Der Teufelskärpfling und wir
Raketenstart oder Himmelfahrt? In Philipp Schönthalers „Seiten des Himmels“ verschwimmen die Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur
Von Oliver Pfohlmann
In Philipp Schönthalers Roman begegnet man – neben alkoholkranken Mondfahrern und dichtenden Nazi-Physikern – auch dem seltensten Fisch der Welt: dem Teufelskärpfling. Schönthalers Protagonist lernt das putzige Geschöpf in der Wüste von Nevada kennen. Dort, in einer Höhle mit Thermalwasser, kämpfen knapp 200 dieser Fische gegen das Aussterben. Der Ich-Erzähler sieht aber nicht das Original, sondern dank eines Journalistenkollegen namens Sam die benachbarte Kopie, einen Nachbau der Höhle mit einer kleinen Ersatzpopulation:
Ich weiß nicht, wie lange wir an dem Beckenrand kauerten, auf die statische Oberfläche starrten, darauf warteten, dass die Fische den Pool erneut erleuchteten. Anfangs setzten wir unsere Unterhaltung noch fort. ‚Ich frage mich immer, ob ich hier in die Vergangenheit oder in eine Zukunft blicke‘, murmelte Sam: ‚Und dann ist da der Punkt, an dem die Zeit stirbt und die pure Gegenwart herrscht. Vielleicht bin ich deshalb so oft hier.‘
Auch in Seiten des Himmels geht es ebenso um die Vergangenheit wie um die Zukunft. Und natürlich um das Heute und das Schicksal der Literatur im KI-Zeitalter. Der Held des hochambitionierten Romans ist ein namenloser Autor und Journalist Mitte 40; im Lauf des Romans nimmt er, wie bereits der 1976 geborene Schönthaler selbst, am Wettlesen in Klagenfurt teil oder residiert als Stipendiat in der Villa Aurora am Pazifik.
Der literarischer Doppelgänger des Autors ist besessen von einem Thema: dem der „dichtenden Wissenschaftler“. Gemeint sind damit bahnbrechende Ingenieure, Physiker oder Informatiker der 1940er und 50er Jahre wie Wernher von Braun, Robert Oppenheimer oder Alan Turing – also die Gründerväter unserer technologisierten, digitalisierten Gegenwart. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihre Arbeit in den Dienst des Militärs stellten – sich aber nebenbei auch der Literatur zuwandten. Warum taten sie das? Und was folgt daraus für Wissenschaft und Literatur heute?
Die Frage nach dem Warum stellt sich dem Erzähler, seit er zu Beginn des Romans eine Tagung in einem mysteriösen Institut in Nevada besucht. Dort werden angeblich die literarischen Nachlässe dieser Forscher archiviert. Von den Institutsgründern wird salbungsvoll behauptet, die gesammelten Texte zeigten, „dass die Technologien von morgen aus dem Stoff der Fiktionen von heute gemacht sind“. Schönthalers Protagonist hat an dieser Deutung seine Zweifel, spätestens als ihm der Nachlass von Frank Malina, einem Raketenbauer und Rivalen Wernher von Brauns, zugespielt wird.
Malina, 1981 im französischen Exil gestorben, wandte sich zuletzt ganz der Kunst zu:
Aber was heißt das? Lohnt es, an Malina zu erinnern, oder kann man ihn mit seiner Entscheidung, die Kunst statt der militärischen Forschung zu wählen, leichtfertig vergessen? Den nachfolgenden Satz […] kastelte ich ein: Noch immer fällt es leichter, sich eine Existenz des Menschen auf dem Mars vorzustellen als den bewussten Ausstieg aus einer Technik, die auch in Zukunft für die meisten Menschen nichts als Terror und Tod bedeutet.
Das mysteriöse Institut in der Wüste ist erfunden; die literarischen Ergüsse besagter Wissenschaftler dagegen gibt es wirklich: Der Ex-Nazi Wernher von Braun zum Beispiel beglückte die Welt 1952 mit dem Roman Das Marsprojekt. In Schönthalers hybridem Roman wird jedem dieser Wissenschaftler ein biografisches Porträt gewidmet. Seiten des Himmels liest sich daher über weite Strecken wie ein erzählendes Sachbuch. Für die literarischen Qualitäten sorgt, neben einer immer labyrinthischer erscheinenden Syntax, die Rahmenhandlung, die Suche des Ich-Erzählers nach Erklärungen für die literarischen Seitensprünge besagter Forscher.
Leider wirkt dieser Erzählstrang mitunter arg konstruiert. Doch feiert er auch einige erstaunliche Höhepunkte. Der Ausflug zum Wettlesen in Klagenfurt etwa ist nicht nur eine schöne Satire auf den Literaturbetrieb. Schönthalers doppelte Überblendung eines verlassenen, geplünderten Frühstücksraums mit der christlichen Himmelfahrt und einem Raketenstart ist ein veritables literarisches Glanzstück.
Der 48-jährige Autor beschäftigt sich unter den deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen und -autoren wie kein Zweiter mit den Folgen der Digitalisierung für die Literatur. Zuletzt erschien von ihm sogar eine fast 600 Seiten starke Studie mit dem Titel Die Automatisierung des Schreibens & Gegenprogramme der Literatur, über die Reaktionen avantgardistischer Literaten auf technische und mediale Innovationen bis hin zu Chat-GPT.
Eine ähnliche Besessenheit vom Wechselverkehr zwischen Technik und Literatur weist auch der Ich-Erzähler seines neuen Romans auf, der von „diffusen Angstzuständen und depressiven Verstimmungen“ heimgesucht wird. In der ersten Romanhälfte wenig mehr als ein Platzhalter, gewinnt er erst spät an Profil – etwa durch seine zunehmend technifizierte Selbstwahrnehmung. Oder durch seine These, die Raumfahrt, also die Abhängigkeit des Lebens von einer künstlichen Umgebung, sei längst zum Modell für unser irdisches Dasein in Zeiten des Klimawandels geworden. Wenn das stimmt, könnte man sagen: Der einsame, ums Überleben kämpfende Teufelskärpfling in seiner Höhle – das sind wir.
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