Ein Land, das sich selbst verspielte
In seinem umfangreichen Roman „Das Narrenschiff“ erzählt Christoph Hein noch einmal die Geschichte eines nach 40 Jahren untergegangenen Staates und der Menschen, die in ihm lebten
Von Dietmar Jacobsen
Es gibt wohl keinen zweiten deutschsprachigen Schriftsteller, der sich der wechselhaften Historie Deutschlands im 20. Jahrhundert – seines Zerfalls in zwei Teilstaaten nach 1945 und des Wieder-zueinander-Findens von Ost und West nach fast einem halben Jahrhundert getrennter Wegstrecke – mit seinen Werken so genau wie kritisch angenommen hätte wie Christoph Hein. Ihn als einen Chronisten seiner Zeit und Gesellschaft zu bezeichnen, ist deshalb durchaus legitim. Mit Werken wie Der fremde Freund (1982), Horns Ende (1985) und Der Tangospieler (1989), die höchst umstritten waren bei jenen, die in der DDR das kulturpolitische Sagen hatten, gehörte der heute über 80-Jährige zu den wenigen Autoren, die man im Osten Deutschlands las, wollte man die Realität im Lande jenseits all der medialen Erfolgsmeldungen, an die zuletzt wohl nur noch die abgeschottet lebende Elite glaubte, literarisch widergespiegelt sehen. Letztere stellte er mit seinem im April 1989 uraufgeführten Stück Die Ritter der Tafelrunde als in erstarrten Sprachritualen gefangene und zu wie auch immer gearteten Zukunftsvisionen nicht mehr fähige Politgreise dar. Anderthalb Jahre später war die Geschichte über diesen Staat hinweggegangen.
Auch nach 1990 hörte Hein – mit einigen wenigen Ausnahmen – nicht auf, sich literarisch mit dem Land auseinanderzusetzen, in dem er groß geworden war. Mit der Frage nach den Ursachen des Scheiterns des sozialistischen Projekts im östlichen Teil Deutschlands erreichten seine Romane jetzt aber eine neue historische Tiefenschärfe. Trutz, das wohl beeindruckendste und literarisch herausragendste Werk aus dieser Zeit, ging mit der Suche nach einer Antwort historisch am weitesten zurück – nämlich bis in die 1920er/ 1930er Jahre. An der Geschichte zweier Familien, die in die stalinistischen Säuberungsprozesse gerieten, demonstrierte dieser Roman aus dem Jahr 2017, wie individuelle Glücksvorstellungen durch ein Gesellschaftsbild, das dem Einzelnen und seinen Vorstellungen von einem gelungenen Leben keinerlei Wert beimaß, bereits in dem Land, das dem ostdeutschen Staat von Beginn an als Vorbild diente, rigoros zerstört wurden.
Auch für die Helden seines neuen und bislang umfangreichsten Romans Das Narrenschiff starten die Karrieren, die sie nach ihrer Rückkehr in die Ruinenlandschaft Nachkriegsdeutschlands zunächst in den Berliner Magistrat und später in den Staatsapparat der jungen DDR führen, in Moskau. Am 30. April 1945 und in den ersten Maitagen fliegen von dort in vier Maschinen prominente deutsche Antifaschisten aus dem Exil in ihr Heimatland zurück. Als erste landet die „Gruppe Ulbricht“ wieder auf deutschem Boden. Zu ihr gehören diejenigen, auf die sich der kommende starke Mann des neuen Staatswesens am meisten verlassen zu können glaubt. Ihr Auftrag lautet: an der Spitze des noch zu gründenden Staates dafür zu sorgen, dass aus der faschistischen Diktatur auf schnellstem Wege eine sich gesellschaftlich an der Sowjetunion orientierende Demokratie wird.
Heins Roman konzentriert sich, wenn er die Geschichte des ostdeutschen Staates rekapituliert, vor allem auf drei Männer und deren familiäres und gesellschaftliches Umfeld. Karsten Emser, Ökonomie-Professor und späteres Mitglied des Zentralkomitees der Staatspartei, sollte eigentlich als Mitglied der „Gruppe Ulbricht“ die Heimreise antreten. Bereits im Exil als Intellektueller von den maßgebenden Genossen um Ulbricht beargwöhnt, landet er dann allerdings in Maschine 2. Johannes Goretzka, einst überzeugter Anhänger des faschistischen Systems, wird nach einer Umschulung in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager zum begeisterten Vertreter der neuen Ordnung. Als solcher stürzt er sich nach seiner Verwandlung vom Saulus zum Paulus mit besonderem Eifer und großen Ambitionen in den wirtschaftlichen Aufbau der jungen Republik. Seine humorlos-pragmatische Art bringt ihn allerdings schon bald in Konflikte.
Und schließlich ist da noch Benaja Kuckuck (eine kleine Hommage Christoph Heins an Thomas Manns Professor Kuckuck aus dem Felix Krull vielleicht), habilitierter Anglist, Germanist und Verfasser einiger in internationalen Fachkreisen hochgeschätzter Studien. Für ihn scheint es nach seiner Rückkehr in die junge Republik keinen anderen verantwortungsvollen Posten zu geben als die Übernahme der Leitung des Referats Kinder- und Jugendfilm bei der Hauptverwaltung Film. Da ist der wegen seiner politischen Haltung beargwöhnte, seine Homosexualität nicht offen lebende Mann für die herrschenden Genossen fürs Erste gut aufgehoben.
Mit diesen drei zentralen Figuren, die sich über die Zeiten – Emsers Frau Rita und Goretzkas Frau Yvonne, die von der Bürohilfskraft dank des Ansehens ihres Mannes zur Kulturhausleiterin aufsteigt und später mit Benaja Kuckuck zusammen in der Hauptverwaltung Film arbeitet, stets dabei – zu einem lockeren Freundeskreis zusammenschließen, erleben die Leserinnen und Leser die knapp vier Jahrzehnte DDR. Hein erspart sich dabei alle schriftstellerischen Kniffe. Er erzählt bis auf eine Ausnahme, bei der er sich plötzlich als Autor in seinen Text einmischt, weil er sich für eine Episode nicht persönlich zu verbürgen vermag, streng auktorial.
Die Erzählung verläuft deshalb chronologisch entlang des bekannten Zeitstrahls mit all den in ihn eingelegten Turbulenzen, die ein Umdenken, Korrigieren oder gar ein Verlassen des einmal eingeschlagenen Weges hätten in Gang setzen können. Doch sowohl der Arbeiteraufstand 1953 wie auch Stalins Tod im selben Jahr, Chrustschows Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, der Bau der Berliner Mauer 1961 und der Prager Frühling 1968 wurden von den Herrschenden nicht als Zeichen erkannt, dass man einen falschen Weg eingeschlagen hatte. Und so kam mit der Friedlichen Revolution von 1989 schließlich folgerichtig jener Moment – Heins Roman widmet ihm die letzten 40 Seiten – in dem es kein Zurück mehr von der Erkenntnis gab, dass sich Sozialismus nicht für alle in einem Land Lebenden definieren und von oben herab verordnen ließ.
In vielen kleinen Episoden seines Romans macht Christoph Hein sehr deutlich, was die Jahre zwischen dem Kriegsende und der deutschen Wiedervereinigung Menschen abverlangten, die angetreten waren, nach sowjetischem Vorbild etwas vollständig Neues auf deutschem Boden zu errichten. Wie viel Selbstverleugnung dazugehörte, die eigene Meinung immer hinter die einer Partei zurückstellen zu müssen, die nicht nur behauptete, ein Anrecht auf die historische Wahrheit zu besitzen, sondern die verlangte Disziplin des Einzelnen dem Ganzen gegenüber auch rigoros durchsetzte. Bestrafungen hinzunehmen, Demütigungen zu ertragen, nur weil die eigene Meinung nichts galt in einem Staatswesen, wenn sie von den von oben ausgegebenen Direktiven abwich, war in jener Zeit im Osten Deutschlands bitterer Alltag.
„Man darf sich irren, aber nie gegen die Partei“, weiß Karsten Emser deshalb an einer Stelle des Romans. Da hat er sich gerade, nachdem Johannes Goretzka auf dem vierten SED-Parteitag 1952 als Abweichler und „Saboteur[-] des Fünf-Jahres-Plans“ namentlich gebrandmarkt wurde, für den Freund an oberster Stelle verwendet und dessen Parteiausschluss verhindert. Emser fährt fort: „Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Irrtum nicht teilst. Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht.“
Liegen die Dinge aber so, wie es der Lyriker Reiner Kunze, der die DDR 1977 verlassen musste, in einem epigrammatischen Gedicht mit den scheinbar paradoxen Zeilen „Im mittelpunkt/ steht der mensch// Nicht/ der einzelne“ auf den Punkt gebracht hat, ist es bis zu Emsers Behauptung, man habe in der DDR wie auf einem Narrenschiff gelebt, nicht mehr weit. Mit Sebastian Brants (1457 o. 1458–1521) europäischem Bestseller Das Narrenschiff von 1494 hat sich Christoph Hein im Übrigen ganz bewusst an ein Werk angelehnt, dessen satirische Spitze auf nichts Geringeres als auf die ganze Welt zur Zeit des Humanisten Brant zielte. Machen sich dessen 109 Narren – darunter kein Seemann und niemand, der das Schiff zu steuern in der Lage wäre – auf nach „Narragonien“, so trägt das „Narragonien“ Heins den Namen „Sozialismus“. Und besteht die Torheit von Brants Protagonisten in deren mangelnder Einsicht in die Anforderungen des Lebens, so darf man die der mit großen Plänen heimkehrenden deutschen Exilanten darin sehen, dass sie just jene nicht mitnahmen auf ihre Reise in eine bessere Welt, in deren Namen sie eigentlich aufgebrochen waren.
Kein Wunder deshalb auch, dass in einem Roman, der die Geschichte des ersten Arbeiter- und Bauernstaats auf deutschem Boden knapp 35 Jahre nach dessen Untergang nachzeichnet, die „Arbeiterklasse“ erst auf Seite 480 erstmalig ins Bild kommt. Bis dahin bewegt man sich unter Funktionären und Intellektuellen, in abgehobenen Kreisen also, die das Wort „Arbeiterklasse“ ständig im Mund führen, zu den Angehörigen dieser Klasse aber so gut wie keinen Kontakt haben.
Dazu passt nur zu gut, dass Kathinka, die Stieftochter von Johannes Goretzka, erst als sie sich um eine Stelle als Kranfahrerin in einem Ostberliner Kombinat bewirbt, plötzlich merkt, dass jene Arbeiter, die sie lediglich aus Lektüreerlebnissen und vom Hörensagen kannte, „nicht von einer Mutter geboren, sondern von den offiziellen Parteifunktionären und den dienstwilligen Redakteuren der Zeitungen und Radiosender gezeugt worden waren.“ Mit dieser Figur gelingt es Christoph Hein im Übrigen auch, ein kleines Stück seiner eigenen Biographie in den Roman einzuschmuggeln. Denn in Leipzig lernt die junge Frau den Philosophiestudenten Rudolf Kaczmarek kennen. Dessen Herkommen aus einem Pfarrhaus und die damit verbundene Weigerung, ihm den Besuch einer weiterführenden Schule zu gestatten, erinnert wohl nicht von ungefähr an Heins bereits an anderen Orten – zuletzt in dem stark autobiographischen Roman Unterm Staub der Zeit (2023) – beschriebenen Abschnitt des eigenen Entwicklungsweg.
Und wann fing das Projekt „Aufbau einer sozialistischen Ordnung in einem Teil Deutschlands“ an schiefzugehen? Kuckuck glaubt, es sei die Geheimrede Chrustschows gewesen, die den Traum von einer Gesellschaft, die so anders und besser sein sollte als alles bisher Dagewesene, abrupt beendete: „Wer auf der Welt soll, wer kann nach diesen Enthüllungen noch an diesen Traum glauben?“, fragt er seine Freunde. Für Emser hingegen markiert bereits das Terrorjahr 1937 jenes Datum, an dem sich das Sozialismus-Projekt für alle Zukunft diskreditierte. Schon als Exilant im berühmten Moskauer Hotel Lux fiel ihm das Augenzudrücken angesichts des auch die Reihen der deutschen Exilanten nicht verschonenden Stalinschen Terrors schwer. Konnte man sich noch in die Augen schauen, wenn man nicht wusste, ob der andere am nächsten Tag noch da sein würde? „Wir haben den Spiegel zerbrochen, um uns nicht selbst darin sehen zu müssen“, lautet Emsers Jahrzehnte später gegenüber seiner Frau geäußerte Antwort auf diese Frage.
Mit dem Titel Begrüßungsgeld und arbeitslos über einem der letzten Kapitel seines Romans ist Hein dann bei der Gegenwart des wiedervereinigten Deutschlands angekommen. Dass er nicht lauthals in den Jubel derjenigen eingestimmt hat, die über ihre Wendeeuphorie, die neue Währung und das Recht, in welche Himmelsrichtung auch immer reisen zu können, für kurze Zeit außer Rand und Band gerieten, machte schon seine Rede auf der „seit Jahrhunderten größten Demonstration in Berlin“, wie es gegen Ende von Das Narrenschiff heißt, deutlich. Am 4. November 1989 hatte er vor fast einer Million Demonstranten auf dem Berliner Alexanderplatz die „liebe[n] mündig gewordene[n] Mitbürger“ aufgefordert, sich „einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist“ als Ziel für die kommenden Jahre vorzunehmen. Dass es dann nichts wurde mit dem, was man den „dritten Weg“ nannte, hat auch Christoph Hein erschüttert, aber wohl nicht gewundert. Und auch die Figuren seines Romans haben es schwer, sich in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden. Nicht von ungefähr sind es die Jungen, denen das noch am besten gelingt, jene Nachkommen des seine dogmatischen Ansichten bis zum Tod beibehaltenden Johannes Goretzka, die sich schon früh von den falschen Träumen der Alten abgenabelt hatten.
Literarisch gehört Das Narrenschiff mit Sicherheit nicht zu Christoph Heins stärksten Werken. Zu häufig wird Geschichte referiert statt durch Erzählen transparent gemacht. Der Weg der einzelnen Figuren durch die knapp vierzig Jahre DDR ist bei den meisten von ihnen so vorhersehbar, dass siebeneinhalb Hundert Seiten ein bisschen des Guten zu viel scheinen, um zu verdeutlichen, dass das „Experiment Sozialismus“ letzten Endes nur schief gehen konnte. Aber waren andererseits vierzig Jahre Lebenszeit nicht auch ein bisschen zu viel des Guten? War das Vertrösten der Menschen im Osten auf eine nicht genau datierbare, aber verlockend leuchtende Zukunft – „Unseren Enkeln soll es einmal besser gehen“, hieß der Spruch, über den sich schon die Hauptfigur in einem der ersten Wenderomane, Thomas Brussigs Helden wie wir, mokierte – nicht des Zumutbaren zu viel? Und war das Beharren auf den behaupteten eigenen Erfolgen nicht auch zu viel des Indoktrinierens angesichts der Tatsache, dass der Großteil der DDR-Bürger die Fernsehantenne längst nach Westen ausgerichtet hatte?
Natürlich hielten weder Ochs noch Esel den Sozialismus in seinem Lauf auf, wie der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR, obzwar anders gemeint, noch im August 1989 mit trotziger Siegessicherheit ein geflügeltes Wort unter Sozialdemokraten des späten 19. Jahrhunderts auf die aktuellen Verhältnisse ummünzte. Es waren die Macher selbst, die ihr Projekt ruinierten, indem sie sich weigerten, aus Fehlern zu lernen und denjenigen, die das „Narrenschiff“ in ruhigere Gewässer hätten steuern können, Steine in den Weg legten. Und zwar so lange, bis man im Bauch der Galeere rebellierte und für den Abbruch eines Experiments sorgte, das die einfachen Ruderer längst aus den Augen verloren hatte.
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