Ein wahrhaft phantastisches Gesamtkunstwerk
Der Carcosa-Verlag hat Ursula K. Le Guins bedeutendes Werk „Immer nach Hause“ und ihren weniger bedeutenden Roman „Die Geißel des Himmels“ herausgebracht
Von Rolf Löchel
Ursula K. Le Guin zählt auch hierzulande zu den renommiertesten Science-Fiction- und Fantasy-AutorInnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am populärsten dürfte ihre Fantasy-Welt der Erdsee-Saga sein. Kaum weniger bekannt, auf jeden Fall aber mindestens ebenso bedeutend sind die lose miteinander verbundenen SF-Romane und -Erzählungen aus dem Hainish-Universum wie etwa die experimentelle Geschlechterfantasie des Romans The Left Hand of Darkness (1969) und der auf dem kapitalistischen Planeten Urras und seinem anarchistischen Mond Anarres handelnde Roman The Dispossessed (1974). Ganz und gar zu Unrecht weit weniger bekannt ist hingegen ihr ebenfalls im Hainish-Universum angesiedelter ökologischer Roman The Word for World is Forest (1972), in dem sich Le Guin zugleich gegen die Verbrechen der US-Army im Vietnam-Krieg ausspricht. Einig Jahrzehnte später hat James Cameron die dem Roman zugrunde liegende Idee für seinen Film Avatar (2009) abkupfert.
Le Guins opus magnum war bislang sogar das unverdiente Schicksal beschieden, im deutschsprachigen Raum so gut wie unbekannt zu sein. Das sich das nun ändern könnte, ist dem Carosa Verlag zu verdanken, der den 1985 erschienenen Band Always Coming Home unter dem Titel Immer nach Hause erstmals auf den deutschsprachigen Markt brachte. Ebenso wie an der Erdsee-Reihe hat Le Guin über Jahrzehnte hinweg an ihm gearbeitet und dem monumentalen Werk immer wieder neue Teile hinzugefügt. Dabei hat es Le Guins Erdsee-Phantasie voraus, dass es sich geradezu um ein experimentelles Gesamtkunstwerk handelt. Denn der nahe der Westküste Nordamerikas in einer fernen Zukunft handelnde Band enthält zahlreiche Schriften unterschiedlichster Textsorten. So etwa diverse „Geschichten“, unzählige auf mehrere Abteilungen verteilte Gedichte, vier der „überwiegend von Verfehlungen [handelnden]“ und bei dem im ländlichen Na-Tal lebenden Volk der Kesh beliebten „Amouren“ und einen Codex, der „eine kompakte Zusammenfassung der Struktur der Gesellschaft, des Jahres und des Universums, wie sie von den Leuten im Tal wahrgenommen wird“, bietet. Hinzu kommen sechs „dramatische Werke“, vier „Historien“, ein Roman und noch einiges mehr. So meldet sich etwa mehrere Male eine Person namens Pandora zu Wort. Offensichtlich handelt es sich bei ihr um die gleichnamige Figur aus der griechischen Mythologie. Denn sie bezeichnet sich als Verwandte der Brüder Pro- und Epimetheus. Sollte sie wirklich gemeint sein, müsste sie allerdings wissen, dass sie einen versiegelten Krug öffnete und nicht die Büchse, die sie in einer ihrer Reden erwähnt.
Zusätzlich zu dieser Überfülle an Texten enthält das Buch einen „hinteren Teil“ mit diversen Texte etwa über Pflanzen, Tiere, die Musikinstrumente, Tänze, Kleidungen, Gebäude, Bestattungsrituale der Kesh-Welt sowie deren von Le Guin erdachtes Alphabet und ein Wörterbuch. Die in diesem Teil des Bandes enthaltenen „Informationen“, so wird versichert, „sind nicht weniger fiktional, jedoch sachlicher und ebenso wahr wie der vordere Teil des Buches“.
Zum Gesamtkunstwerk wird Immer nach Hause jedoch erst durch die von Georg Hersh verfertigten Landkarten, Margaret Chodos-Irvines Zeichnungen und vor allem durch die Musik des Volkes der Kesh, die allerdings nur den ersten amerikanischen Ausgaben des Buches in Form einer Tonkassette beigegeben wurde. Todd Barton hat sie in Absprache mit der Autorin komponiert.
Wie sich schon erahnen lässt, handelt es sich bei Immer nach Hause nicht um ein Buch, das an einem Stück heruntergelesen werden will. Vielmehr regt es dazu an, von Zeit zu Zeit in ihm zu blättern, hier und da Halt zumachen und sich mit den verschiedenen Aspekten der Kultur, der Geschichte und nicht zuletzt der Denkweise der Leute im Na-Tal vertraut zu machen. Dabei lässt sich etwa erfahren, dass die Grammatik ihrer Sprache keine Besitzverhältnisse zwischen Lebewesen ermöglicht und welche ihrer Wörter ganz andere Konnotationen haben als die Englisch (oder deutschen) Pendants.
Ansonsten mögen die Kesh Spruchweisheiten und Redewendungen wie etwa „Nichts kann Wasser besser machen“ oder „Urteilen ist Armut“. Auch sprechen sie oft in Bildern und Metaphern aus ihrem alltäglichen Leben, das sie in kleinen Siedlungen im Einklang mit allen Dingen führen. So grüßen diese natur- und weltverbundenen Menschen Tiere und Pflanzen ebenso wie beispielsweise einen Berg. Hingegen kennen sie kaum abstrakte Begriffe. Ihr Leben bestreitet das friedfertige Volk mithilfe einiger Nutztiere und Anpflanzungen. Allerdings lässt sich kaum von Ackerbau und Viehzucht reden. Einen Gott oder Götter oder auch nur einen religiösen Glauben haben sie nicht, dafür aber eine Art von Fabeln, in denen die Kojotin als immer wiederkehrende Figur auftaucht. Auch besitzen sie eine kleine Bibliothek, die allerdings regelmäßig in geheimen „Zerstörungszeremonien“ ‚ausgemistet‘ wird und deren Archivar nichts von „besserwisserische[n] Utopien“ hält. Die dort aufbewahrten Geschichten werden zwar verschiedenen namentlich genannten Personen zugeschrieben, doch sind sie alle gleichermaßen einfach erzählt. In den Dramatischen Werke tritt hingegen ähnlich wie in den Stücken der griechischen Antike ein Chor auf. Er besteht zumeist aus neun oder zehn Menschen. Doch spricht oft nur einer von ihnen. Auch sind die meisten Aufführungen improvisiert. Vorgegeben sind nur „ein Handlungsskelett“ und ein „Situationsrahmen“. Bei manchen Stücken spielen die ‚SchauspielerInnen’ tatsächlich gar nicht, sondern sitzen auf Stühlen und tragen nur ihre Texte vor.
Besitzen die Leute im Tal nur eine kleine Bibliothek, so haben sie – wie alle Menschen im weiten Erdenrund – doch zugleich Zugriff auf ein weltumspannendes Computernetzwerk, das bis in den näheren Weltraum reicht. Sein Ziel ist es, alles Wissen zu sammeln, bis es quasi das Universum in sich noch einmal abbildet. Seine Informationen stehen zwar allen Menschen zur freien Verfügung, doch scheinen diese nur selten von diesem zukünftigen World Wide Web Gebrauch zu machen.
Neben den Kesh des Na-Tals wird es noch ein zweites Volk näher beschrieben: die Kondor-Leute. Sie ziehen Kriege führend durch die Lande, die sie erobern und versklaven. Das heißt, nur die Männer tun dies. Die Kondor-Frauen müssen hingegen zuhause in ihrem Stammland bleiben und dürfen dort nicht einmal ihre Häuser verlassen. Auch haben die Kondor-Krieger anders als die Kesh einen Gott. Sie nennen ihn den Einen und begründen ihr kriegerisches Wesen damit, dass sie mit ihren Eroberungen seinen Willen erfüllen.
Im Mittelpunkt des Buches stehen jedoch die dreiteiligen Lebenserinnerungen einer Figur aus dem Na-Tal, die sich Erzählstein nennt, zuvor aber schon zwei weitere Namen hatte. Allerdings nehmen die drei Teile ihrer Lebensgeschichte nicht einmal ein Siebtel des Gesamtumfanges ein und werden zwei Mal durch andere Texte wie etwa die bereits erwähnten Gedichte unterbrochen. Noch bevor die Ich-Erzählerin sprechen und laufen konnte, wurde ihr von ihrer Großmutter lesen und tanzen beigebracht. Dass sie gebeten wurde, ihre Lebenserinnerungen für die Bibliothek des Tals aufzuschreiben, hat allerdings einen ganz anderen Grund: Ihr Vater ist ein Kondor-Hauptmann, der vor langer Zeit mit seinen Krieger ins Tal kam und es nach einigen Monaten wieder verließ. In diesen Monaten wurde Erzählstein gezeugt. Nach weiteren neun Jahren kehrte der Krieger zurück und seine Tochter, die damals noch Nachteule hieß, zog mit ihm, als er dem Tal ein zweites Mal den Rücken wandte und ihre Mutter nun für immer verließ. In der Stadt der Kondor-Krieger konnte die junge Frau aus dem Na-Tal allerdings nicht länger wie bisher frei leben, so dass sie nach sieben Jahren schließlich gemeinsam mit einer anderen Frau und ihrer inzwischen geborenen Tochter unter verschiedenen Gefahren nachhause floh. Dieses abenteuerliche Leben schreibt sie als alte Frau nieder.
Beschlossen wird der nicht nur an Umfang gewichtige Band durch einen Anhang, der mit „Erweiterungen aus dem Jahr 2017“ der im darauffolgenden Jahr verstorbenen Autorin eröffnet wird. Sie firmieren als „neue Texte“, die Pandora nach einem erneuten Besuch bei den Kesh mitbrachte. Ihnen folgen zwei weitere fiktionale Texte, die in Zusammenhang mit Immer nach Hause stehen, sowie einige Essays, die etwa darüber unterrichten, wie fiktionale Welten „gebaut“ werden. Hinzu kommt ein Gespräch aus dem Jahr 1988, in dem sich Le Guin zusammen mit dem Komponisten Todd Barton, der Illustratorin Margaret Chodos-Irvine und dem Zeichner der Karten George Hersh den Fragen des Publikums stellte.
Mit Immer nach Hause hat Le Guin eine rurale Utopie erdacht, die einer Bedrohung von außen ausgesetzt ist. Damit steht sie zwar in einer Reihe ähnlicher feministischer Utopien zur Zeit der Neuen Frauenbewegung, wie etwa Sally Miller Gearharts The Wanderground. Stories of the Hill Women (1978) oder Marge Piercys Woman on the Edge oft Time (1986). Dennoch zeugt dieses exorbitante Werk wie wohl keine ihrer anderen literarischen Arbeiten von der phantastischen Schaffenskraft der Autorin, Welten zu erbauen. Es war daher allerhöchste Zeit, dass es nach nunmehr vier Jahrzehnten endlich auch auf Deutsch vorliegt. Dass auch Le Guins jüngeren Texte zur Kesh-Welt aufgenommen wurden, macht die Edition umso wertvoller.
Ganz anders gelagert als Le Guins groß angelegte Welten wie das Land der Kesh, die Erdsee-Saga oder das Hainish-Universum ist ein anderer ihrer Romane, den der Carosa Verlag fast zur gleichen Zeit wie Immer nach Hause herausgebracht hat. Es handelt sich um ihr eher schmales Werk Die Geißel des Himmels, dessen englisches Original 1971 unter dem Titel The Lathe of Heaven erschien.
Der Roman handelt in einer dystopischen Zukunft Portlands, in der die Innenstädte wegen der Luftverschmutzung für Autos gesperrt sind. Denn obwohl diese inzwischen zumeist batteriegetrieben sind, „[erstickt] der Individualverkehr an seinen eigenen Abgasen“. Allerdings hat der auf diese Weise mitevozierte Treibhauseffekt nicht nur unschöne Folgen. Zwar ist New York durch das „Abschmelzen der Polkappen“ im Ozean versunken, doch wird das dadurch „aufgewogen“, dass der Meerespegel in der Bucht von San Franzisco so hoch angestiegen ist, dass er die „Hunderte von Quadratmeilen an Aufschüttungen und Müllhalden […] bedeckt“, wie es an einer für den schwarzen Humor des Romans typischen Stelle heißt.
Sein Handlungszeitraum umfasst etwa sechs bis acht Wochen zu Beginn des dritten Jahrtausends, also ungefähr dreißig Jahre nach der Entstehung des Romans. Er wird größtenteils aus der Sicht seines Protagonisten Georg Orr erzählt, dessen Träume zu seiner Verzweiflung wahr werden. Nur er selbst kann sich an die jeweilige Realität erinnern, wie sie war, bevor sie durch seinen letzten Traum verändert wurde. Diese fatalen Träume sind auch der Grund dafür, dass er einen Therapeuten namens William Haber aufsucht, was er allerdings keineswegs aus freien Stücken tut. Widerwillig erzählt Orr ihm von seinem Problem. Wie er befürchtet hat, glaubt Haber ihm zunächst kein Wort. Doch hypnotisiert er Orr, um so ein Traumexperiment durchzuführen. Merkwürdiger Weise ist er danach ebenfalls in der Lage, sich an die ehemalige Realität zu erinnern, und es dauert nicht lange, bis er eine Möglichkeit entdeckt, mit Hilfe einer Erfindung Orrs Träume zu beeinflussen. Während der Entwicklung seiner neuartigen Maschine hat Haber die Angewohnheit, lange (pseudo)wissenschaftliche Monologe zu halten und dabei über Schlaf- und Gehirnforschung und die vier „Geisteszustände“: „Wachzustand, Trance, orthodoxer Schlaf und paradoxer Schlaf“ sowie über „Trauminhalt und Traumwirkung“ und die Funktionsweise seiner Maschine oder seine hypnotische Methode zu palavern. Gegen Ende des Romans werden diese Monologe zum reinsten Kauderwelsch. So etwa, wenn er davon faselt, „das Glumdalglitsch mit dem Brobdingnag [zu] verbinden“, und dabei ohne es zu wissen auf Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) rekurriert.
Natürlich versucht er bald, Orrs „Gabe“ für seine Zwecke zu nutzen. Dabei ist er allerdings keineswegs der üblicherweise teuflische mad scientist. Vielmehr handelt er durchaus mit den besten Absichten für die ganze Menschheit. Doch jede traumhafte Lösung eines Problems führt zu einem neuen, größeren. Diese Probleme bestehen etwa in einer Nahrungsmangel hervorrufenden Überbevölkerung von sieben Milliarden Menschen, ständigen Kriegen zwischen den Völkern oder Klima- und Umweltkatastrophen. Schließlich greifen sogar Aliens die Erde an. Haber selbst allerdings gereichen die Veränderungen Mal um Mal zum Vorteil. Schließlich strebt Orr mit Hilfe einer befreundeten Rechtsanwältin an, dem allem ein Ende zu setzen.
Le Guins Roman wartet nicht nur mit mancher Metapher auf, die eine Figur etwa „über das klare, harte Eis der Logik hinweg[]gleiten“ lassen, sondern ist auch überaus anspielungsreich. So erinnert der Name des Protagonisten George Orr wohl nicht zufällig an George Orwell und selbst der Titel eines dystopischen Romans von Aldous Huxley wird irgendwo eingeflochten. Die von einer Figur rhetorisch gestellte Frage „Welcher geistig gesunder Mensch konnte in dieser Welt leben und nicht verrückt werden?“ wiederum paraphrasiert das bekannte Diktum, „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren“, das Gotthold Ephraim Lessing, in seinem Stück Emilia Galotti (1772) der Gräfin Orsina in den Mund legte. Auch scheint der gute Wille von Immanuel Kants deontologischer Ethikeinmal kurz auf, während Haber eine utilitaristische vertritt.
Insgesamt handelt es sich um einen netten, noch immer recht unterhaltsamen Roman, der allerdings nicht an Le Guins große Werke heranreicht.
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