Als die Zukunft noch besser war?
Zu Pierre Broués irritierend-faszinierender Darstellung der „Deutschen Revolution“
Von Franz Sz. Horváth
Es hat einen riesigen Charme, Sprach- und Denkrelikte vergangen geglaubter Zeiten vor sich zu haben. Umso mehr, wenn sie politisch dermaßen aufgeladen sind, wie Pierre Broués „Die Deutsche Revolution“. Der Name des Autors sagt heute allenfalls wenigen Eingeweihten etwas, daher lohnt es sich, ihn kurz vorzustellen: Geboren 1926 engagierte er sich früh in der kommunistischen Bewegung, beteiligte sich am französischen Widerstand gegen die Nazibesatzung und war lange Zeit ein Trotzkist. Ins Deutsche übersetzt wurde bislang sein Buch über den spanischen Bürgerkrieg und eine Biographie über Trotzki. Der marxistische Historiker verstarb hochbetagt im Jahre 2005.
Broués 1000 Seiten starkes Werk über die Vor- und Nachgeschichte der Novemberrevolution, die er umfassend als Teil eines einzigartigen historischen Moments begreift – der einzigen Möglichkeit, eine sozialistische Revolution in einem westlichen Industrieland durchzuführen –, erschien zuerst 1971/72 auf Französisch. Das Verdienst, dieses gewaltige, ja auch sprachgewaltige Monumentalwerk über fünfzig Jahre später auf Deutsch zu publizieren (nachdem 2008 eine englische Ausgabe erschienen war), ist dem Berliner Manifest Verlag gar nicht hoch genug anzurechnen. Der junge Verlag hat sich der Verbreitung marxistischer und kapitalismuskritischer Positionen verschrieben. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht oder Trotzki sind daher unter anderem jene Personen, deren Wirken der Verlag durch Textausgaben und Analysen heutigen (marxistisch und historisch ausgerichteten) Lesern bekannt machen will.
Die Spannbreite von Broués Untersuchung reicht von 1917 bis zum Krisenjahr 1923, doch setzt er seine Darstellung mit einer Einleitung in die Politik und die Richtungskämpfe der Sozialdemokratischen Partei (SPD) am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein. Die Auseinandersetzung zwischen Revisionisten und Radikalen, zwischen den reformorientierten und den revolutionär ausgerichteten Kräften der deutschen Linken ist schließlich einer der Hauptstränge seines Narrativs. Im ersten Kapitel stehen daher der durch die Frage der Kriegskredite ausgelöste und von Karl Liebknecht und den „Spartakisten“ vorangetriebene Zerfall der SPD, die Entstehung der unabhängigen SPD, die Kämpfe der unterschiedlichen Fraktionen, Gruppen und Grüppchen im Mittelpunkt. Der Novemberrevolution und den Krisenmonaten November 1918 – Januar 1919 gilt das weitere Augenmerk des französischen Historikers, der dabei stets die Verbindung der Linksradikalen zu Lenin, den sowjetischen Genossen und zu Karl Radek, einem wichtigen Vertreter der sowjetischen Sozialisten im Blick behält. Deutsche und sowjetische Revolution – beide stehen in Verbindung zueinander und weder der Autor, noch sein Übersetzer verhehlen (letzterer in seiner Einleitung), wie wünschenswert aus ihrer Sicht ein Zusammenwirken beider zum Wohle einer Weltrevolution gewesen wäre. Broués Darstellung besticht hierbei durch einen minutiösen Detailreichtum, der sprachlich über weite Strecken zu überzeugen vermag und vor allem in diesem ersten Teil keine Sekunde lang langweilig ist – sodass eine Geschichtsschreibung alten Stils, in gehobener Sprache und vom Willen beseelt, entstanden ist und den Leser beeindruckt. Broués Vorliebe in der Auseinandersetzung zwischen der SPD, der USPD und den Spartakisten, die Anfang 1919 zur KPD wanderten, gehört eindeutig den Radikalen, was mehrfach deutlich wird. Liebknechts Ausrufung der Republik am 9. November 1918 wird etwa abgedruckt und analysiert, während Scheidemanns Ausrufung nur eine kurze Erwähnung findet. Rosa Luxemburgs Artikel in der „Roten Fahne“, die sich teilweise vehement regierungsfeindlich ausnahmen, werden kaum besprochen. Auch bei der Darstellung des Januaraufstandes vermisst der Leser eine klare Linie, was bezweckt wurde und wie sinnvoll das Vorgehen der Aufständischen war. Mitunter meint der Autor, die Unabhängigen hätten Ende 1918 in den Fabriken die SPD weit überflügelt, was den Rückhalt in der Arbeiterschaft angeht. Doch gibt er weder eine Quelle an, noch präzisiert er, von welchen Fabriken die Rede ist. Generell scheint er die Arbeiterräte als positiv wahrzunehmen, während er die Bürgerräte als gegen die Arbeiterräte gerichtete Organe abqualifiziert und diskreditiert.
Das Drama und letztlich der Grund für das Scheitern der Revolution bestand für Broué darin, dass es keine einheitliche und dadurch starke Linke gab, die ein Rätesystem hätte schnell, gezielt und überall im Land durchsetzen können. Von der MSPD war dies nicht zu erwarten, denn sie trat ja für die Einberufung der Nationalversammlung ein; erst diese sollte über das zukünftige Schicksal des Landes entscheiden. Dem Beschluss der Nationalversammlung wollte die SPD nicht vorgreifen, was aus heutiger Sicht nur konsequent und demokratisch erscheint. Doch letztlich war selbst die USPD in dieser Frage unentschlossen, arbeitet der Autor heraus. Die linken Kräfte waren im ganzen Land nur kurz im Aufwind und sie gewannen nur kurz und selten die Oberhand. Sie konnten daher auch nicht Luxemburgs Forderung nach einer „sozialistischen Demokratie“ durchsetzen, das heißt „die öffentliche Macht, Gesetzgebung und Verwaltung“ in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte legen. Zudem war das deutsche Bürgertum, waren die Kräfte der Konservativen und alten Eliten im Deutschland des Jahres 1918 stärker als in Russland im Jahr zuvor. Sie konnten daher ihre Stellungen im Staat und der Verwaltung behaupten. Interessant ist in diesem Kontext auch, dass Broué den berüchtigten Ebert-Groener-Pakt nur am Rande streift und die Vereinbarung zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden in seiner Darstellung gar gänzlich unter den Tisch fällt. Dass die Zeit im Januar 1919 für die Revolution gearbeitet hätte, wie Broué behauptet, ist ebenfalls sehr kritisch zu sehen. Die (Bedeutung der) Verfassung der Weimarer Republik wird nicht analysiert, was mehr als verwunderlich ist angesichts dessen, dass die Legitimität der Revolution auch im Kontext dieser Verfassung beurteilt werden muss.
Im zweiten sowie dem dritten Teil der Darstellung dominieren zwei Hauptthemen: Die Stabilisierung der Kommunistischen Partei nach dem Januaraufstand und ihre Strategie nach der Märzaktion 1921, die Bemühungen um die Einheit der Partei sowie um die Erweiterung ihres Rückhaltes in der Bevölkerung. Die vorrevolutionäre Situation im Jahr 1923 (Inflation, Ruhrbesetzung, Massenstreiks) wird ausführlich analysiert und der „deutsche Oktober“ mit Sachsen im Mittelpunkt in einem eigenen Kapitel dargestellt. Auch hier arbeitet Broué die Verbindungen der KPD zu den Genossen in der Sowjetunion minutiös heraus, genauso wie ihre unendlichen und unzähligen, für die Zeitgenossen wie die heutigen Leser gleichermaßen ermüdenden inneren Richtungskämpfe. Im vierten und letzten Teil mit dem vielsagenden Titel „Ein von der Geschichte verdammtes Unternehmen?“ unternimmt Broué den Versuch, eine Gesamtbilanz der blutigen, revolutionären und für viele Zeitgenossen orientierungslosen Jahre zu ziehen. Im Mittelpunkt stehen hierbei Fragen hinsichtlich der Möglichkeit, den Bolschewismus erfolgreich nach Deutschland zu verpflanzen, der Versuche der Parteiführung, hier vor allem Paul Levis, sich gegenüber Lenin und den sowjetischen Genossen, zu behaupten und selbst zu entscheiden, ob und wann die Zeit für eine kommunistische Revolution reif sei. Die Strategie Paul Levis, sein Taktieren an der Spitze der KPD und sein Scheitern werden in einem separaten Kapitel behandelt, genauso wie die schillernde Persönlichkeit Karl Radeks und die Rolle, die er Anfang der 1920er Jahre in Deutschland spielte. In seiner „Bilanz eines Scheiterns“ benennt Broué schließlich die personelle Schwäche der KPD Anfang der 1920er Jahre, den allzu schwachen Rückhalt und die Unentschlossenheit der Partei, aber auch, dass die radikalen Revolutionäre mit 1918 letztlich zu spät aktiv geworden waren, als jene Ursachen des Scheiterns, die er für relevant hält. Ende der 1920er Jahre sei die KPD aufgrund ihrer Stalinisierung schließlich politisch, intellektuell und vom revolutionären Geist her nur noch ein Schatten der unmittelbaren Nachkriegsjahre gewesen. Wehmütig beschließt der Historiker sein Werk nach einem passenden Trotzki-Zitat mit der Behauptung (oder Hoffnung), die Geschichte der KPD habe nicht „die Geschichte verlorener Illusionen zu sein“, sondern die „Vorgeschichte eines sich fortsetzenden Kampfes“.
Wolfram Klein, der Übersetzer des Werkes, lässt diesem Schluss einige Anmerkungen folgen, in welchen er sich mit ein paar Bemerkungen Broués kritisch auseinandersetzt. Eine zwanzigseitige Chronologie, ein Glossar mit Kurzbiographien der wichtigsten erwähnten Personen und zuletzt eine umfangreiche, mehr als 80 Seiten umfassende Bibliographie beenden den zweiten Band.
Broués „Deutsche Revolution“ ist zweifellos ein faszinierendes Werk und das vielleicht spannendste und detaillierteste über diese Umbruchphase der deutschen Geschichte. Broués Parteilichkeit ist natürlich nicht zu übersehen und mit etlichen seiner Perspektiven, Urteile, Gewichtungen und Verzerrungen kann und muss der Historiker kritisch ins Gericht gehen. Daher empfiehlt es sich selbstredend, dieses Werk, das eben auch nur den Forschungsstand der 1960er Jahre spiegeln kann, am besten neben anderen Publikationen der letzten Jahren zum Thema Novemberrevolution und Krisenjahre der Republik zu lesen (zu diesem Thema veröffentlicht haben beispielsweise Joachim Käppner, Robert Gerwarth oder Mark Jones). Der stupende Daten- und Detailreichtum entschädigt allerdings für die vorhandenen ideologisch bedingten (marxistischen) Einseitigkeiten. Führt sich der Leser vor Augen, mit welch ideologischer Verbohrtheit in kommunistisch-marxistischen Kreisen bereits 1918-1920 diskutiert wurde, werden antizipierend jene Schau- und Hexenprozesse erklärlich, die einige Jahrzehnte später die Sowjetunion und den Ostblock erschütterten. Dem aufmerksamen Leser entgeht somit nicht, dass der Keim des Unrechts bereits früh in jenem Absolutheitsanspruch angelegt war, der in den parteiinternen Diskussionen früh schon durchschien. Erstaunlich ist (aber angesichts seiner ideologischen Prägung vielleicht auch nicht), dass ein Broué, dem klar war, dass Paul Levi unter anderem deshalb scheiterte, weil man ihm vorwarf, zu unabhängig zu sei und sich „der Sache“ nicht ganz hingegeben zu haben (wie in einer mystisch-ekstatischen Sekte), dass ein Broué, der erkannte, dass „der Linksradikalismus […] eine globale Negation der Vergangenheit und ein kindlicher Wunsch, den Lauf der Dinge zu erzwingen, eine Verweigerung jedes Kompromisses und sogar jedes Übergangs, ein vereinfachender Maximalismus und ein ungeduldiger und oberflächlicher Utopismus“ (II, 278) war, diese erwähnte Kontinuitätslinie nicht zog und benannte.
Broués ideologische Blindheiten und Einseitigkeiten können dennoch produktive und konstruktive Reibeflächen erzeugen, um den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Sowohl er als auch sein Übersetzer gehen von der Notwendigkeit und der Möglichkeit aus, das derzeitige kapitalistische System abzulösen, obwohl zumindest dem letzteren klar sein müsste, dass es heute eigentlich kein revolutionäres Subjekt mit eigenständigem (Sendungs-)Bewusstsein gibt. Dass dieses Bewusstsein sogar 1918 kaum wirklich vorhanden war, hatte ja mit zum Scheitern der Revolution beigetragen. Die vielfach fragmentierten Gesellschaften unseres postideologischen Zeitalters eignen sich gewiss zu Vielem, doch angesichts des Verschwindens einer Arbeiterklasse (zumal einer mit Klassenbewusstsein!), des Rückfalls in nationalistische, religiös-fanatische und faschistische Blasen und Denkmuster wohl kaum zu einer Revolution. Die unzähligen Rechtschreibfehler im Buch sind mehr als ärgerlich: „Arbeiter*innenaktivist*innen“ ist nur das eklatanteste Beispiel für die Wortungetüme, die den Text teilweise ungenießbar machen: „Die deutschen Führer*innen waren die Schüler*innen von Marx und Engels, ihre direkten Nachfolger*innen […]“.
Trotz all der kritischen Bemerkungen sei Broués Buch aber als wichtiges Zeitdokument, als mittlerweile selten gewordenes Beispiel marxistischer Historiographie mit all ihren Vorzügen und Schwächen sowie Verzerrungen empfohlen. Mag es für Historiker auch nur mit Vorsicht und unter Zuhilfenahme von aktueller Literatur genießbar zu sein, bietet es immer noch wertvolle Einsichten in die „deutsche Revolution 1917-1923“.
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