Warum Rilke in dürftiger Zeit?

Zum Rilkejahr sind einige lesens- und empfehlenswerte Biografien zu Rilke als „fernem Magier”, als „Dichter der Angst” oder des „offenen Lebens” erschienen

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Maria Rilke war schlecht für diese Zeit geeignet.
Dieser große Lyriker hat nichts getan, als dass er das deutsche Gedicht zum ersten Mal vollkommen gemacht hat.

Robert Musil auf einer Gedenkveranstaltung für den am 29. Dezember 1926 verstorbenen Dichter im Berliner Renaissancetheater

Rilke ist der geheime König der deutschen Seele.

Peter Demetz

  

Nach dem Kafka-Jahr 2024 und vor den beiden Rilke-Jahren 2025 und 2026, wenn sich die Geburt Rilkes am 04. Dezember zum 150. Mal und sein Tod am 29. Dezember 2026 zum hundertsten Mal jähren, sind einige wichtige Biografien zu Rainer Maria Rilke erschienen. Innerhalb dieses Beitrags werden drei davon zum Gegenstand der Betrachtung gemacht: die Biografie von Gunnar Decker Rilke, der ferne Magier, die schon 2023 erschienen ist sowie die gerade erschienenen Biografien der Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach Sandra Richter Rainer Maria Rilke oder das offene Leben. Betrachtet wird in diesem Zusammenhang zudem noch die Biographie von Manfred Koch RilkeDichter der Angst. Alle drei Rezensionen geben bereits im Titel, die Rilke-Zitate oder Zitate über ihn beinhalten, die Stoßrichtung der jeweiligen Perspektive vor: Der Magier oder Zauberer, als der er bezeichnet wurde, die Offenheit seines Schreibens, aber auch seines politischen und gesellschaftlichen Lebens, sowie die Angst, die zu einem zentralen Motiv vor allem in Malte Laurids Brigge wird: ,,Dinge tun aus Angst”, unter besonderer Berücksichtigung des Malte Laurids Brigge.

Nun ließe sich eingangs die prinzipielle Frage stellen, ob dieses große Angebot an Biografien einer im weitesten Sinne Ausstrahlung des Jubiläumsjahrs beziehungsweise der Jubiläumsjahre geschuldet ist, und ob uns der Dichter gerade in dürftigen Zeiten noch etwas zu sagen hat, oder vielleicht gerade heute. Es lässt sich mit Susanne Woolfe zudem argumentieren, dass in Krisenzeiten ein im kantschen Sinne ,,Wohlgefallen an ästhetischen Dingen”, so eben auch anhand der Beschäftigung mit Rainer Maria Rilke, festzustellen ist.

Um im Vorfeld kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Der Rezensent bekennt sich durchaus vorweg zum Anhänger des Werks Rilkes und gesteht, dass für ihn, ähnlich wie für Sandra Richter Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge einer der Zentraltexte deutschsprachiger Literatur ist, für Manfred Koch sowieso, der das Werk zur Grundlage seiner Biografie macht. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, inwieweit Rilke auch uns heutigen Zeitgenoss*innen noch etwas zu sagen hat, gerade als der Solitär, als der er breit rezipiert wurde und weiterhin wird. Und hierauf gibt Richters Werk schon eine vorläufige Antwort, wonach Rilke keineswegs nur der verinnerlichte und hermetische Dichter gewesen sei, als der er oft wahrgenommen wird, sondern sich durchaus in gesellschaftliche und politische Verhältnisse einmischte, und die ihn umgebende soziale und politische Wirklichkeit durchaus wahrnahm. Ob das jetzt in einem heutigen Sinne dann schon als gesellschaftlich engagiert gelten kann, sei dahingestellt.

Allgemein oder etwas verallgemeinernd gesprochen zeichnen sich Biografin und Biografen in Hinblick auf ihre jeweilige Werkbiografien durch eine detailreiche Kenntnis des Lebens und Werks Rainer Maria Rilkes aus. Die Rezension von Gunnar Decker, bei Siedler erschienen, ist noch um einiges umfangreicher als die Biografie von Sandra Richter oder von Manfred Koch. Gunnar Deckers Biografie hat mit Anhang etc. gut 600 Seiten, Sandra Richters Biografie etwa 380 und Kochs Werk ohne Anhang 376 Seiten. Richters Impuls zur Biografie ist daraus entstanden, dass das Marbacher Literaturarchiv in der Lage war, aus dem Nachlass noch unveröffentlichte Rilke-Dokumente, Briefe, Aufzeichnungen, aber vor allem auch 15 Notizbücher, anzukaufen, die die Autorin für ihre Biografie ausgewertet hat. Von daher überrascht ihre Behauptung nicht, wonach sich das Rilke-Bild durch diese neu aufgefundenen Dokumente verändert hat und sich noch weiter verändern wird.

So lautet der Tenor ihres Werks, dass einige Dinge über Rilkes Leben noch nicht so bekannt waren und deshalb umgeschrieben oder neu geschrieben werden müss(t)en. Umgekehrt sieht sie neue Forschungsdesiderate darin, dass beispielsweise Rilkes Verhältnis zum slawischen Hintergrund bzw. zur Folie Prag bislang nicht ausreichend untersucht worden sei. Insgesamt hat Sandra Richter ein philologisch exakt recherchiertes, gut geschriebenes und übersichtliches Buch geschrieben, vor allen Dingen, weil sie eine Ordnung gefunden hat, die das Buch zudem gut lesbar macht.

Sie geht zum einen chronologisch vor, zum anderen macht sie zugleich die Entwicklungsstufen in Rilkes Leben und Werk sehr deutlich, mit Titeln beispielsweise wie In Rilkes Kosmos, und Kapitelüberschriften wie Der Vater und sein verlorener Sohn, Slawophiler Debüttant im deutsch-böhmischen Prag, René wird Rainer, Sehen lernen mit Clara Westhoff, Babylon Paris, Schreiben als Selbsttherapie, Das Erfolgsbuch, „Offene Hand oder offenes Leben?”, Gegen den „deutschen Typus des weltabgewandten Dichters u.a. Richter wendet sich also gegen die Vorstellung des Typus Rilkes als eines geschlossenen, nur schöngeistigen verinnerlichten Dichters in seinem „Weltinnenraum”.

Ohne ihr gleich versimplifizierenden Biografismus zu unterstellen, denn natürlich liegt das in der Natur der Sache, stark biographisch vorzugehen, so verspürt man bei Richter dennoch leicht die Tendenz, Rilkes Werk immer stark in biographischer Nähe zu positionieren. Zudem zitiert sie vereinzelt isolierte Stellen aus den Gedichten, um damit ihre Position zu untermauern. Ähnlich verhält es sich bei Bezügen zu Philosophen wie Heidegger oder Nietzsche, wo oftmals der Bezug in nur einem, zwei oder maximal drei Sätzen dargestellt wird. Das ist natürlich im Sinne der großen Rilke-Forschung manchmal etwas dürftig, aber vielleicht ging es ihr auch nicht darum.

Dennoch hätte man sich manchmal ein Verweilen und eine Einordnung in größere Zusammenhänge gewünscht, etwa in Form von Bemerkungen zur Ruhelosigkeit, zum Fremdsein an den Orten oder auch mal die eine oder andere das Werk transzendierende Fragestellung, etwa warum Rilke, der als der musikalischste aller deutschen Dichter gilt, so wenig Kontakt zur Musik beziehungsweise Musikern hatte, anders als Nietzsche oder andere. Auch das Offene und den deutlichen Bezug zu Hölderlin hätte man noch etwas stärker betonen oder mehr explizieren können, wie es beispielsweise Rüdiger Safranski in Biographien vom Denken und Dichten von Schriftstellern und Philosophen vornimmt. Zudem wird keine Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit der Lektüre auch schwieriger Texte wie die Elegien gegeben, weshalb Leser*in nicht so genau weiß, warum Rilke heute gelesen werden soll. Insofern bleibt es auch am Ende etwas offen, ob es wirklich über ein paar biografische Anekdoten hinaus so viel Neues zu Rilke zu entdecken gibt.

Das Werk von Gunnar Decker Rilke, der ferne Magier, setzt andere Schwerpunkte. Die Überschriften sind allgemeiner gewählt: Anfänger, Aufbrüche, fiese Verwandlung, Absturz, Flucht, Isolation, Sterben, von einem Prolog und Epilog und natürlich Anhängen eingerahmt. Man sieht bereits an dieser Auswahl von Titeln, die die genaueren Beschreibungen unterstützen, dass Gunnar Decker nur auf den ersten Blick zunächst eine allgemeinere Herangehensweise entwickelt, die sich aber dann im Kleinen durchaus als sehr detailreich erweist.

Gunnar Decker hebt vor allem das Widersprüchliche in Rilkes Existenz heraus, der Autor ist dabei selbst literarisch beteiligt und engagiert. Interessanterweise stellt er auch das trotz Kafka damals unkultivierte und unliterarische Prag in Kontrast zu Rilkes Lebensgeschichte heraus. Ansonsten hebt er die Widersprüche  hervor zwischen genialem Werk und sehr narzisstischem Leben, zwischen der Darstellung der Einsamkeit und dem Wunsch nach Nähe. Von allen drei Biographien wird Rilkes Beziehung zu den Frauen, insbesondere zu seiner Mutter, zu Lou – Andreas Salomé und zu seiner Frau Clara Westhoff, besonders akzentuiert. Beinahe kontrapunktisch lässt sich das Buch von Gunnar Decker zu Sandra Richters Biografie lesen, der auch eine andere Form wählt. Einig sind sich Richter und Decker in Rilkes Bodenhaftung und Weltzugewandtheit.

Das Werk von Manfred Koch Rilke, Dichter der Angst, nimmt ein Zentralmotiv in Rilkes Schaffen auf, wozu sich der Biograph zu Beginn ausdrücklich bekennt: „Rilke als Dichter der Angst vorzustellen, ist keine sensationelle Neuerung.” Er geht dann kurz auf die Rezeptionsgeschichte ein, über die Rilke-Euphorie zur Rilke-Skepsis im letzten Jahrhundert und wieder zurück, und beginnt dann die eigene Position zu markieren.

Einig sind sich die Biographin und die beiden Biographen darin, dass Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als das Zentralwerk anzusehen ist, wenn auch zu Rilkes Zeit und viele Jahre und Jahrzehnte danach der Cornet als das Erfolgsbuch galt. Koch beschreibt seine eigene Rilke-Annäherung nach einer langen Phase der Abneigung gegen die Manieriertheit und Parfümiertheit des Dichters. Dazu rät er jedem, der die gleiche Abneigung wie er selbst entwickelt, zuerst den Malte zu lesen.

Überhaupt war die Biographie von Koch das Werk, was für mich auch sprachlich am eindrucksvollsten in das Werk und Leben und Leben und Werk Rilkes, wie er betonte, einführte, selbst oder gerade deshalb, wenn es vielleicht einen schmaleren Zugang als die beiden anderen eröffnet. Was an diesem Werk u.a. noch besonders auffällt, ist neben der Widmung an Wolfgang Baumgart zu Beginn, vor allem die zum Teil Neologismen und Komposita der Titel, mit zum Teil schönen Wortneuschöpfungen, dabei aber immer kongenial ganz im Sinne Rilkes wie Großstadttod (Kapitel 1, man sieht bereits daran, dass er nicht chronologisch vorgeht, er fängt also gleich mit dem Tod an), Mutterfieber (Kapitel 2), Rainerwerdung (Kapite 3), Gottbauen (Kapitel 4), Schwindeldinge (Kapitel 5), Kindheitsschrecken (Kapitel 6), Engelssturm (Kapitel 7), Herzgebirge (Kapitel 8), Kriegsverschüttung (Kapitel 9), Schweizklang (Kapiel 19), Wunderfebruar (Kapitel 11), Todeston (Kapitel 12, es endet also wieder beim Tod) und einem großen Anhang.

Abschließend kann es nicht darum gehen, die Biographien gegeneinander auszuspielen, oder sie danach zu beurteilen, ob etwas vergessen oder überrepräsentiert wäre, wie der Aspekt der Onanie oder ähnliches, worauf in einigen Kritiken abgehoben wurde. Es ging darum zu zeigen, wie unterschiedlich die Schwerpunkte und Annäherungsweisen der Autorin und der Autoren sind und dass es sich um unterschiedliche Welten Rilkes handelt, die dennoch mit Romano Guardini gesprochen auf engsten Raum bei Rilke miteinander verbunden sind.

Titelbild

Gunnar Decker: Rilke – Der ferne Magier. Eine Biographie.
Siedler Verlag, München 2023.
607 Seiten , 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783827501035

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Manfred Koch: Rilke. Dichter der Angst – Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2025.
560 Seiten , 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406821837

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Sandra Richter: Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Eine Biographie | Aus bislang unbekannten Quellen und mit exklusivem Bildmaterial.
Insel Verlag, Berlin 2025.
478 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783458644828

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