Sigmund Freud als Wimmelbild
Neue „biografische Vignetten mit etwas Tratsch“ könnten bisher verborgene Seiten des Begründers der Psychoanalyse „ein wenig sichtbarer“ machen – hoffen Christfried Tögel und Jörg-Dieter Kogel
Von Bernd Nitzschke
Einleitend heißt es, das „Kernstück dieses Buches sind Interviews“, die Kurt Eissler, der Gründer der New Yorker Sigmund Freud Archives, „mit mehr als 350 Personen geführt hat, von denen die meisten Sigmund Freud noch persönlich gekannt haben“. Da diese Interviews bisher aber noch nicht veröffentlicht, geschweige denn kritisch kommentiert wurden, haben Christfried Tögel und Jörg-Dieter Kogel sie jetzt – zusammen mit anderen Memoiren, die Eissler „gesammelt“ hat, und gemeinsam mit bereits andernorts veröffentlichten Erinnerungen, etwa denen Anna Freuds an ihren Bruder Sigmund – erst einmal bruchstückhaft „ausgewertet“ und unter dem Titel Sigmund Freud in den Augen anderer publiziert.
Der Titel trifft allerdings nicht die ganze Wahrheit, denn die Zitatensammlung besteht ja nicht nur aus Fremdbeschreibungen, sondern auch noch aus einer Vielzahl hinlänglich bekannter Selbstauskünfte Freuds. All das soll, wie Tögel und Kogel schreiben, dazu „beitragen, die bisher eher verborgenen Seiten Freuds ein wenig sichtbarer zu machen und zu verstehen, wieso verschiedene Menschen Freud unterschiedlich wahrgenommen haben“. Dass verschiedene Menschen ein und dieselben Person oder Situation unterschiedlich wahrnehmen, ist eine Binsenweisheit. Das gilt, um ein Beispiel zu nennen, auch für die beiden Patienten, die kurz nacheinander in meine Praxis kamen. Der erste setzte sich, angezogen mit einem Pullover, in den Sessel, stand wieder auf, holte seine Lederjacke vom Garderobenständer und sagte: „Hier ist es mir zu kalt.“ Der zweite kam in einem T-Shirt, darüber ein leichtes Blouson, und antwortete auf meine Frage, ob es ihm hier nicht zu kalt sei: „Nein, es ist warm genug.“
Beide sprachen eine objektiv identische Situation an, die sie subjektiv – offenbar sehr verschieden – erlebten. Das gilt analog auch für diejenigen, deren Bilder von Freud im vorliegenden Buch präsentiert werden. Freud war stets ein und dieselbe Person, doch wie andere ihn wahrnahmen, das hing von der Lebenssituation ab, in der sie ihn antrafen, und davon, in welcher Beziehung sie zu ihm standen. Walter Efron, der Sohn eines Wiener Antiquitätenhändlers, der die bei seinem Vater erworbenen Stücke in der Berggasse ablieferte, erlebte Freud zum Beispiel als einen „freundlichen Mann“ mit „patriarchenhafter innerer Sicherheit und Güte“, „unheimlich sympathisch, ruhig, gemessen, unheimlich menschlich“.
Auch Belinda Jelliffe, die ihn während eines Kuraufenthalts 1921 in Badgastein kennenlernte, erschien Freud als ein „sehr freundlicher, kindlicher Mensch […]. Ich fand, er hatte außergewöhnliche Augen. Ich meine, er schaute einen direkt an, so gerade und so einfach.“
Ganz anders der Eindruck, den Fritz Friemel gewann, als er 1920 in der Berggasse vorsprach, um therapeutische Hilfe zu finden, und schon nach „höchstens vier oder fünf Minuten“ wieder verabschiedet wurde. Er erinnerte sich so an Freud: „Gleich einer drohenden ernsten Sphinx saß mir der Professor gegenüber, bis ins Herz kühl und unpersönlich, vollständig unnahbar. – Er hörte sich regungslos mein Gestammel an, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. […] Als ich leise zögernd fertig war, zog er eine bereitliegende Visitenkarte hervor […]: ‚Gehen Sie zu diesem Arzt in Behandlung.‘ […] Auf meine Schlussfrage ‚Herr Professor, was bin ich schuldig?‘ kam die ominöse Forderung 1.500 Kronen, Dreiviertel meines Monatsgehalts!“ Nun, Fritz Friemel war kein armer Mann, er war der Vertreter der Royal Dutch Shell in Österreich. Seinen Besuch beendete er so: „Ohne einen Muckser zu machen – in etwas gelähmten Zustand gegenüber einer solch dämonischen Persönlichkeit, zahlte ich […]. Innerlich schwer enttäuscht, mich vermutlich benommen verbeugend, suchte ich das Weite.“
Wenn die Erinnerungen an ein und dieselbe Person derart konträr ausfallen, kann man an das Bonmot denken, wonach derjenige, der mit dem Finger auf einen anderen deutet, mit drei Fingern auf sich zurückweist. Am Ende sagten die von Eissler Interviewten womöglich mehr über sich selbst als über Freud aus? Oder lassen sich ihre Eindrücke wie die Bruchstücke eines Mosaiks zu einem Gesamtbild Freuds zusammensetzen? Wie dem auch sei: Tögel und Kogel haben die unterschiedlichen Einschätzungen von Freuds Charakter und Verhalten, die sie nicht nur Eisslers Archiv entnahmen, sondern auch in vielen der bisher bereits erschienenen Biographien, in Briefen Freuds und in anderen Abhandlungen fanden, in zwei Rubriken aufgeteilt: Der erste Teil ist mit „Biographische Skizze“ überschrieben und in sieben Abschnitte gegliedert, die von Freuds „Kindheit und Jugend“ in der k. und k.-Monarchie (1856 ff.) bis zu seiner Emigration und zu seinem Tod in Londoner Exil 1939 reichen. Im zweiten Teil des Buches werden Freud siebzehn „Rollen“ zugeschrieben, die von „Der Mensch Freud und sein Erscheinungsbild“ bis zu „Freud und seine Hunde“ reichen. Das ist der Interpretationsrahmen, in dem die Bilder Freuds in all ihrer Widersprüchlichkeit verstehbar werden sollen? Am Ende hat man weder Fisch noch Fleisch, wohl aber viel Kraut und Rüben in der Hand – beziehungsweise ein Wimmelbild Freuds vor Augen, das jeder mit eigenen Augen betrachten wird.
Ich zitiere einige Beispiele, wobei ich mich auf Erinnerungen aus den Interviews mit Eissler beschränke. Von Harry Freud erfahren wir da, dass sich sein Onkel Sigmund „nie selbst frisiert“ hat. „Ich meine, er hat gesagt, er kann es nicht. Es hat ihn immer jemand kämmen müssen.“ Zuhause ließ sich Freud von seiner Frau Martha frisieren. Und wenn er mit seinem Bruder Alexander (Harrys Vater) oder mit seiner Schwägerin Minna Bernays (der Schwester von Freuds Frau) auf Reisen war, dann durften die ihn kämmen. In diesem Zusammenhang ist folgende Frage Eisslers bemerkenswert: „Und haben Sie etwas Tratsch gehört über die Freuds?“ Hedwig Hitschmann, die Ehefrau des Psychoanalytikers Eduard Hitschmann, antwortete etwas zögerlich: „Ich glaub‘, er hat die Minna Bernays auch sehr gern gehabt. Wie weit das gegangen ist, kann man nicht wissen.“ Else Hofmann, die Assistentin von Freuds Schul- und Duzfreund Emanuel Loewy, der in Rom einen Lehrstuhl für Klassische Archäologie innehatte, äußerte sich schon sehr viel deutlicher. Sie habe von Freuds eigenen Schwestern gehört, dass er mit der Schwester seiner Frau Minna Bernays „ein Verhältnis gehabt hat“. Hella Bernays, eine Nichte Freuds, nahm solches Hörensagen bitter ernst. Eissler gegenüber erklärte sie: „Wenn mein Mann eine Affäre mit meiner Schwester gehabt hätte, wäre ich gestorben!“
Hans Lampl, ein Klassenkamerad von Freuds Sohn Martin, war einmal mit Professor Freud zu Besuch bei dessen Mutter. Er erinnerte sich so daran: „Man war gewohnt, den Professor als Vater zu sehen […].“ Doch „da sah ich ihn plötzlich als Kind. […] Er hat sich von [seiner] Mutter alles Mögliche sagen lassen. Und er hatte keine Lust, etwas zu essen, aber sie hat gesagt: ‚Ess, mein goldener Sohn, ess!‘, und da hat er gegessen. Das hab‘ ich nie vergessen, […] weil ich plötzlich gesehen hab‘, wie aus dem Vater ein Kind wird.“ Mathilde Zissermann, eine Mitbewohnerin im Hause Berggasse 19, hatte dieses Bild von Freud vor Augen, als sie mit Eissler sprach: „Seine Bürde war die Notwendigkeit, seine Rolle zu spielen und zu akzeptieren, dass sie um seines Erfolges willen über- und überspielt wird.“ Nachdem sie ausgezogen war, kehrte sie immer mal wieder in die Berggasse zurück. Bei einer solchen Gelegenheit fiel ihr auf, „wie er [Freud] sich immer mehr in der Atmosphäre der Anbetung verhedderte, als Lou Andreas-Salomé, eine Freundin und Patientin von ihm, bei ihnen weilte. Sie brauchte ihn als Propheten, und er wollte ihr helfen. Ich verbrachte einen äußerst peinlichen Abend mit allen. Seine Unfähigkeit, sich zu befreien, erschien mir teils als Großzügigkeit, teils als Schwäche.“ Und an einer anderen Stelle des Interviews gab sie diese Anekdote zum Besten: „Einmal schaute er [Freud] auf seine Uhr und stand auf und sagte: Du musst jetzt gehen, es ist Zeit für meine Narren.“ Daraufhin habe sie gelacht und gesagt, er möge seine Narren doch. „Manchmal wird es mir zu viel“, habe Freud geantwortet. Das „klang sehr müde.“ Laut Tögel und Kogel gehören Mathilde Zissermanns Erinnerungen zu den „unmittelbarsten und wohl auch authentischsten Beschreibungen des Menschen Sigmund Freud“.
Sophie Ritholz, eine amerikanische Kinderpsychologin, die als Analysandin bei ihm war, schilderte ihre narzisstische Verschränkung mit Freud sehr eindrucksvoll. Sie sprach von der „Makellosigkeit der Person [Freuds], der eine Makellosigkeit des Geistes entsprach, frisch und rein wie Bergheide. […] Seine Bereitschaft, zu loben und zu ermutigen, war für mich eines der hervorstechendsten Merkmale seiner wahren Größe. So schnell er einen unlogischen Gedanken mit der messerscharfen Präzision seines Denkens zu zerstreuen verstand, so groß war seine Bereitschaft, alles, was verdienstvoll war, als solches zu sehen und zu bewerten.“
Keine Spur von Neutralität: Der Meister entschied, wie eine Äußerung zu „bewerten“ war – und konnte dann entweder „messerscharf“ kritisieren oder aber loben. Suzanne Bernfeld zog er, als sie bei ihm auf der Couch lag, an den Haaren, wenn sie etwas sagte, das ihn ärgerte. Franz Alexander hatte „den Eindruck, dass Freuds Behandlungsansatz äußerst flexibel war. […] Zum Beispiel drängte er [einen] Fetischisten dazu, Geschlechtsverkehr auszuprobieren […] mit einer Prostituierten.“ Clarence Oberndorf, der Verfasser einer Geschichte der Psychoanalyse in den USA, machte als Lehranalysand diese Erfahrung mit Freud: „[…] manchmal schlief er während der Sitzungen ein. Ich schaute auf und fragte: ‚Schlafen Sie?‘, und er antwortete: ‚Nein‘ […]. Man konnte ihn Schnarchen hören […], aber er nahm es ganz gelassen.“
Franz Alexanders hatte den Eindruck, dass der „Unterschied“ zwischen Freud und seiner Wiener Gefolgschaft „gewaltig“ war. Freud „überragte alle anderen so sehr, dass ich wirklich verstand, warum den Menschen, die mit ihm lebten, nichts anderes übrigblieb, als eine große Verehrung zu entwickeln, den Wunsch, von ihm gelobt und akzeptiert und geliebt zu werden.“ Dazu passt die folgende Äußerung der Psychoanalytikerin Therese Benedek: „Ich glaube, dass Freud im Grunde ein so unsicherer Mann war, dass er die ganze Zeit die Zuwendung und Bewunderung von Frauen brauchte.“ Die bekam er, aber auch von Männern, und zwar in dem Maße, in dem er ‚Schüler‘ gewann – es sei denn, die wollten, wie Alfred Adler oder C.G. Jung, nicht ewig seine ‚Schüler‘ bleiben. Schließlich hatte selbst Albert Hirst, der als Patient bei Freud war, „nicht das Gefühl, dass Freud mit besonderem Enthusiasmus von seinen Schülern sprach. Man hatte den Eindruck hier ist Freud und dann kommt lange gar nichts.“
Der Zwillingsbruder der Bewunderung heißt bekanntlich Entwertung. Diesbezüglich war Freud sehr empfindlich. Kritik – oder das, was er als Kritik empfand – konnte er schlecht ertragen. Ernst Kris machte als Lektor der psychoanalytischen Zeitschrift Imago bei Drucklegung eines Manuskripts von Freud diese Erfahrung: Schon die „Verschiebung eines Beistrichs war ein großes Ereignis […]. Die Verschiebung eines Wortes war ein Kampf.“ Rudolf Bienenfeld, ein Jurist, beschrieb seinen „Eindruck“, den er bei einer Vorlesung gewann, die Freud kurz nach der Jahrhundertwende „im Saale der psychiatrischen Klinik an der Universität“ hielt, als „erschütternd“: „[…] wie unter den ersten Christen. In der Mitte des Saales […] stand Professor Freud und […] auf zwölf Sesseln im Halbkreis um ihn herum, […] seine nächsten Anhänger, was wirklich an die Apostel in der christlichen Zeit erinnert hat.“ Und dann fügte er noch hinzu: „Ich selber war derart von Ehrfurcht vor Freud erfüllt, dass ich mich sehr selten getraut habe, ihn anzusprechen.“ Dazu passt diese Beobachtung von Belinda Jelliffe: „Weil alle ihn so verehrten, sagte ihm niemand die Wahrheit […]. Sie hatten Angst, die Wahrheit zu sagen! Sie alle schrecken zurück und zittern vor dem Namen Freud!“
Im dritten – nur gut eine Druckseite umfassenden und mit „Epilog“ überschriebenen – Teil ihres Buches über „Freud in den Augen anderer“ zitieren Tögel und Kogel eine Passage aus einem Glückwunschschreiben, das u.a. Thomas Mann, Romain Rolland und Stefan Zweig unterzeichnet hatten. Freud erhielt es aus Anlass seines 80. Geburtstags. Darin wird er als „Arzt“, „Psychologe“, „Philosoph“, „Künstler“ und „mutiger Erkenner“ gepriesen, der den Weg „in bisher ungeahnte Welten der menschlichen Seele“ gewiesen habe. Tögel und Kogel stellen beherzt fest: „Die für dieses Buch ausgewählten Erinnerungen an Freud haben diesen Leistungen nichts hinzuzufügen“. Doch dann fügen sie der Eloge doch noch ein Lob hinzu. Sie zitieren eine Stelle aus einem Brief Freuds an Eduard Silberstein, an der es heißt: „Aber bedenke, teurer Freund, daß immer nur die Einleitung unserer Handlungen in unserer Macht liegt, d. h. durch die Einmischung unseres inneren Dranges bestimmt wird, selten ihr Verlauf und nie ihr Ausgang.“ Damit habe „Freud bereits als 19jähriger Student“ „eine mögliche Erklärung“ geliefert für „die Komplexität – manchmal auch die scheinbare Widersprüchlichkeit –, mit der sich Freuds Persönlichkeit in den Augen anderer zeigt“. Wie dieses Briefzitat die „manchmal scheinbare Widersprüchlichkeit“ von Freuds Persönlichkeit in den Augen anderer Menschen erklären sollte, kann ich nicht nachvollziehen. Das unbestreitbare Verdienst des Buches von Tögel und Kogel aber besteht darin, dass durch die Veröffentlichung bisher unbekannter Aussagen über Freud von Familienangehörigen, Fachkollegen und anderen Zeitgenossen mit gesundem Menschenverstand (vulgo Laien genannt) das bisher vertraute Bild des Begründers der Psychoanalyse weitere wichtige Facetten erhalten hat. Ich habe vorstehend mit Hilfe einer – zugegeben recht subjektiven – Auswahl versucht, daraus das folgende Bild zu komponieren: Freuds Anhänger brauchten ihn, um sich in seinem Glanz zu sonnen – und er benötigte sie, um sich bewundern zu lassen und so seine innere Einsamkeit zu überspielen. Andere Leser mögen das Buch mit anderen Augen lesen.
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