Aufforderung, der Verachtung entgegenzulesen

Ruth Klügers neu aufgelegte Essaysammlung „Frauen lesen anders“ bietet mehr als „ein originelles Vergnügen“, mit dem der Verlag wirbt

Von Christine FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Frank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frauen lesen anders: Der Titel von Ruth Klügers Buch ist irreführend. Hier lesen nicht Frauen. Hier liest eine, die sagt: Man kann anders lesen, auch wenn man eine Frau ist. Und wenn man als Frau liest – nämlich als eine als anders Gesetzte –, liest man anders und sieht man anderes. Irreführend ist auch die phrasenhaft verharmlosende Anpreisung im Verlagsprospekt, der „ein originelles Vergnügen“ verspricht. Ruth Klügers Essays sind von der Wucht eines Imperativs getragen, der seine Aktualität nicht eingebüßt hat. Dieser Imperativ heißt: „anders lesen“. Warum das so wichtig ist, lässt sich beim Lesen dieses Buches leicht entdecken. Klüger entwickelt hier keine Theorie, sie führt eine Praxis des Lesens vor, für die der 1996 erstmals erschienene und jetzt von Gesa Dane neu herausgegebene Band Frauen lesen anders programmatisch geworden ist. Er verdient mit Recht erneute Aufmerksamkeit, gerade jetzt.

Kurze Rückblende. „Am Abend des 4. November 1988“ war die amerikanische Germanistik-Professorin Ruth K. Angress in Göttingen auf dem Weg zu einer Aufführung von Schillers Don Carlos im Deutschen Theater. Ein jugendlicher Fahrradfahrer fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die Fußgängerzone und kollidierte mit der Fußgängerin, die durch den Zusammenstoß schwere Kopfverletzungen erlitt. In den ersten Momenten wie in den Tagen und Wochen danach kämpfte sie, die in ihrer Jugend Auschwitz überlebt hatte, noch einmal um ihr Leben. Als sie am Kopf getroffen wird, erlebt sie Flashbacks aus der Zeit der Lagerhaft. Sie vermischen sich mit Erlebnissen anhaltender Aggression und gegenwärtigen Ressentiments gegenüber jüdischen Menschen, die sie während ihres Aufenthaltes in Göttingen registriert hatte. Am selben Abend wird am Wiener Burgtheater Thomas Bernhards Stück Heldenplatz aufgeführt, das Intendant Claus Peymann zum „Bedenkjahr“ 50 Jahre nach den Pogromen des 9. November 1938 in Österreich und Deutschland bei Bernhard in Auftrag gegeben hatte – sehr zum Unwillen vieler Österreicher, die schon Wochen zuvor heftig dagegen protestiert hatten. Die Aufführung entwickelt sich zum größten Theaterskandal in der Geschichte Österreichs. Ein Jahr später ist Bernhard tot, und der Eiserne Vorhang gefallen. Zuerst werden die Grenzen zwischen Österreich und Ungarn geöffnet, dann werden – wiederum an diesem deutschen „Schicksalstag“, dem 9. November – auch die Grenzübergänge zwischen den beiden deutschen Staaten geöffnet. Die Nachkriegszeit ist zu Ende.

An diesem Wendepunkt nicht nur der deutschen Geschichte entschließt sich Ruth Klüger, „weil ich auf den Kopf gefallen war“, ihre eigene, davon nicht trennbare Geschichte aufzuschreiben, die in Wien begonnen und die sie durch mehrere Konzentrationslager geführt hatte, bevor sie, wenige Jahre nach Kriegsende, in die USA emigrierte, wo sie eine beachtliche Karriere als Universitätsprofessorin machte. Vier Jahre nach dem Unfall, 1992, erscheint unter dem Namen Ruth Klüger ihr Erinnerungsbuch weiter leben. Eine Jugend. Die Autorin wird weltberühmt, kann sich der Einladungen und Ehrungen kaum erwehren. In den folgenden drei Jahrzehnten bis zu ihrem Tod im Jahr 2020, in denen sie teils in Deutschland, teils in den USA lebt, erscheint eine ganze Reihe weiterer Bücher von Ruth Klüger. Man ist neugierig geworden auf die Autorin, die bis dahin eine gute Anzahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten publiziert, deren Leserschaft sich aber auf Fachkreise beschränkt hatte. Das Buch weiter leben. Eine Jugend wird zur Zäsur. Durch den gravierenden Unfall ist Ruth K. Angress in Ruth Klüger wieder auferstanden. Nach 1992 kommen neben dem zweiten autobiografischen Buch Unterwegs verloren (2008) und zwei Gedichtbänden (Zerreißproben, 2013, und Gegenwind, 2018) mehrere Essaybände von ihr heraus. Sie enthalten nur zum Teil Texte, die vor 1988 entstanden sind oder publiziert wurden. Die Mehrheit hat Klüger erst danach geschrieben – in einem Alter, in dem viele Menschen sich schon eines wohlverdienten Ruhestands erfreuen. Ruth Klügers Standpunkt bleibt unberuhigt. Ihre in diesen Jahren entstandenen Essays bilden ein schwerwiegendes Pendant zu ihrem literarischen Werk. Mehrfach wurde sie dafür ausgezeichnet. Trotz der Ehrungen, der zahlreichen Ausgaben und diversen Neuauflagen wurden die Essays bisher jedoch als komplexes Ganzes kaum gewürdigt. Wie Klügers literarisches Werk haben auch und gerade ihre Essays immer mit dem zu tun, was in Deutschland zur Geschichte wurde – und was sie als ihre eigene Geschichte erlebt hat.

Frauen lesen anders, der zweite Essayband nach Katastrophen. Über deutsche Literatur (1994), wurde jetzt von Gesa Dane, der Herausgeberin der Werke Ruth Klügers, neu aufgelegt. Er versammelt elf Essays zu Klassikern deutschsprachiger Literatur; fünf von ihnen sind vor der Zäsur, vor 1988 entstanden, fünf danach, in den 1990er Jahren, nur ein Text stammt aus diesem Jahrtausend. Ausgelassen wurde, da bereits an anderem Ort wieder veröffentlicht, der Schlusstext der Erstausgabe, „Gegenströmungen: Schreibende Frauen“. Er fungierte dort als eine Art Gegengewicht zu dem ersten Essay, der sich vor allem drei Autorinnen von Unterhaltungsromanen des 20. Jahrhunderts widmet, die bis in die 1960er Jahre hinein hohe Auflagenzahlen erreichten. Dieser Aufsatz ist nicht unwichtig. Wie einst Walter Benjamin richtet Klüger in diesem erstgereihten Essay den Blick darauf „Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben.“ Klüger analysiert die literarischen Strukturen gängiger Unterhaltungsromane der Moderne; es ist aber mehr als ein Beitrag zur kurzfristigen Mode, Trivialliteratur literaturwissenschaftlich ernst zu nehmen (in diesem Kontext ist der Essay 1974 erstmals publiziert worden). Klüger vermisst damit zugleich, ohne soziologisch zu argumentieren, das Feld der Vorstellungen, auf denen die Texte aufbauten und die sie den Lesenden vermittelten. Es ist das Feld, auf dem auch der Nationalsozialismus gedieh und Anhängerschaft fand – und bewahrte. Mit diesem langen Aufsatz bereitet Klüger in der Zusammenstellung ihres Bandes gewissermaßen erst den Boden für die Fragen, denen sie sich im Folgenden anhand renommierter Beispiele aus der Literaturgeschichte widmet. An den Unterhaltungsromanen lassen sich nicht allein Denkschemata und formale Muster aufzeigen, die sich auch bei anerkannteren Autoren – wie Erich Kästner, dem sie einen eigenen Essay widmet – finden: Trivialisierung, Sentimentalismus, Verlogenheit. Es sind Musterexistenzen, „bei denen zu guter Letzt Menschlichkeit und Weibliches auseinanderklaffen“. Unschwer lassen sich hier die Prototypen derjenigen erkennen, die jene „Banalität des Bösen“ ausübten und duldeten, wie sie Hannah Arendt in ihrem Buch über den Eichmann-Prozess beobachtet und beschrieben hat. 

Noch bevor Klüger sich mit Kästner auseinandersetzt – einer Ikone des bescheiden und moralisch sich gebenden deutschen Bürgertums noch lange nach Kriegsende – schließt der Band einen Essay an, in dem sie den bis dahin wenig beachteten „Frauenroman“ Therese von Arthur Schnitzler liest – gewissermaßen als Gegenbild zu den zuvor betrachteten Unterhaltungsromanen. 1928 erstmals publiziert, erscheint Therese in einer politisch unruhigen Zeit, ein Jahr nach dem Brand des Justizpalastes in Wien. Drei Jahre später, 1931, in Klügers Geburtsjahr, kam in Berlin das männliche Pendant dazu heraus, Kästners Fabian, den sich der nächstgereihte Essay kritisch vornimmt. Klügers Analyse von Schnitzlers Roman war eine Pionierarbeit; erstmals wurde diesem Text, mehr als vierzig Jahre nach seiner Erstpublikation, eine Einzeluntersuchung gewidmet. Sie erschien 1977 an renommiertem Ort (Modern Austrian Literature) und formuliert Bemerkenswertes, etwa wenn Klüger darstellt, wie „Schnitzler die verhängnisvolle Verantwortungslosigkeit einer Kunst, die nur Spiel und Lüge ist“, vorführt, oder wenn sie abschließend urteilt, Schnitzler sei es hier gelungen, „Österreichs vergeudete Erbschaft, verlorene Ehre und verkommene Heiterkeit noch einmal aufleuchten und dann erlöschen zu lassen“ – und das im Jahre 1928! Klügers Essay blieb nicht unbemerkt und traf mit dem Begriff „Frauenroman“ den Nerv der Zeit. Zwei Jahre später wurde in Wien die erste Dissertation dazu vorgelegt (Christina Mattedi, 1979), Einzeluntersuchungen zu dem wieder entdeckten österreichischen Klassiker mehrten sich; einige davon setzten sichtlich die von Klüger angestoßene Diskussion fort – so etwa Konstanze Fliedls Aufsatz „Verspätungen. Schnitzlers Therese als Anti­-Trivialroman” im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft (1989).

In einigen von Klügers Aufsätzen lassen sich heute Meilensteine germanistischer Forschung erkennen. In ihrer Zusammenstellung zum Essayband Frauen lesen anders werden darüber hinaus Verbindungen lesbar, die bei der Abfassung der Essays sicher nicht intendiert waren, aber als Gesamtzusammenhang neuen Sinn generieren. So wie die ersten drei Essays sich gegeneinander lesen lassen, so weist der Untertitel von Schnitzlers Roman, „Chronik eines Frauenlebens“, voraus auf einen Grundgedanken, den Klüger erst kurz vor Erscheinen der Sammlung 1996 in einem Text ausarbeitet, der gerade erst entstanden war: die Preisrede für den österreichischen Schriftsteller Erich Hackl, die sie „Die Wahrheit des Chronisten“ betitelt. In ihrem Zentrum stehen Hackls „Österreichbuch“, wie es Klüger nennt, Abschied von Sidonie (1989), sowie Sara und Simón (1995). Klüger geht hier Frauengestalten nach, ohne jedoch eine spezifisch feministische Perspektive auszuformulieren. Ihr Interesse hakt anderswo fest. Bei Hackl findet sie etwas, das sie selbst im Kern trifft. Es ist eine Auffassung vom Erzählen, die Hackl in einem Essay, den Klüger als „eine Art Glaubensbekenntnis“ bezeichnet, so formuliert hat: „Wer erzählt, glaubt trotz allem an die Fähigkeit des Menschen, anderen zu vertrauen.“ Vertrauen ist ein Zauberwort. Es ist eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit, menschliche Gemeinschaft zu bilden, Mensch zu sein, als Mensch zu überleben. Kann Erzählen Vertrauen restituieren? Mit Hackls Werk findet Klüger zurück zu einem Modell des Erzählens, das an Benjamin erinnert: „Ein Chronist ist ein historischer Erzähler, in Hackls Fall von Ungeheuerlichkeiten, die er recherchiert hat und die er in einer Sprache wiedergibt, die in ihrer streng durchgehaltenen Disziplin der Dynamik des Geschehens Rechnung trägt.“ Damit ist sie – aus denselben Gründen – schließlich wieder bei dem Autor angelangt, dem sie gleich eine ganze Reihe von Essays gewidmet hat: Heinrich von Kleist (sie bilden das heimliche Herzstück von Frauen lesen anders). „Bei Hackl wie bei Kleist hat das Geschehen den Vorrang: Es wird erzählt, weil etwas Erzählenswertes passiert ist.“ Kaum zu überlesen ist Klüger hier aber auch wieder bei sich selbst. In weiter leben. Eine Jugend hat Klüger selbst etwas erzählt, was passiert ist. Es war des Erzählens wert. In Frauen lesen anders argumentiert sie für eine Poetik des Lesens – ein Lesen, wie Künstler Kunstwerke betrachten, wenn sie studieren, wie die Werke der anderen gemacht sind, mit welcher Technik sie ihren Ausdruck finden. Und ihre Essaybände sind durchaus wohlkomponierte filigrane Netzwerke literarischer Beziehungen, die eigene Aufmerksamkeit verdienen und verlangen – Kai Evers hat dies erstmals am Beispiel von Klügers erstem Essayband Katastrophen. Über deutsche Literatur (1994) eindrucksvoll dargelegt.  

Was hat dies nun aber mit dem Titel der Sammlung, Frauen lesen anders, zu tun? Wo bleibt das feministische Engagement, das Ruth K. Angress seit den frühen 1960er Jahren so markant auszeichnete, wie die Herausgeberin Gesa Dane in ihrem fast diskret zu nennenden Nachwort knapp umreißt? Sicher gibt es stärker feministisch ausgerichtete Lektüren, wie sie die Essays „Goethes fehlende Väter“ oder eine Relektüre von Stifters Das alte Siegel bieten. Auch ein Gelegenheitstext wie ihre Dankesrede zum Grimmelshausen-Preis 1993, in dem sie gut gelaunt von „Grimmelshausens weiblichem Ich“ spricht, fehlt nicht. Immer sind es Texte, die es in sich haben, die mehr sagen, als sie sagen, weil sie anders lesen. In ihrer Preisrede beispielsweise fordert Klüger von ihrem Gegenüber „Bereitwilligkeit für Perspektivenwechsel und Zeitverschiebung“ – „es ist ja nicht gleichgültig, mit welchem Maßstab man die Zeit misst“ (sie bezieht sich hier provokant explizit auf die jüdische Zeitrechnung) – und begibt sich dann in ein fiktives Gespräch mit dem barocken Autor, zu dessen Ehren der Preis gestiftet wurde. „Grimmelshausens weibliches Ich“, das ist, in diesem Essay, die gelesene Frau und die Lesende: Beide sind sie „Berichterstatterin in bitteren Zeiten“. 

Im Zentrum der Sammlung schließlich findet man den titelgebenden Essay „Frauen lesen anders“, der auf einen Vortrag zurückgeht, den Klüger erstmals im Rahmen der Heidelberger Universitätsreden 1994 gehalten hat (hier zunächst in Form einer rhetorischen Frage formuliert) und der in leicht überarbeiteter Form mehrfach wieder abgedruckt wurde. Klüger führt hier unter anderem „ein Beispiel aus der bildenden Kunst“ an, das klassische Motiv vom Raub der Sabinerinnen, mit dem sich eigentlich niemand identifizieren will: „Als Frauen stehen wir vor diesem Prunk und dieser Pracht, wo unseresgleichen zu Gegenständen erniedrigt wird, und verdrängen unsere Beklemmung, um unser Kunstverständnis nicht zu kompromittieren.“ Sie hält den Hinweisen der Kunstmuseen, die entsprechenden Werke ästhetisch zu würdigen und die Bilder allein danach zu befragen, wie sie gemacht worden sind, die Frage entgegen „Warum sagt niemand etwas zum Inhalt?“ Sie hält ihnen den Einspruch gegen die „Verherrlichung oder Verharmlosung der Gewalt gegen Frauen“ entgegen, was nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Literatur weit verbreitet sei. Eine ähnliche, dabei noch stärker auf die Diffamierung von Andersheit und geschlechtlicher Hybridität bezogene Argumentation formuliert zur selben Zeit Anne Duden in Bezug auf die ikonische Darstellung des Kampfes des heiligen Georg gegen den Drachen in ihrem Essayband Der wunde Punkt im Alphabet (1995). Duden wie Klüger verfahren hier genauso wie schon Peter Weiss in seinem Roman Ästhetik des Widerstands (1975–1981), der darin klassische Werke der Kunstgeschichte, vom Pergamon-Fries bis zu Picassos Guernica, systematisch aus der Perspektive der in der Geschichte wie in der Geschichtsschreibung Unterdrückten ‚liest‘. In all diesen Lektüren geht es um mehr als „Frauen“ und feministisches Engagement. Es geht um das allgemeine Prinzip der Verachtung der jeweils als anders Gesetzten, dem Weiss wie Duden wie Klüger gerade in ihrer Wahrnehmung von und Aufmerksamkeit für diese Position der Anderen und in ihrer vorgeführten Einübung einer anderen Perspektive im Lesen (das sich bei ihnen immer auch als ein Schreiben artikuliert) Widerstand entgegensetzen.

Unvergesslich ist eine Episode aus der Zeit ihres Studiums in Regensburg ein Jahr nach Kriegsende, die Klüger in weiter leben so resümierte:

Ich hörte nur die Verachtung für Frauen, die in dieser Unterscheidung und in der Anmaßung der Männer lag, eine Art Vormundschaft über mich ausüben zu wollen. Erst hatte es die Verachtung der arischen Kinder für die jüdischen in Wien, danach die der tschechischen Kinder für die deutschen in Theresienstadt gegeben, jetzt die der Männer für Frauen. Diese drei Arten der Verachtung sind inkommensurabel, werdet ihr sagen, ich aber erlebte sie an mir selber, in der angegebenen Reihenfolge.

Das vergleichsweise späte Wahrhaben der „Verachtung für Frauen“ mag der Ausgangspunkt für Klügers explizit feministisches Engagement geworden sein. Es ist von der Erfahrung der Verachtung für jüdische Menschen, von der Verachtung für die jeweils als anders Wahrgenommenen nicht zu trennen. Gegen diese am eigenen Leib bitter erfahrene Verachtung hat Ruth Klüger sich in ihrem Lesen und Schreiben ein Leben lang aufgelehnt. „Anders lesen“ ist eine Konsequenz von „anders sein“; „anders sein“ aber ist nicht zu verachten. Es ist eine natürliche Gegebenheit, es ist die Bedingung der Möglichkeit von Individualität und „Weltverständnis“: „Jeder und jede von uns liest anders, wie kein Leben mit einem anderen identisch ist und sich jedermanns und jeder Frau Weltverständnis von jedem anderen unterscheidet“, schreibt Klüger gleich zu Beginn von „Frauen lesen anders“. Wer sich dieser eigentlich banalen Tatsache bewusst geworden ist, wird Achtung fordern für sich selbst in dem je eigenen Anderssein, und sollte bereit sein, sie anderen entgegenzubringen – und nicht eine angenommene Gruppenzugehörigkeit verabsolutieren und deren partikulare Interessen zum Maßstab der Dinge machen, geschweige denn als Argument zur Rechtfertigung von Gewalt gebrauchen.  

In diesem Sinne kann auch Klügers Essaysammlung Frauen lesen anders verstanden werden. Sie setzt das anders Lesen, das sie bereits in ihrer ersten Sammlung Katastrophen praktiziert hatte (und damit sind nicht Naturkatastrophen gemeint, sondern menschengemachte Katastrophen, auf Hebräisch Shoah oder Churban), fort. Dort hatte sie Texte aus der deutschen Literatur anders, nämlich als Jüdin, gelesen und war den Spuren der Verachtung der als anders gesetzten Juden in der deutschen Literatur vor und nach dem Holocaust nachgegangen.

In Ruth Klügers Bereitschaft und Aufforderung, anders zu lesen, wie es die Essays ihres Buchs Frauen lesen anders demonstrieren, geht es um die Bereitschaft, das Andere als anders wahrzunehmen und ernst zu nehmen, es anders zu lesen, um mehr zu sehen, mehr Perspektiven zu gewinnen, mehr Welt zu erfahren. Es geht darum, aus der banalen Tatsache, dass „sich jedermanns und jeder Frau Weltverständnis von jedem anderen unterscheidet“, nicht fatale Verachtung zu schöpfen und Gewalt zu generieren, sondern einen neuen kategorischen Imperativ der Wahrnehmung von und der Achtung für dieses Andere zu gewinnen. Es geht um ein Anderslesen, das uns alle betrifft und das gerade heute, wo wir neuen Katastrophen ins Auge sehen müssen, dringend nötig ist. 

Gesa Danes Neuausgabe der Essays von Ruth Klüger ist verdienstvoll aus literaturwissenschaftlicher Sicht, weil sie uns die überfällige Wahrnehmung der Notwendigkeit einer Poetik des Anderslesens in größerem Zusammenhang vor Augen führt. Als Modell kann sich solches Lesen aber auch jenseits des philologischen Interesses am Werk von Ruth Klüger bewähren – und das ethische Vermächtnis ihrer Schriften weiter leben lassen. Als Imperativ aufgefasst, bietet es eine Chance, der wieder sehr in Mode gekommenen Verachtung der Anderen zu widerstehen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Gesa Dane (Hg.) / Ruth Klüger: Frauen lesen anders.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
264 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783835356689

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