, begegnet diesen Situationen immer häufiger: ehemals öffentlicher Raum wird verkauft, privatisiert und abgesperrt für jene, die sich die jeweiligen Dienstleistungen nicht leisten können. Immer öfter gehen an bislang jedermann zugänglichen Orten sichtbare und unsichtbare Schranken herunter. Und immer mehr Menschen werden vertrieben. Wer glaubt, dass wenigstens Straßen und Plätze unverändert öffentlich sind, will nicht sehen, wie auch dort zunehmend „gesäubert“ wird, um nicht zu sagen „gekärchert“ wird, wie Nicolas Sarkozy dereinst vom „Reinigen“ des öffentlichen Raums von randalierenden Jugendlichen in den Pariser Vorstädten phantasierte.
Die Deutsche Bahn AG will ihre insgesamt mehr als 6000 Bahnhöfe mit einem Investitionsvolumen von mehr als 20 Milliarden in Einkaufs- und Dienstleistungszentren verwandeln. Die Liste der „21er Projekte“, diese Einkaufszentren mit Bahnanschluss, war lang. Wir wünschen unserer Leserschaft, dass sie es sich auch in Zukunft leisten kann, das Service-Center dieser Aktiengesellschaft zu benutzen.
Die Überflüssigen
Manchmal ist es wichtig, den Blick über die alltäglichen Aufgeregtheiten der Fernsehbilder zu heben. Nur so erkennt man Entwicklungen, die nicht im Unterhaltungsprogramm vorkommen.
Seit dem Ende der globalen Konkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus befinden sich die Wirtschaften weltweit in einem tiefgreifenden Wandel. Durch rapides Wachstum werden gesellschaftliche Prozesse freigesetzt, die alte Gleichgewichtszustände beenden. Politiker, Kapitalbesitzer, Firmengründer, Organisationsspezialisten und Erfinder arbeiten daran, dass sich vertraute Ordnungen rasant auflösen. Dabei steht eines fest: Nur wenige gewinnen bei diesen Veränderungen, viele verlieren.
Die Soziologie, die sich mit solchen Prozessen beschäftigt, spricht von Prozessen der „Exklusion“ und „Inklusion“, der Ausschließung und Einschließung von Menschen. Damit werden Entwicklungen bezeichnet, bei denen nur wenige an den meisten dieser Innovationen teilhaben, die Mehrheit der Weltbevölkerung jedoch davon ausgeschlossen ist. Von „Gewinnern“ und „Verlierern“ bei Modernisierung zu sprechen, ist nicht neu. Neu ist jedoch eine dritte Kategorie, die quer dazu liegt: die „Überflüssigen“.
Damit sind jene Menschen gemeint, die glaubten, dass sie durch die überkommenen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen gesichert sind. Und die über Nacht die grausame Erfahrung machen, dass sie zu den Freigesetzten, den Aussortierten gehören, denen nicht einmal der öffentliche Raum problemlos zugänglich ist. Solche Prozesse der Degradierung können jeden treffen, sogar einen Bundeskanzler und einen Ministerpräsidenten.
Aber nur wenige sind komfortabel abgefedert, wenn es sie erwischt. Der selbstbewusste Werftarbeiter ist genauso gefährdet wie der ehrgeizige Pyramidenkletterer aus dem mittleren Management, die kompetente Sachbearbeiterin aus der Reklamationsabteilung genauso wie die kreative Friseurin aus dem Salon im Einkaufszentrum. Sie alle verspüren dieses vage Gefühl, dass es von heute auf morgen mit Sicherheit und Dazugehören aus sein kann. Plötzliche Krankheit, ein dummer Unfall, eine Scheidung oder die Belastung durch einen Pflegefall kann der vermeintlich sicheren Existenz ganzer Familien ruckartig den Boden entziehen.
Das Leid der Exklusion
Es war der Soziologe Zygmunt Bauman (1925-2017), einer der „Klassiker der Postmoderne“, der in seinen Arbeiten besonders eindrücklich die Transformationsprozesse der Gesellschaft im Zuge der Globalisierung analysiert hat. Wachsende Massenarbeitslosigkeit, der Abbau, die Kürzung von Sozialleistungen oder die Verlängerung der Lebensarbeitszeit sind Symptome einer grundlegenden Veränderung des Wohlfahrtsstaates. Die Folgen sind Verunsicherung, Angst und eine verbreitete Verantwortungslosigkeit. Dieses Leben im Ungewissen ist laut Bauman die Voraussetzung für eine „Anomie“, die den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht. Dieses Interregnum der Unsicherheiten bezeichnete Bauman als „Flüchtige Moderne“. Deren wesentliche Ausprägung ist die Konsumgesellschaft. Du sollst konsumieren, ist die Parole und die Forderung! Um den Konsum zu steigern, entwickelt die Konsumindustrie Werbestrategien, die angewendet werden, um die Menschen zu einem gesteigerten Konsum zu ermuntern. Das Ziel ist schon lange nicht mehr, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern Bedürfnisse zu wecken. Dem Konsumenten wird suggeriert, dass er Spaß haben und sich wohl fühlen soll. Es ist dies eine Art Kategorischer Imperativ, der lautet: Sei glücklich!
Die Kehrseite des Konsumismus besteht darin, dass diejenigen, die sich am gesellschaftlichen Spektakel nicht beteiligen können, exkludiert werden. Unter Exklusion versteht Bauman die Vorstellung, dass ein wachsender Teil der Gesellschaft damit konfrontiert wird, als Arbeitslose, als Sozialhilfeempfänger für die Erfolgreichen nur mehr eine Belastung zu sein. Der Konsum ist die Eintrittskarte für die vollwertige Mitgliedschaft in der „Flüchtigen Moderne“.
In seinem Buch Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne (2005) beschreibt Bauman die Exklusion von Menschen, die nicht im Stande sind, sich am allgemeinen Konsumrausch zu beteiligen. Die soziale Exklusion bewirkt ein Grundgefühl der Resignation; die ständige Konfrontation mit der Armut – so Bauman – zermürbt den Körper und die Seele der Menschen.
Dass man heute selbst als Mitglied der Katholischen Kirche nicht einmal mehr den Kölner Dom betreten darf, ohne 8 Euro Eintritt zu zahlen, empfinden wir als Skandal. Denn lange haben wir Kirchen als öffentliche, aber geschützte Räume für alle Menschen empfunden, in die man in seiner äußersten Privatheit einkehren konnte. Der Besuch des Doms ist somit noch teurer als der Kauf eines Stücks Apfelstrudel im Berliner Kaffeehaus Einstein: dieser kostet stolze 6,90 Euro. Ja natürlich, es wird in einem privaten Wirtschaftsunternehmen angeboten, und man kann es mit in den Videocall auf dem Kaffeehaustisch nehmen, mit Blick auf den Ku’damm, auf dem direkt an der Straße immer derselbe Obdachlose in seinem blauen Schlafsack liegt.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.