Ein weißer Rabe unter den heutigen Romanen oder Brücke über den großen Bruch
Reflexionen zu Jan Juhani Steinmanns Roman „Corvus Albus“
Von Philipp Schmuck
Es gab einen Bruch im Menschengeist. An diesem Bruch brechen gleichsam zwei Polarplatten in eine Schieflage: Über die eine schlittern wir, holprig, ins Heute, in unser Bildschirmjahrhundert. Die andere führt heim, folgt der Sehnsucht zum Geheimnis des Ursprungs. Dieser Bruch – lange angebahnt – geschah im industriellen Jahrhundert, das wir das ‚19.‘ nennen, und er geschah genau ‚zwischen‘ dem Denken zweier Schlüsselfiguren, die wie Wächter oder Richtungsweiser über den Rändern dieser Bruchstelle ragen und von der Kluft dieses Bruchs uns, das Menschengeschlecht, in entgegengesetzte Richtungen weisen. Der eine ist Kierkegaard. Der andere ist Nietzsche. Historisch kam es nie zu einem Gespräch zwischen diesen beiden. Es kam nie zum Versuch einer Brücke über diesen Bruch. Jetzt plötzlich liegt diese Brücke vor, souverän fertig gebaut von einem jungen Autor: In Gestalt seines Debütromans Corvus Albus.
In die Trübsal unserer digitalen Jetztzeit bricht dieser Roman wie ein Lichtstrahl in mein Leben. Es ist so ein Roman, während dem ich um 4 Uhr früh eine Stunde lang im Zimmer auf und ab gehe und einfach nur dankbar bin, dass es im Zeitalter der Verdunkelung des Geistes, der totalen Verdummung und Vermassung, so etwas überhaupt noch gibt!
Auf den ersten Blick geht es um ein fiktives Treffen der beiden genannten Philosophen. Detailverliebt und mit fast schon manischer Sorgfalt recherchiert: Bis ins kleinste Detail hat der Autor jahrelang zu den genauen Gegebenheiten der Stadt Basel des Jahres 1869 geforscht, wo dieses Treffen stattfindet, sogar der Fall der Schatten auf dem Straßenpflaster ist, für den Leser unmerklich, genau durchdacht wiedergegeben. Es geht aber eben nicht um Details. Es ist nicht nur ein historischer Roman, sondern ein transzendentaler Roman. Die Erzählung evolviert als Gespräch. Nach der Exposition der ersten ca. 70 Seiten kommt es voll in Gang und zieht den Leser immer weiter in seine Höhe.
Die Spannung, welche zwischen diesen beiden Geistern klafft, prägt unser Selbstverständnis als Menschen bis heute, bis in die Zeit des drohenden Transhumanismus hinein. In Gestalt dieser zwei Denker ringen zwei Grundgefühle des Menschen überhaupt: Jenes, das voll immer jugendlichem Elan vorstürmen will – zu den Sternen (so wie der heutige Mensch zum Mars) und über den Menschen hinaus, das alles umstürzen, alles abfackeln und alles wagen will, das Revolutionäre, das mit jeder Herkunft, jeder Wurzel, allem Grund und Boden unter den Füßen, ja allem Menschlichen aufräumt und bricht. Das ist Nietzsche. (Der selbst daran zu Bruch ging.) Und jenes andere, das Ältere, Stolzere, Ruhigere und auch Heiterere, das dies alles nicht braucht, sondern welches dieselbe Flamme, mit eng verwandtem schauspielernden Geist des Tricks und der Provokation nutzt, um den Menschen zum Gegenteil zu verführen: Zu sich selbst. Zu seiner Heimat. Ihn dorthin zurück zu verführen, woher er gekommen ist: In die reine Kindheit seiner Seele. Zum vielleicht möglichen Anblick Gottes. Das ist Kierkegaard.
Das Prinzip Hoffnung und das Prinzip Verantwortung scheinen hier im Kampf. Viele der Debatten des 20. Jahrhunderts sind in der Begegnung dieser beiden Geister schon in nuce angelegt. Kants begeisterter Blick in den „bestirnten Himmel“ scheint hier in einen Clinch geraten zu sein mit dem „Gesetz der Moral in mir“. Was in Kants berühmtem Ausruf noch durch ein schlichtes „und“ in einer Seele versöhnt war, scheint im 19. Jahrhundert zwischen Nietzsche und Kierkegaard aufgebrochen. Diese zwei widerstreitenden Seelen, diese zwei gigantischen Sehnsüchte und Wegweiser des Menschen stehen nun in freundschaftlichem Kampf. Prallen und wirken aufeinander. Und das, während eines scheinbar harmlosen, genial taktvollen und heiteren Gesprächs an einem unscheinbaren Tag in der kleinen Stadt Basel.
Der eine ist der ältere und hat den jüngeren gesucht. Er spielt ein geniales, trickreiches Spiel der Verführung. Kann ein großes Denken das andere verführen? Kann es ihm gelingen, den anderen einzuhegen? Wer trickst hier wen aus? Wie umschließen sich zwei scheinbar unvereinbare Flammen? Wer bindet wen? Hätte jemand die Flamme des Nietzsche-Geistes – nicht Nietzsche selbst, sondern den Impuls, für den dessen Leben und Werk steht – tatsächlich so herausfordern oder gar bannen können, wie der geheimnisvolle Herr K. es in diesem Roman versucht: Die Menschheit hätte sich die Katastrophe des 20. Jahrhunderts vielleicht erspart.
Und wir heute? Wir stehen heute vor dem sich Auftun der möglichen Abgründe des 21. Jahrhunderts. Welcher Geist bändigt uns? Wer ruft in uns noch die Erinnerung wach an das vielleicht für immer Verlorengegangene, das zwischen den Zahnrädern im Uhrwerk unseres Fortschritts zermalmt wird und selbst keine Stimme hat, uns zur Besinnung zu rufen?
Was diesem Roman so außerordentlich gut gelingt, ist die Schlichtheit. Die präzise Logik der Entfaltung. Wo jeder Absatz streng einberechnet ist, aber gleichzeitig natürlich „kommt“. Weiters beeindruckend – ja vielleicht gar das Hervorstechendste daran – ist das enorme Spektrum (geistig, emotional, erzählerisch), das der Autor mühelos abdeckt und verweben kann, so dass man es gar nicht merkt! Von höchster Höhe der Logik, Mystik, Theologie, über Religions- und Gesellschaftskritik, über schlicht Allzumenschliches des Alltags, bis zu Traum und Rausch, Freundschaft und Misstrauen, bis hin zur Sicht des Kindes, das die Engel sieht – all diese abgrundhoch verschiedenen Schichten spielen sich hier mühelos natürlich vor einem ab und ziehen immer tiefer hinein.
Seltsam, beim Lesen kam mir immer wieder der Vergleich mit Kafkas Prozess auf. Ein Vergleich mit diesem Jahrhundertroman: Das ist gewiss ein kühner Vergleich! Aber etwas darin gab mir wiederholt den Anklang an Kafkas großes Werk. Was ist das? Steinmanns Roman – inhaltlich, stilistisch, kulturell von Kafka sehr fern apart – folgt, so erscheint es mir wenigstens beim Lesen, der Struktur nach einer Inversion der Logik von Kafkas Prozess: Kafkas Prozess folgt der Logik einer Rampe in den Abgrund. Schon der erste Satz ist Freifall. Exponentiell wälzt sich bei Kafka die Katastrophe auf – mit jedem Detail. Steinmanns Roman folgt der Logik einer Rampe ins Licht: Wir beginnen auf dem Erdboden, sachlich, alltäglich, und steigen – nämlich unmerklich! – der Wechselrede der beiden Denker folgend, in immer höhere Regionen des Geistes und schließlich dem Himmel zu.
(Anm.: Der Autor sollte nicht Steinmann heißen, sondern Juhani. „Juhanis Roman“. Also Jan Juhani: Corvus Albus. Melodisch. Einprägsam. Lässt aufhorchen. Steinmann klingt so nach Stein-mann.)
Wenn jemand für das Lesen von Nietzsche und vor allem von Kierkegaard eine spannende, für absolut jeden verständliche Abkürzung will: Er soll diesen Roman lesen! Spannender wird eine Einführung nicht werden. Seit dem Lesen laufe ich herum, empfehle jedem diesen Roman. Aber „Gespräch Nietzsches mit Kierkegaard“ wirkt halt für viele zu abschreckend. Zu hoch.
Dazu ist zu sagen: In jedem von uns – hier, heute, 2025 – lauert eine Art Nietzsche-drive. Er will ans Limit. Er will freibrechen. Revolution. Zu den Sternen! Erfüllung aller Träume. Transzendierung der Spezies. Totale Macht über möglichst das ganz Universum. Und in jedem von uns ist, leiser, auch ein Keim von Kierkegaard: Die Sehnsucht in die Kindheit, zu Vater und Mutter, zum Ursprung und Grund. Zu dem hin, was wirklich zählt. Als die Welt noch normal war – oder eben: noch nicht aufgegangen war in wesenlose Normalität. Etwas, das auf sich verzichten will – und auf alle Macht und alle Sterne – und einfach heimgehen will zu dem, was letztlich Alles ist: Liebe.
Wer kann wen überwinden? Welche Sehnsucht trickst hier welche aus? Kann die eine die andere einhegen, reißt umgekehrt die andere die eine mit? Welcher Sehnsucht erliegen wir?
Diese Begegnung dieser beiden Blickrichtungen an der Bruchscheide des Menschen hätte in der Tat so stattfinden sollen.
Hier findet sie – nachgeholt, spät aber doch, auf dem überragenden Niveau dieser großen Geister der Vorzeit – nun lesbar für uns statt.
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