„Halbe Leben“ und ganze Gegensätze
Susanne Gregor schreibt über unsichtbare Machtverhältnisse und die Frage, ob zwei halbe Leben ein Ganzes ergeben können
Von Chantal Justa
Susanne Gregor wurde 1981 in Žilina (Slowakei) geboren und lebt in Österreich. In ihren Werken thematisiert sie Migration, Identität und gesellschaftliche Umbrüche. Ihr Roman Halbe Leben erschien im Januar 2025 und schildert auf knapp 200 Seiten, wie sich die Leben zweier Frauen zunehmend miteinander verflechten – bis hin zu einem unausweichlichen tragischen Ende.
„Es liegt kein Motiv vor, man lässt den Tod als Unfall gelten. Niemand zweifelt an dieser Version der Geschichte.“
Bereits auf den ersten Seiten des Romans erfahren die Leser:innen das tragische Ende: Klara, schwanger, stürzt bei einer Wanderung und stirbt. Nur Paulína ist bei ihr. Doch anstatt einer klassischen Kriminalgeschichte folgt der Roman einem anderen erzählerischen Ansatz. Gregor interessiert sich weniger für die Frage nach dem Wie, sondern vielmehr für das Warum.
Das Wissen um dieses unausweichliche Ende schwebt von Anfang an über der Erzählung, lässt jede Entscheidung der Figuren in einem anderen Licht erscheinen. Indem die Autorin die Handlung rückblickend entfaltet, lenkt sie den Fokus auf die Dynamik zwischen den beiden Frauen, auf ihre unausgesprochenen Konflikte und das ungleiche Verhältnis, das sie verbindet.
Klara und Paulína sind zwei Frauen im gleichen Alter. Klara lebt in Österreich, ist finanziell unabhängig und fokussiert sich auf ihre Karriere. Paulína hingegen pendelt im Zwei-Wochen-Takt zwischen der Slowakei und Österreich, um sich als Pflegerin um Klaras kranke Mutter Irene zu kümmern. Während Klara durch Paulínas Unterstützung unbeschwert ihrer Arbeit nachgehen kann, bleibt Paulína kaum Zeit für ihr eigenes Leben. Ihre eigenen Kinder sieht sie nur selten, stattdessen kümmert sie sich um Klaras Familie – eine nach Außen perfekte Familie, die nicht ihre eigene ist. Sie beginnt sich zu fragen, „ob es ein Zuviel an Glück geben kann – ein Extrem, das den Menschen genauso wenig zugänglich ist wie ein Zuwenig“.
Doch auch Klara steht unter Druck: Sie delegiert immer mehr Verantwortung an Paulína. Erst die Pflege ihrer Mutter, dann den gesamten Haushalt. Dabei nimmt sie kaum wahr, wie sehr sie ihre Pflegerin vereinnahmt. Zerrissen zwischen beruflichem Ehrgeiz und der Erwartung, sich um ihre Familie zu kümmern, bleibt ihr die zunehmende Überforderung Paulínas verborgen.
Neben der zentralen Thematik der Fremdheit und Entfremdung zweier Frauen zwischen Arbeit und Familie thematisiert Gregor ebenso geschickt gesellschaftliche Rollenbilder und die damit verbundenen Erwartungen. Besonders subtil, aber wirkungsvoll zeigt sie, wie tief verankert traditionelle Vorstellungen sind – oft unausgesprochen, aber dennoch allgegenwärtig.
So reflektiert Klara über die Arbeit eines männlichen Pflegers in ihrem Haushalt: „All das macht Paulína auch, aber das ist wohl selbstverständlich, weil sie eine Frau ist?“ Die Frage bleibt unbeantwortet, doch wirft sie ein Schlaglicht auf das unausgesprochene Ungleichgewicht: Während Paulínas Fürsorge als selbstverständlich gilt, wird dieselbe Arbeit bei einem Mann als besondere Leistung wahrgenommen. Diese stillschweigenden Erwartungen zeigen sich auch in Klaras Vorbehalten gegenüber dem männlichen Pfleger: „Klara hatte es so nicht sagen wollen, aber eigentlich ist es ihr auch unangenehm, mit einem fremden Mann zusammenzuwohnen, so gut er seine Arbeit auch macht.“ Mit subtilen Andeutungen macht Gregor sichtbar, wie gesellschaftliche Normen das Handeln der Figuren bestimmen – und wie schwer es ist, sich ihnen zu entziehen.
Besonders gelungen ist Gregors Erzähltechnik: Durch die wechselnden Perspektiven tauchen die Leser:innen tief in die Gedankenwelt beider Frauen ein. Mal erlebt man Klaras beruflichen Alltag, ihre Selbstverständlichkeiten und ihre Schwierigkeiten, echte Nähe zuzulassen. Dann wieder spürt man Paulínas Rastlosigkeit, die stetige Überforderung und das schleichende Gefühl, dass ihr eigenes Leben nicht mehr ihr gehört. Der Roman handelt von zwei Frauen, die Halbe Leben führen. Doch können ihre halben Leben zusammen ein Ganzes ergeben? Oder sind die Unterschiede zu groß, die Gegensätze unvereinbar?
Gregor lenkt mit Halbe Leben den Blick auf Realitäten, die oft im Verborgenen bleiben: die Lebens- und Arbeitsbedingungen ausländischer Pflegekräfte, die Herausforderungen der Vereinbarkeit von Karriere und Familie, gesellschaftliche Rollenzuschreibungen sowie Fremdheit und Entfremdung. Durch die feinfühlige Erzählweise, die wechselnden Perspektiven und die subtil steigende Spannung entwickelt sich ein Roman, der leise beginnt und mit voller Wucht trifft. Ein Buch, das nachhallt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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