Aufmüpfiger Dichterrebell und literarischer Erneuerer

Neben einer ersten Biografie sind zum 50. Todestag von Rolf Dieter Brinkmann weitere Titel erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor fünfzig Jahren, am 23. April 1975, ereignete sich im Londoner Stadtteil Bayswater ein tragischer Verkehrsunfall. Der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann war an diesem Mittwoch hier mit seinem Freund Jürgen Theobaldy unterwegs, auf dem Weg zu einem italienischen Restaurant. Da wurde der 35-jährige Brinkmann beim Überqueren einer Straße von einer schwarzen Limousine erfasst, die plötzlich auftauchte. Brinkmann schlug auf die Straße auf und war sofort tot.

Wenig später, im Mai, erschien sein Gedichtband Westwärts 1 & 2, der sein letzter Band sein sollte. Der voluminöse Lyrikband wurde nach fünf Jahren Schweigen schnell zu einem Kultbuch für eine ganze Generation, und mit ihm begann die Legendenbildung des Autors.

Zum 50. Todestag von Rolf Dieter Brinkmann haben der Medienjournalist Michael Töteberg und die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Vasa mit Ich gehe in ein anderes Blau eine erste und umfassende Biografie des lyrischen Provokateurs und Rebellen vorgelegt, die auf zahlreichen neuen Quellen und Gesprächen mit Freunden und Zeitzeugen basiert. Der Titel der Neuerscheinung geht auf eine Gedichtzeile Brinkmanns zurück. In dreizehn Kapiteln beleuchten Töteberg und Vasa neben der Biografie auch das literarische Werk Brinkmanns. Geboren zu Beginn des Krieges am 16. April 1940, in Norddeutschland, in Vechta im südlichen Oldenburg, einer überwiegend katholischen Kleinstadt mit 15 000 Einwohnern. Später entwickelte Brinkmann eine regelrechte Hassliebe gegen das provinzielle Vechta. Der Vater Josef Brinkmann (1913-1967) war Verwaltungsangestellter beim Finanzamt; seine Mutter Maria (geb. 1908) verstarb 1957 an einem Krebsleiden. Die frühe Kindheit war geprägt vom Kriegsalltag mit den alliierten Bombardements des Ruhrgebietes. Zunächst besuchte der Junge die Volksschule in Vechta und später das altehrwürdige Antonianum Gymnasium, das er jedoch 1958 ohne Abschluss verließ. In der Schulzeit entstanden auch erste Gedichte. Vorbilder waren Gottfried Benn, Hermann Hesse, Wolfgang Schnurre und Karl Krolow. Als Sechzehnjähriger war Brinkmann von seinen literarischen Ambitionen so überzeugt, dass er einige Gedichte an den Suhrkamp Verlag schickte. Natürlich ohne Erfolg. Daneben versuchte er sich auch in der Prosa mit einigen Kurzgeschichten.

Nach dem Schulabbruch sollte Brinkmann wie sein Vater Finanzbeamter werden, doch die anschließende Ausbildung beim Finanzamt Oldenburg war nur von kurzer Dauer. Auch der Versuch, das Abitur nachzuholen, scheiterte bereits nach einigen Tagen. Brinkmann zog nach Essen, wo er eine Lehre als Buchhändler absolvierte. Unter Pseudonymen wie „Diether ten Brink“ oder „Rolf Dieter Brink“ sandte er mehrfach Gedichte an Verlage und Zeitschriften, die jedoch postwendend mit einem Formbrief zurückkamen. Sehr ausführlich schildern Töteberg und Vasa diese ersten literarischen Versuche Brinkmanns. Während seiner Ausbildung in der traditionsreichen Essener Münsterbuchhandlung – „eine tiefschwarze Gebetbuchklitsche“ – kam er mit Ralf-Rainer Rygulla zusammen, der hier ebenfalls Lehrling war. Es war der Beginn einer intensiven und von Beginn an schonungslosen Freundschaft.

In der Ruhrgebietsstadt lernte Brinkmann auch seine zukünftige Frau Maleen Kramer, die Tochter eines Göttinger Bibliothekars, kennen, mit der er 1962 nach Köln zog und bis 1972 in einer großen Altbauwohnung in der Innenstadt wohnte. 1964 heiratete das Paar und noch im selben Jahr kam der geistig behinderte Sohn Robert zur Welt. Erste literarische Aufmerksamkeit erlangte Brinkmann dann mit der Erzählung In der Grube, die in der Anthologie Ein Tag in der Stadt (1962) von Dieter Wellershoff erschien. Wellershoff (1925-2018), der die Kölner Schule des neuen Realismus begründete, wurde in den nächsten Jahren sein wichtigster Mentor.

Um dem ungeliebten Buchhandelsjob zu entkommen, fing Brinkmann ein Studium an der Pädagogischen Hochschule Köln an, das jedoch nur ein kurzes Intermezzo blieb, da er sich mehr der literarischen Produktion widmete, mit der er seine Kleinfamilie über Wasser hielt. Wellershoff hatte Brinkmann auch die ersten Publikationen seiner frühen Schaffensphase zu verdanken: neben der Prosasammlung Raupenbahn (1966) und seinem einzigen Roman Keiner weiß mehr (1968) entstanden die Lyrikbände Was fraglich ist wofür (1967), Die Piloten (1968), Standphotos (1969) und Gras (1970), mit denen Brinkmann zum führenden Underground-Lyriker Deutschlands wurde.

Bei Besuchen in London, wohin sein Freund Rygulla für drei Jahre gegangen war, lernte Brinkmann die zeitgenössische amerikanische Literatur kennen. Beide gaben dann 1969 die umfangreiche und viel beachtete Übersetzungsanthologie ACID. Neue amerikanische Szene heraus, die Texte der amerikanischen Beatniks und Hippies versammelte. Mit der Veröffentlichung avancierte Brinkmann zur Kultfigur der jüngeren Kölner Szene.

Als Folge einer zunehmenden Verunsicherung der eigenen schriftstellerischen Leistung zog sich Brinkmann zu Beginn der 1970er Jahre weitgehend vom Literaturbetrieb zurück. Die in dieser Zeit entstandenen Hörspiele und die unter dem Titel Wörter Sex Schnitt veröffentlichten Tonbandaufnahmen waren als Zweifel an der schriftlichen Form zu verstehen. Ab Oktober 1972 war Brinkmann für ein Jahr Ehrengast der Villa Massimo in Rom. Das Stipendium entlastete ihn zwar etwas von den finanziellen Sorgen, doch er war angewidert von der sterbenden Literaturstadt Rom. Ausbeute des Aufenthaltes waren Briefe, Tagebuchnotizen und Fotomaterial, die in dem posthum (1979) erschienenen Roman Rom, Blicke ihren Niederschlag fanden.

Ausgiebig beschreiben Töteberg und Vasa Brinkmanns Rom-Aufenthalt, ebenso seine Gastdozentur 1974 an der University of Texas in Austin. Im letzten Kapitel beschäftigen sie sich mit dem zähen Ringen bei der Entstehung des komplexen Gedichtbandes Westwärts 1 & 2, der das Comeback eines Autors war, mit dem viele schon nicht mehr gerechnet hatten. Die experimentelle Textsammlung sollte sein Vermächtnis, sein lyrisches Opus magnum werden, in dem er sein bisheriges Schreiben bündelte. Brinkmann verarbeitete hier seine zahlreichen Reisen (USA, England, Italien), autobiographische Erinnerungssplitter, Alltagseindrücke, vermischt mit Briefstellen, Zeilen aus Rock‘n‘Roll-Liedern und Fragmenten aus Unterhaltungen und eigenen Lektüren. Schlagworte aus der Werbung, Motive und Gestalten aus Comics und Filmen, alles wird zum lyrischen Material. Dabei lässt sich seine dichterische Technik mit der eines Photographen vergleichen: Momentaufnahmen, Motivauswahl und persönlicher Blickwinkel. „Gedichte sind momentane Fantasien“, so Brinkmann selbst.

Im Epilog der Biografie wird Brinkmanns Beerdigung in Vechta kurz erwähnt. Den Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen verfasste Marcel Reich-Ranicki: „Er war ein unzurechnungsfähiger Poet. Aber er war ein Poet. Von Anfang an ging er aufs Ganze trotzig, radikal und rücksichtslos.“

Die Biografie hinterfragt Brinkmanns Leben umfassend und detailreich. Sie berichtet von seinen ständigen Geldsorgen, seinen Depressionen, dem Einfluss des Filmes auf seine Literatur, von der Ehekrise, seiner Enttäuschung über die 68er oder dem schwierigen Verhältnis zu Freunden, Lektoren und Verlegern. Mit Urteilen halten sich die beiden Autor*innen jedoch weitgehend zurück, Brinkmanns Kultstatus wird eher kritisch gesehen. Neben dem kompromisslosen Literatur-Wüterich wird auch der sensible Dichter sichtbar. Die Publikationsgeschichte seiner wichtigsten Werke wird anhand von Brinkmanns Korrespondenz und Tagebuchnotizen nachgezeichnet. Ergänzt wird die Biografie durch einen mehrseitigen Bildteil in der Mitte mit einigen historischen Aufnahmen und Dokumenten.

Neben der Biografie hat der Rowohlt Verlag eine aktualisierte Fassung von Westwärts 1 & 2 herausgegeben. In der Originalfassung von 1975 musste Brinkmann noch auf einige Gedichte und ein Nachwort verzichten. Erst 2005 erschien eine erweiterte Neuausgabe des legendären Gedichtbandes, die auch über zwanzig damals aus Platzgründen gestrichene Gedichte enthielt. Nun fanden sich im Nachlass zahlreiche weitere Gedichte, die bisher unveröffentlicht waren. In seinem Nachwort Poesie ist Gegenwartsbewußtsein berichtet Michael Töteberg über Brinkmanns wiederentdeckte Lust am Verfassen von Gedichten am Ende seines Rom-Aufenthalts und die schwierige Zusammenarbeit mit dem damaligen Rowohlt Verlag, der in den Texten „einen neuen Brinkmann erkannt“ hatte und auf den Gedichtband unter keinen Umständen verzichten wollte. Für die Lyrik der 1970er Jahre in der BRD (und auch später in der DDR) war der Einfluss von Westwärts 1 & 2 unschätzbar.

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Frank Schäfer nähert sich Brinkmann mit einem Zettelkasten voller kritischer Essays, literarischer Skizzen und biografischer Episoden. Auf knapp 160 Seiten geht er der Zerrissenheit des kurzen und unangepassten Lebens des Außenseiters nach.

Chronologisch erzählt Schäfer Ereignisse und Begebenheiten des Enfant terrible, um zum Jubiläum eine Wiederbelebung von Brinkmanns Werk anzuregen, denn selbst anlässlich seines 80. Geburtstages vor fünf Jahren gab es keine nennenswerte Publikation. In dem Zettelkasten erfährt der Leser etwas von den Kriegserlebnissen des Jungen, seinem schulischen Scheitern oder den ersten Schreibversuchen des Sechzehnjährigen. Während seiner Ausbildung in der Essener Münsterbuchhandlung las er Hans Henny Jahn, Henry Miller, E.E. Cummings oder Alain Robbe-Grillet. Diese Lektüre intensivierte auch die eigene literarische Arbeit. Natürlich fehlen bekannte Episoden nicht, wie die „vier Druckfehler“ in der ersten Buchpublikation Ihr nennt es Sprache, Brinkmanns Auftritt bei der Veranstaltungsreihe „Autoren diskutieren mit ihren Kritikern“ am 17. November 1968 in der Akademie der Künste in Berlin oder das Zerwürfnis mit dem anfangs zugetanen Schriftsteller Hermann Peter Piwitt. Darüber hinaus hat Schäfer aber auch einiges bisher Unbekanntes aufgespürt.

Im Gegensatz zur Biografie von Töteberg und Vasa liefert Schäfer Interpretationen und Urteile zur Person und zum Werk von Brinkmann. Außerdem zitiert er zahlreiche Schriftstellerkollegen und Zeitgenossen: u.a. Jürgen Ploog, Tom Redecker alias The Perc, Helmut Salzinger (Rezension), Hartmut Schnell oder Nicolas Born. Neben den rund vierzig Textbeiträgen unterschiedlicher Länge bereichern ebenfalls zahlreiche historische Aufnahmen diese Zettelkasten-Biografie.

Eine echte Entdeckung zum 85. Geburtstag (16. April) und zum 50. Todestag (23. April) von Rolf Dieter Brinkmann ist die Neuerscheinung Frank Xerox‘ wüster Traum. Im Herbst 1969 bis zum Herbst 1970 schrieben Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla im Wechsel Texte, die man in Art einer Collage vergemeinschaften wollte. Mit dem Verschwinden des Autors hinter den Texten und der Entgrenzung der lyrischen Form sollte eine neue literarische Gattung (kollaborative Dichtung) entstehen. Beide interessierten sich außerdem für die neuen Medien der damaligen Zeit, und so orientierten sich ihre Gedichte mit Einrückungen, Zeilenumbrüchen, Werbetexten oder Collagen an grafischen und medialen Methoden, sodass Bild-Text-Kompositionen entstanden. Der ungewöhnliche Titel Frank Xerox‘ wüster Traum geht übrigens auf die 1959 erstmals ausgelieferten Groß-Kopierer des amerikanischen Technologieunternehmens Firma Xerox zurück.

Durch den frühen Tod Brinkmanns und die Insolvenz des damaligen MÄRZ Verlags, der das Buch 1974 publizieren wollte, kam es bisher nicht zu einer Veröffentlichung. Rygalla übergab das Material im Vorjahr an das Marbacher Literaturarchiv. Die zentralen Texte des Manuskriptes erschienen nun im axel dielmann Verlag als größtenteils faksimilierter DIN A4-Band mit einem alten LEITZ-Schnellhefter als Cover. Ergänzt wird der Titel durch die Korrespondenz der beiden Schriftsteller, durch Kommentare Dritter sowie Anmerkungen von Michael Töteberg. Rygulla gibt in seinem Nachwort einen Überblick zur Zusammenarbeit mit Brinkmann und zur Entstehung von Frank‘ Xerox wüster Traum: „Möge diese Sammlung aus vergangenen Tagen noch einmal ein Licht werfen auf den ‚freundlichen‘ Rolf Dieter Brinkmann, der hier mit Entdeckungslust und Experimentierfreude seinem unbedingten Willen, das Leben und die Literatur zur Deckung zu bringen, freien Lauf ließ.“

Titelbild

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe.
Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Mit einem Nachwort von Michale Töteberg.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025.
422 Seiten, 16 ungezählte Seiten , 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783498007744

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Titelbild

Michael Töteberg / Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann − eine Biografie.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025.
400 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003920

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Titelbild

Rolf Dieter Brinkmann / Ralf-Rainer Rygulla: Frank Xerox’ wüster Traum und andere Kollaborationen.
Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 2025.
112 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783866384699

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Titelbild

Frank Schäfer: Rolf Dieter Brinkman. Ein Zettelkasten.
Verlag Andreas Reiffer, Meine 2025.
156 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783910335752

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