Der Sturm des Körpers
Bettina Wilpert schildert in „Die bärtige Frau“ eine Odyssee
Von Veronique Raimann
Die Autorin und zweifache Mutter Bettina Wilpert erhielt bereits mit ihrem Debütroman nichts, was uns passiert (2018) einige literarische Auszeichnungen: einen Förderpreis im Rahmen des Lessing-Preises, den Preis des Freistaates Sachsen, das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium sowie den „aspekte“-Literaturpreis des ZDF.
In ihrem 2025 erschienenen Roman Die bärtige Frau steht Alex im Zentrum – eine Lehrerin und Mutter aus Leipzig, die nach vielen Jahren in ihren Heimatort zurückkehrt, um ihrer Mutter nach einer Verletzung beizustehen. Die verpflichtende Reise in die Heimat stellt sich als Odyssee durch die Tiefen von Mutterschaft, Weiblichkeit und Psyche heraus.
Wilpert erzählt die Reise von Alex aus einer persönlichen Perspektive, sodass die Gedanken, Emotionen und körperlichen Empfindungen stets nachvollziehbar sind. Von Beginn an können die Leser*innen die Intensität der Muttergefühle spüren: „Alex vermisst Paula physisch, als hätte sie ein Körperteil verloren“.
Der Erzählfluss changiert zwischen den Erinnerungen an die Vergangenheit, den Mutterjahren und der Gegenwart. Dabei ächzt Alex’ Körper innerlich und äußerlich unter der Last gesellschaftlicher Mutterideale, den körperlichen Narben der Schwangerschaft und unter dem Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbestimmung. Inmitten von Traumata wie dem Verlust eines Kindes und ihrer aufgewühlten Vergangenheit sucht sie nicht nur einen sicheren Hafen für ihre Identität, sondern auch für ihre Rolle als Mutter. Sie hat das Gefühl, zu weit von sich selbst und besonders ihrer Tochter abgetrieben zu sein: „Nie ist sie da, wo sie [Paula] ist.“
Alex’ Körper trägt die Spuren ihrer Irrfahrt: Wilpert nutzt hierfür in einer Schlüsselszene eine Kombination aus medizinischen Ausdrücken und Körpererfahrungen: „Sie kann ihre Rektusdiastase fühlen, wenn sie die Finger oberhalb des Bauchnabels in die Haut drückt.“ Hier werden die Narben der Mutterschaft und die gesellschaftlichen Erwartungen an eine Mutter verdeutlicht, etwa die Bereitschaft, den eigenen Körper für ein Kind zu verletzen. Die Rektusdiastase steht hier nicht nur für körperliche Veränderungen, sondern auch für die Spaltung zwischen Eigen- und Fremdbestimmung. Ebenfalls werden Alex’ Brüste immer wieder von Wilpert metaphorisch als „Schlachtfeld zwischen Stillen und Begehren“ beschrieben. Doch der eigentliche Sturm tobt im Kampf gegen die verankerten Geschlechterrollen, welche sie mit ihrem Partner Oliver in ihrem Alltag negieren möchte. Wilpert hebt Doppelstandards hervor, sodass selbst eine Tätigkeit wie das Duschen moralisch hinterfragt wird. „Bloß keine Deos benutzen, […] alles andere sei schlecht für das Bonding.“ Alltagsszenen offenbaren, wie männerdominierte Normen selbst die intimsten Handlungen bestimmen. Alex’ Körper scheint nicht mehr ihr zu gehören, sondern wird vom gesellschaftlichen Idealbild einer Mutter geprägt. Es ist eine Irrfahrt zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung.
Seit ihrer Schwangerschaft mit Paula ist sich Alex bewusst, dass die Vorstellung der perfekten Mutter ein Phantom ist. So erkennt Alex in der Not, dass ihre selbstkritische Art nicht der Mutterschaft entspricht, die sie erleben möchte. Alex’ Rebellion gegen die gesellschaftlich akzeptierte Vorstellung zeigt: „[…] diesem Mutterbild will sie nicht entsprechen.“
Die Erzählstruktur des Romans folgt dem stürmischen Erzähltempo zwischen Ruhe und Turbulenz: Mal befinden sich die Leser*innen auf ruhigen und erinnerungsbehafteten Gewässern, mal steuern sie auf den Sturm der Selbstzweifel zu. Wilpert gelingt es geschickt, Erinnerungen, den Widerstand gegenüber typischen Rollen sowie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper spannend und mitreißend zu schildern. Die Dynamik zwischen lyrischen Passagen und drastischen Körperbeschreibungen schafft eine Sogwirkung, die die Leser*innen emotional wie intellektuell fesselt. Eine Schiffsreise, die einer Odyssee gleicht und von der Faszination für die Themen der Weiblichkeit und der Mutterschaft lebt. Am Ende kann festgehalten werden: Die bärtige Frau von Bettina Wilpert ist ein Roman für alle, die Muttersein bis jetzt als ruhigen Hafen verstehen und für eine neue Interpretation bereit sind.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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