Die Schrift hörbar machen

Cornelia Zetzsches Band „Vom Klang des Lesens. Wie Schriftsteller und Schriftstellerinnen lesen, hören, schreiben“ ist ein Plädoyer für das Hören

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Cornelia Zetzsches Band, erschienen in der Reihe „Wir wir lesen. Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik“, versammelt eine illustre Runde an Literaturschaffenden, die das Lesen nicht bloß als eine rein stille Tätigkeit begreifen. Der Autorin, Journalistin und Literaturkritikerin Zetzsche geht es um eine akustische Annäherung zur Schrift, die sich mannigfaltig gestaltet.

Dass das Hören beim Lesen eine wichtige Rolle spielt, umreißt Cornelia Zetzsche im Vorwort: „Ich höre Bücher, wenn ich sie lese, digital oder in Papierform. Ich höre den Sound von Autoren, höre stilistische Merkmale, die Stimmen ihrer Verfasser […].“ Kluge und sehr verständlich dargelegte Überlegungen der Autorin zu verschiedenen Aspekten des Lesens wechseln sich mit kurzen Porträts bekannter Schriftsteller:innen ab. Zetzsche lässt Alexander Kluge, Michael Fehr, Ulrike Draesner, Michael Köhlmeier, Mia Couto, Michael Lentz, Fiston Mwanza Mujila, Bachtyar Ali, Martin Walser, Nora Gomringer und Feridun Zaimoglu zu Wort kommen, indem sie einschlägige Gedanken und Verfahren dieser prestigeträchtigen Autor:innen vorstellt. Gemeinsam ist allen, dass Schreiben, Lesen und Hören nicht voneinander zu trennen sind und dieser Dreiklang eine bedeutende Rolle in den jeweiligen Arbeitsprozessen spielt.

Bemerkenswert ist die Fülle an unterschiedlichen Zugängen zur Schriftlichkeit und Mündlichkeit und zum Hören von Texten, auch über den Tellerrand des deutschsprachigen Kulturraums hinaus. So verdeutlicht der aus dem Irak stammende kurdische Schriftsteller Bachtyar Ali, dass allein der Besitz von Büchern insbesondere unter dem Regime Saddam Husseins lebensgefährlich war. Ali betont daher die Bedeutung der Tradition des mündlichen Erzählens in seiner Familie. Doch auch in anderen Sprachen hat das laute Erzählen eine immense Wertschätzung, sodass Literaturschaffende in indigenen Kulturräumen, wie z.B. in Mosambik oder im Hochland Tibets, der Schrift nicht unbedingt bedürfen.

Nicht zuletzt eröffnet das im Band versammelte Autor:innen-Ensemble Einblicke in die eigenen, individuellen Arbeitsweisen. So fasziniert beispielsweise das Verfahren des Schweizer Schriftstellers Michael Fehr, der aufgrund seiner Sehschwäche die Welt über das Gehör erschließt und sogar über das Hören seine Darbietungen steuert: „Wenn Michael Fehr seine Geschichten vorträgt, hat er – unsichtbar fürs Publikum – einen Knopf im Ohr, hört über Kopfhörer seine eigene, vorab aufgezeichnete Lesung und spricht sie auf der Bühne live nach.“ Gemeinsam haben alle Autor:innen, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Stimme und Text sich wechselseitig bedingen. So spielt etwa auch bei Ulrike Draesner das laute Lesen eine wichtige Rolle beim Schreiben, denn sowohl das Hören als auch das Schreiben vollziehen sich bei der Schriftstellerin simultan. Dies betrifft insbesondere ihre Lyrik, allen voran ihren 2022 erschienenen Gedichtband hell & hörig

Vor diesem Hintergrund ist es ein verdienstvolles Extra des Bandes, dass zahlreiche Kapitel mit einem QR-Code verlinkt sind, sodass die Stimmen der jeweiligen Autor:innen in Leseproben zu hören sind, sei es die unverwechselbare Stimme eines Alexander Kluge, das akustische Eintauchen in die leicht melancholische Klangfarbe des mosambikanischen Schriftstellers Mia Couto oder die dialektale Färbung eines Martin Walser.

Die Autorin stellt überdies zu verschiedenen Leseaspekten reflektierte Überlegungen an, streift in gebotener Kürze die Kulturgeschichte der mündlichen Weitergabe, der Erfahrung des Hörens sowie die Entwicklung der Schriftkultur. Was passiert eigentlich im Ohr, wenn wir hören? Was geschieht auf neurologischen Bahnen, wenn wir lesen? Und wie hätte Goethe geklungen, wenn er den Faust vorgelesen hätte? Zetzsche stellt Fragen, die zum Weiterdenken anregen. Erfrischend sind kleine anekdotenhafte Einsprengsel, wie beispielsweise Dostojewskis rekordverdächtig schnelle Fertigstellung seines Romans Der Spieler, den der Schriftsteller innerhalb von lediglich 26 Tagen seiner Frau diktierte.

Dass das Buch einen essayhaften Charakter aufweist, ist keinesfalls ein Werturteil, vielmehr lebt Zetzsches Band von seinem eigenen Rhythmus: Zum einen sind es die kurzweiligen und informativen Ausführungen der Autorin, zum anderen die alternierenden Stimmen der jeweiligen Personen, die ihre Gedanken darlegen und sich in ihrem Arbeitsprozess über die Schulter blicken lassen. Auch auf der Ebene der Sprache weiß Zetzsche einen klanglichen Rhythmus zu inszenieren, wenn sie die im Band zu Wort kommenden Persönlichkeiten und ihre Art der Performance erfrischend charakterisiert, wie z.B. Nora Gomringer: „Sie liest, spricht, ruft, schreit, sie rezitiert, flüstert und lautmalt ,drrrrrrring‘. Sie wispert, leiert, runzelt die Stirn, blinzelt, blättert, immer das Publikum im Blick.“

Zetzsches Buch erscheint zum richtigen Zeitpunkt, da das intensive (Zu-)Hören trotz visueller Medienflut offenbar wieder an Beliebtheit gewinnt. Die Autorin verweist auf die Vielzahl von Lesungen, Hörbüchern und Podcasts. Und wer den Sprachrhythmus in Vom Klang des Lesens genießen möchte, sollte das Buch zuweilen laut lesen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Cornelia Zetzsche: Vom Klang des Lesens. Wie Schriftsteller und Schriftstellerinnen lesen, hören, schreiben.
Transcript Verlag, Bielefeld 2024.
174 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783837669879

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