Im Blickpunkt: Johann Wolfgang von Goethe, Karl May – und die poetische Schaffenslust
Helmut Schmiedt legt mit „Werther trifft Winnetou“ eine kluge, überraschend reichhaltige und angenehm zu lesende Studie über zwei Erfolgsschriftsteller vor
Von Martin Lowsky
Goethe und May – warum überhaupt dieser Vergleich? Etwa um ganz ‚bildungsbürgerlich‘ die Distanz, die Fallhöhe zwischen dem einen und dem anderen aufzuzeigen? Oder um umgekehrt May aufzuwerten und sein begnadetes Erzählertum dem Schaffen des Dichterfürsten gleichwertig an die Seite zu stellen? Für Helmut Schmiedts Studie gilt beides nicht. Sie geht schlicht davon aus, dass jeder Deutsche die beiden Namen kennt und dass die Literaturwissenschaft ein weiter Bereich ist (ein „vielgestaltiges Gebäude [mit] unterschiedlichen Wohnungen“, wie Schmiedt sagt), und ferner davon, dass beide Männer eine intellektuelle Ausbildung absolviert haben (Goethe als Jurist, May als Lehrer), ehe sie Literaten wurden, die hohe Auflagen erzielten und die deutsche Kulturgeschichte geprägt haben. Und denjenigen, die immer noch die vergleichende Betrachtung ablehnen, hält Schmiedt vor (der ausgewiesener Goethe- und May-Kenner ist und Monografien über Werthers Leiden und Winnetou publiziert hat), dass gerade durch dieses Vergleichen die „spezifischen Charakteristika“ des einen und des anderen deutlich hervortreten.
Was legt Schmiedt uns dar? Natürlich, erfahren wir, existieren gewaltige Unterschiede, schon aus soziologischer Sicht. Da ist der Patrizier Goethe, der materiell abgesichert sein Talent entfalten will, während May anfangs deshalb schrieb und fantasierte – und zeitweise auch plagiierte –, um sein materielles Leben zu sichern. Da gibt es dieses Goethe’sche Leben, das die Forschung als ein Gesamtkunstwerk bezeichnet, nicht ohne Sprünge, aber doch insgesamt ausgeglichen, während May sich in verkrampften Rollenspielen der Öffentlichkeit präsentierte und so sein besonderes Künstlertum zu beweisen versuchte. Und da sieht man, was das Werk betrifft, bei dem Klassiker Goethe die nach Freiheit und Selbstfindung strebenden Helden, die scheitern (Werther, Tasso, Götz), während May den siegreichen Abenteurer zeichnet – allerdings in einer Umgebung, dem Territorium der sterbenden Indianer, die dem Erzählen einen „Hauch von Melancholie“ verleiht. Da gibt es den Goethe, der von den Frauen und/oder der Liebe besessen ist (je nach Betrachtungsweise), während bei May die Männer und Männerbündnisse das Sagen haben – wobei May allerdings die binäre Geschlechter-Sicht ablehnt. Beispielhaft diese May’sche Aussage: Manche Dame hätte den Häuptling Winnetou um sein „blauschimmerndes Haar beneidet“.
Bemerkenswert ist, dass in Goethes Werk das Reisen „punktuell motiviert“ und Mittel zum Zweck ist, während es bei May ein eigenes Gewicht hat, ja eine „ausgiebig zelebrierte Lebensform“ darstellt. Entsprechend erscheinen bei May die verschiedensten Weltenbummler („Kluge und Dumme, Schwätzer und Schweiger“), Völkerschaften und Lebensformen, während das Roman-Personal bei Goethe, auch unter dem Druck der Ständeklausel, ein wenig „spießig“ ist (so sagt Schmiedt tatsächlich, offenbar von Novalis’ Spott an dem ‚bürgerlichen Goethe‘ angeregt). Kann man May, der die Indianer und die Beduinen für seine poetischen und moralischen Ideale instrumentalisiert, den Vorwurf der ‚kulturellen Aneignung‘ machen, ebenso wie dem Antike-Verehrer Goethe, der in dem berühmten Gedicht sich den Prometheus-Mythos „zurechtbiegt“? Schmiedt verneint, betont stattdessen die Freiheit der Kunst und „die Eigenständigkeit des künstlerischen Zugriffs“. Im Übrigen bemerkt er bei May die Ansätze „kolonialistischer Hybris“ und führt dagegen über Goethe, speziell den Autor des West-östlichen Divans, aus:
Mag er beim Aufruf der anderen Welt immer auch vorrangig an sich selbst und seine Anliegen denken, so tritt doch in seinen Texten ein erheblich größerer Respekt vor dem anderen, eine deutlich differenziertere Wahrnehmung seiner Eigentümlichkeiten zutage als in vielen May’schen Schilderungen.
Übrigens haben beide Schriftsteller durch eine Reise ihrem Leben eine neue Wendung gegeben: Goethe durch seine berühmte italienische Reise (1786–1788), die ihm anschließend ein Comeback als Autor bescherte, und May durch seine Tour in den Vorderen Orient bis nach Sumatra (1899/1900), in deren Folge er sein Schaffen neu ausrichtete und zum Allegoriker (oder zum „Großmystiker“ laut Arno Schmidt) wurde.
Apropos ‚Allegoriker May‘: An einem Punkt stellt Schmiedt sich selbst in eine literarische Tradition. Hans Wollschläger hat in seiner May-Biografie 1965 (jüngste Auflage 2020) Mays Fantasieländer Ussulistan, Ardistan und Dschinnistan als „wunderlich-ehrwürdig“ und als „Weber-Meisterstück“ bezeichnet, also sie gelobt mittels Termini aus Goethes Faust, und hier bei Schmiedt lesen wir: Die Ortswechsel in Mays Dschinnistan-Roman sind „eine Reise durch Stadien der Menschheitsentwicklung, die entfernt an diejenige in Faust II erinnert“.
Die Unterschiede zwischen Goethe und May veranlassen Schmiedt zu höchst lesenswerten Exkursen, die speziell jeweils einem der beiden Künstler gelten. So über das psychologisch sehr tiefsinnige Gebaren des verliebten Werther und sein „Sich-selbst-in-die-Quere-kommen“ mit all dem Begehren und den Sublimierungsbestrebungen. Oder über das variantenreiche Liebesleben („die Macht des Sexus“) in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Im Falle May interpretiert Schmiedt den Auftakt der Erzählung Durch die Wüste („Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger“ und so weiter), der als dreister Fragesatz daherkommt und höchst subtil die Themen Glauben, Diener-Verhalten und Kulturgrenzen anschneidet und sehr weit erörtert. Analysiert wird auch die Lust der May’schen Helden, sich zu verstellen und sich zu verkleiden, die Schmiedt als Gegengewicht zu dem Umstand sieht, dass May seine Charaktere starr und statisch anlegt. Mays Motiv des Sichverstellens ist also eine naive Poesie der Charakterentwicklung.
Hier können nur kleine, ja winzige Einblicke in Schmiedts Gedankenfülle gewährt werden. Buchstäblich über ‚alles Mögliche‘ berichtet er, über Kleines und Großes in Leben und Werk seiner beiden Künstler; über – nennen wir einige der 30 Kapitelüberschriften – ‚Umgang mit der Natur‘, ‚Umgang mit Bildung‘, ‚Alltagsleben‘, ‚Bauformen des Erzählens‘, ‚Varianten der Komik‘ und ‚Arbeit mit Quellen‘. Betont sei noch, dass Schmiedt uns nebenbei in Grundfragen der Literaturwissenschaft einführt: Er erörtert den Zusammenhang von Realität und Poesie in Autobiografien (Goethe und May sind auch Autobiografen), er berichtet über die wachsende Macht des individuellen Ichs in der moderneren Literatur, und er beleuchtet die weitreichende Rolle der ‚ersten Sätze‘ in Romanen. Durch sein sehr fassliches Formulieren und sein flüssiges Voranschreiten von Kapitel zu Kapitel, von Thema zu Thema, deutet er an, welch große Schaffenslust seine beiden Autoren beseelte.
Diese Schaffenslust unterstreicht Schmiedt noch in besonderer Weise. Er zitiert Johann Wolfgang von Goethes warnende Aussage (in Dichtung und Wahrheit), dass „alles Theoretisieren auf Mangel oder Stockung von Produktionskraft“ hindeute, und er erinnert, hierzu sehr passend, daran, dass Karl Mays Romanschlüsse immer die dynamische Prognose enthalten, es sei „die Zukunft des Abenteuers gesichert“. Goethe und May, sie gehören durchaus zusammen.
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