Ein gutes Leben mit dem Tod
Mischa Mangels zweiter Roman „Die Vergegenwärtigung“ ist ein mutiger Versuch, dem eigenen Dasein im Angesicht der Vergänglichkeit literarisch-experimentell Sinn zu verleihen
Von Marcus Neuert
Die Angst des Tormanns vorm Elfmeter übersetzt in einen jahrelangen Prozess: das ist nicht selten in etwa, was Schreibende zwischen ihrem ersten und ihrem zweiten Roman erleben. Sie unterliegen einem ungeheuren Druck. Oft wird der Schuss am Ende unhaltbar, können die „‚Zweitlinge‘ nicht einlösen, was die Erstlinge versprachen.
Mischa Mangel scheint von solchen Ängsten unberührt. Er hat sich nach seinem 2021 erschienenen Debut Ein Spalt Luft vier Jahre Zeit gelassen mit einem Nachfolger. Auch ein anderer Erscheinungsort wurde gefunden – statt Suhrkamp wie beim ersten Mal ist es nun der steirische Droschl-Verlag, der für die Veröffentlichung verantwortlich zeichnet. Das ist alles andere als ein Abstieg, zählt das Haus doch Größen wie Peter Handke, Marlene Steeruwitz, Gerhard Rühm oder Eva Menasse zu seinem literarischen Tableau, um nur einige zu nennen. Mangel befindet sich also auch hier in hochkarätiger Gesellschaft – und erweist sich dieser Tatsache nach seinem gelungenen Einstand einmal mehr als würdig.
Die Handlung seines Romans Die Vergegenwärtigung selbst umfasst nur einen kurzen Zeitraum, in welcher der namenlose Protagonist, Mitte dreißig, standesamtlich heiratet und von den anschließenden privaten Festlichkeiten berichtet. Dieses äußerlich knappe Gewand gerät dem Ich-Erzähler zu einer ersten Bestandsaufnahme seines bisherigen Lebens. Anlässlich seiner Hochzeit ruft er sich zahlreiche Erinnerungen an Familienmitglieder, Freunde („sie waren alle da“), aber vor allem auch eigene Seins- und Erlebenszustände ins Bewusstsein zurück, die zwischen unmittelbarer Gegenwart und frühesten Lebensabschnitten changieren und stets vor dem Hintergrund eines unabwendbaren Todes reflektiert werden. Eine große Rolle spielen dabei die intensiven Erfahrungen des Protagonisten mit den Lehren des Buddhismus. Ein einmonatiger Aufenthalt im einzigen buddhistischen Kloster Deutschlands, der Metta Vihara in Kempten, ist immer wieder Dreh- und Angelpunkt für die Reflexionen des Ich-Erzählers, in welchen er sich intensiv mit dem jederzeit möglichen Ende des eigenen Lebens auseinandersetzt:
und jetzt sage ich es doch, ich sage, ich will mein Leben, so wie Buddha es in den beiden Maranasati-Suttas, diesen beiden Lehrreden, beschreibt, im Lichte des Todes sehen, jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde am besten, es gehe darum, sagt Buddha, sich zu vergegenwärtigen, dass der nächste Bissen Essen, dass der nächste Atemzug der letzte sein könnte, das ist die intellektuell leicht zu fassende, im Nacheinander der Tage und Aktivitäten aber kaum begreifbare Grundunsicherheit des Lebens, jedenfalls dann, wenn man, wie ich, einigermaßen gesund ist und ungefährdet, und trotzdem, prinzipiell könnte ich jetzt, hier und jetzt, tot umfallen […].
Unter der Prämisse „auf jeden Fall einen Atemzug näher am Tod“ gewinnen die Rückblicke auf mitunter nur ganz ausschnitthafte Lebensszenen eine ungeahnte Intensität und Bewusstseinsschärfe: die Freude des Fünfjährigen über das Vorbeiziehen der Landschaft beim Auffahren auf die Autobahn im elterlichen Wagen, die Grablegung der halbseitig gelähmten Großmutter, aber auch solche Details wie etwa eine Szene beim Rasieren, in welcher der Protagonist plötzliche Risse im Waschbecken wahrnimmt – das alles gewinnt aus seiner eigentlichen Banalität heraus vor dem Hintergrund der Sterblichkeit des Subjekts an Bedeutung. Doch es ist dabei nicht etwa eine permanente Furcht vor dem Ende, sondern im Gegenteil so etwas wie ein innerer Jubel über das Geschenk des Daseins, das sich in diesen Abschnitten manifestiert, obwohl sie von vollkommen ambivalenten Gefühls- und Erlebenslagen berichten. Formal setzen die Abschnitte mitunter auf der Hälfte einer Zeile in Kleinschreibung ein (sofern sie nicht mit einem Substantiv beginnen), sie kommen aus dem Nichts, sie gehen ins Nichts, wie das Dasein. Die Vergegenwärtigung ist ein Roman, in dem es unzählige Kommata gibt, der jedoch abgesehen von einem einzigen direkten Zitat zu Beginn ganz ohne einen Punkt auskommt: das Wandern der Gedanken und Reflexionen wird in einen fortlaufenden Strom gebettet, der einen regelrechten Lesesog auszulösen imstande ist.
In unvermittelt wirkenden, in Wahrheit aber sehr planvoll und klug eingepassten Einschüben werden vom Autor immer wieder wissenschaftlich beschreibende Passagen über die Stadien der Veränderungen menschlicher Körper nach dem biologischen Tod eingestreut, die aus einem medizinischen Buch übernommen zu sein scheinen und bis hin zur Verwesung einen drastischen Widerpart zu den Erzählpassagen bilden:
Abbildung 22, Nahaufnahme, Ablage von Schmeißfliegeneiern, Eipakete in der leichten Öffnung des linken Auges und auf dem Lid, man beachte die komplette Füllung der Augenhöhle mit Fliegeneiern
Abbildung 23, Fliegeneier in den Lidspalten eines Verstorbenen
In bestimmten Abständen kommt sogar noch ein verkappt lyrisches Element dazu, in welchem nach und nach Sonne, Mond, Sterne, Himmel, Erde und ganz am Schluss das Gras aufgerufen werden, eine vollkommen unprätentiöse Reihe von Ewigkeit zu Ewigkeit, mit welcher das Buch nach 272 Seiten endet.
Mischa Mangel gelingt trotz (oder gerade wegen?) seiner wohldurchdachten kompositorischen Strenge eine beneidenswerte Leichtigkeit. Die Vergegenwärtigung liest sich sehr flüssig – obwohl es sich eigentlich um einen experimentellen Roman handelt, hat man zu keiner Zeit das Gefühl, dass der Text sich dem Lesen verweigert, ganz im Gegenteil. Die Rezeption wird Teil des Textgefüges, geht an jeder Stelle mit, obwohl sich Handlungs- und Zeitebenen unablässig überlagern oder ablösen, weil Mangel so schreibt, wie ein wacher Geist im Alltag funktioniert: eben oft gerade nicht linear, sondern mäandernd, collagierend, dabei aber stets reflektierend, im Wortsinne vergegenwärtigend. Vergegenwärtigung ist eben mehr als Erinnern: es hebt das Erlebte auf die gleiche Stufe mit der Gegenwart – die einzige Zeit, in der wir wirklich existieren.
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