Delectare et prodesse
Marta Karlweis’ Debutroman „Die Insel der Diana“ bietet glänzende Unterhaltung – und mehr
Von Günter Helmes
Seit 2015 erscheinen im Wiener Verlag „Das vergessene Buch“ sukzessive die Werke der lange Zeit vergessenen, der wie viele andere auch von der nazistischen Kulturpolitik zunächst mundtot gemachten, ins Exil getriebenen und dann in der Nachkriegszeit von der Germanistik totgeschwiegenen österreichischen Schriftstellerin Marta Karlweis (1889-1965). Die, in einer kunstsinnigen Familie aufgewachsen und zeit ihres Lebens stark an psychologischen und psychotherapeutischen Fragestellungen, Theorien und Verfahren interessiert, war in zweiter Ehe mit Jakob Wassermann verheiratet, jenem literarisch wie weltanschaulich unterm Strich erstklassigen Erfolgsautor des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, dem man heutzutage mehr Leserinnen und Leser und mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit wünschen würde. Bislang sind ihre auch auf literaturkritik.de besprochenen Romane Ein österreichischer Don Juan, Schwindel. Geschichte einer Realität und Das Gastmahl auf Dubrowitza sowie die hier ebenfalls besprochene Novellensammlung Der Zauberlehrling erschienen, alle herausgegeben und mit ausführlichen, ebenso informativen wie instruktiven (Kontext, Leben, Werkgeschichte, Analyse und Interpretation, Rezeption) Nachworten versehen von Johann Sonnleitner.
Nun hat der Verlag mit Die Insel der Diana den 1919 erschienenen Debutroman von Marta Karlweis vorgelegt. Der, dessen erzählte Zeit an die drei Jahrzehnte umfasst, ist zum einen ein komplexer, nicht nur die mit bedeutungsgesättigten Namen versehenen Hauptfiguren Diana Caesarini und deren Ehemann Stephan von Lantin diesbezüglich ausleuchtender (Anti-)Liebes- und Eheroman. Den kann man literaturgeschichtlich über die genannten Hauptfiguren bspw. mit Großtexten wie Adalbert Stifters Erzählung Brigitta und Feuchtwangers Die häßliche Herzogin einerseits sowie mit Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray, Wilhelm Hauffs Das kalte Herz und der geradezu mythischen Don Juan-Figur andererseits in Verbindung bringen.
Er ist zum anderen ein labyrinthisch vielschichtiger, über die zentralen Handlungsorte Wien, Großraum London und die titelgebende fiktive Insel der Diana zahlreiche soziale Schichten – u.a. Künstler, Landarbeiter, Fischer, Diplomaten, Prostituierte, Ingenieure, Ärzte, Hoteliers und Wissenschaftler, im besonderen aber Adel und Großbürgertum – aufrufender, mit Entlarvung und Kritik nicht sparender Gesellschaftsroman. Als ein solcher kreist er um mit einander verwobene Themen wie Geschlechterbilder und -rollen, Klassen-, Schichten- und ethnologische Konflikte (Judentum), Banken, Börse und Politik, Lebensbedingungen und Lebensstile, Weltanschauungen und Mentalitäten, Hedonismus, Arbeitswelten und Arbeitsethos, Kunst, Wissenschaft und Erkenntnis, Natur, Zivilisation und Kultur sowie persönliche bzw. gesellschaftliche Zwänge und Freiheitsstreben. Von daher weist er auch Bezüge bspw. zu William Makepeace Thackerays Vanity fair or A Novel without a Hero sowie Teilen von Balzacs La Comédie humaine und Zolas Les Rougon-Macquart auf.
Das sei zu hoch gegriffen? Wenn man erliest, wie scheinbar spielerisch es der Autorin gelingt, all die sich zur Halde türmenden faktualen Bausteine und die in die Dutzende gehenden Figuren ihres Weltmodells in ein erzählerisch überzeugend motiviertes, anschaulich gestaltetes ‚Gespräch‘ aus längeren Sequenzen, Parallelhandlungen und Episoden miteinander zu bringen und sich selbst zugleich auf Moral abstinenter, poetischer Gerechtigkeit verpflichteter Distanz zu diesen Figuren zu halten, dann kann man diesen möglichen Einwurf getrost zurückweisen. Dabei sollte man sich auch nicht durch des großen Arthur Schnitzlers abfälliges Wort über den Romanerstling der Autorin („Was für eine scheußliche Sache kann Talent sein, wenn es auf dem Boden von Snobismus, Äfferei und Streberei wuchert“) irritieren lassen, empfand er Marta Karlweis als Person gegenüber doch lange Zeit Verachtung. Aber das ist ein anderes Thema.
Der extra- wie intradiegetisch verweisungsgesättigte Roman dürfte jedenfalls bei all denjenigen auf Zustimmung, ja sogar Begeisterung stoßen, die neben (meist) untadeliger literarischer Kunstfertigkeit, sezierender und doch zugleich poetisch-origineller, bildgewaltiger Sprache, gedanklich-psychologischer Tiefe, haarfeiner Beobachtungsgabe und erkenntnisgesättigter Welthaltigkeit nicht auf Handlungsreichtum und Schicksalswendungen, Spannungsbögen und Dramatik, so oder so markante Charaktere, verwickelte, auch abgründige Figuren- und Familienkonstellationen, Erotik, Leidenschaft und Gefühlsturbulenzen, Liebe und Hass, Bangen und Hoffen und dergleichen mehr, kurz: auf mitreißende Unterhaltung mit einem Schuss Kolportage und Pathetik verzichten wollen.
Im Zentrum des Romans stehen die bereits genannten zwei Hauptfiguren und nicht, wie der Romantitel suggeriert, die auch Isola della vergine genannte Insel der Diana. Die hat, so das Nachwort, wie andere Lokalitäten im Roman auch „unschwer lokalisierbar[e]“ reale Vorbilder, hier die Inselgruppe Brioni vor Istrien. Doch ist der Titel insofern nicht falsch gewählt, als das wesentliche Handeln der Hauptfiguren durch diese Insel motiviert ist bzw. sich auf diese Insel als einem anderen Zwecken dienenden Werkzeug richtet. Einmal dergestalt, dass es Diana Caesarini über ihren früh verstorbenen Vater unabweisbar aufgetragen ist, aus diesem unwirtlichen, Malaria verseuchten Eiland um seiner selbst willen eine Kulturlandschaft entstehen zu lassen, koste es existentiell auch, was es wolle. Zum anderen insofern, als Stephan von Lantin versucht, über den klammheimlichen Erwerb dieses von der in einem unauflöslichen Dilemma zwischen väterlichem Willen und Kapitalmangel steckenden Diana zu einem „noblen Touristen-Hotspot“ (Nachwort) für die europäische Hautevolee entwickelten Eilands wieder Kontakt zu seiner schon lange von ihm getrennt lebenden Ehefrau zu bekommen.
Diese nachmalige Ehefrau, die bei der letzten Begegnung mit dem Vater vier Jahre alte, ob dessen Abreise nach Asien untröstliche Diana Caesarini wird nach dessen frühem Tod auf seinen Wunsch hin von ihrem Vormund Ferdinand von Lantin „unterrichtet und gehalten wie ein Knabe.“ Zugleich bestimmt von Lantin sie, die u.a. Wissbegier, Fleiß, Tatendrang, Offenheit, Klugheit, Willensstärke, Menschenfreundlichkeit und Großmut auszeichnen, die aber auch ausnehmend spröde ist und eine „tiefe Scheu vor körperlicher Berührung“ hat, dereinst die Ehefrau seines ältesten Sohnes Stephan zu werden. Das wird sie auch, doch verlässt sie Stephan nach einiger Zeit, als der sich, entnervt von Dianas leidenschaftsloser körperlicher Reserve, ja Verweigerung – „Mein Körper ist lau, er kann nicht jauchzen“ –, seiner Stiefschwester Isabella zuwendet. In der Kultivierung der Isla della vergine und der Sorge für Bedürftige findet sie – „Ich bin getrennt von allen, zwischen mir und den Männern und den Frauen ist eine unsichtbare Mauer“ – fortan als „weibliche[r] Don Quijote“ ihren Lebensinhalt, bis …
Bei Stephan von Lantin, der wohl ein Dutzend Jahre älter als Diana ist, scheint es sich auf den ersten Blick um ein Glückskind zu handeln, macht er doch, von Natur aus ein Beau, schon in jungen Jahren als Diplomat und später als Finanzhai Karriere. Doch hat Stephan nicht nur ein „kaltes Herz“, er muss auch, dessen „Natur […] nichts von Gemeinsamkeit“ weiß, „die Foltern des an sich gebundenen Egoisten“ erleiden: „[W]as bin ich für ein elendes, verworfenes Schwein!“ Als skrupelloser Verführer und Verderber, der er ist und auch in den Ehejahren bleibt, droht er auch die ihn liebende Diana ins Unglück zu stürzen, mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass er zu seiner eigenen Fassungslosigkeit ausgerechnet ihr und nur ihr gegenüber Liebe empfindet. Freilich ist sein Trieb stärker, und so verliert er Diana wieder (s.o.). Als er, innerlich zusehends abgestorben, Eigentümer der Insel der Diana geworden ist, kommt es dort zum ehelichen Showdown. Dessen Ausgang entscheidet letztlich über sein künftiges Schicksal.
Neben diesen Hauptfiguren sollte es der Leser nicht versäumen, sein Augenmerk auf eine ganze Reihe weiterer Figuren zu lenken. Im Einzelnen u.a. auf die völlig konträren, in einer Ehehölle gefangenen Eltern Dianas und hier insbesondere auf die kaltherzig-grausame, unzufrieden-missgünstige und doch auch – Stichwort: poetische Gerechtigkeit – bedauernswerte Mutter Fürstin Franziska, auf Helen Lantin geb. O’Neill, die Stiefmutter von Stephan Lantin, die dessen Vater Ferdinand nur aus Not geheiratet hat, obwohl ihr vor ihm „gegraut hat“, auf die gutherzige Helene Kasimir, die, von einem Bildhauer Jehan de Bry „verwüstet“ und mit einem kränklichen Kind sitzengelassen, auf der Insel der Diana zur Vertrauten der vereinsamten, nur von ihrer Dienerin Seraphita, einer Totschlägerin aus Notwehr, umgebenen Diana wird, auf die hochattraktive Isabella (s.o.), Tochter Helen Lantins und vom Leben zur Berechnung missformt, eine der Geliebten Stephan von Lantins, auf die weiteren Geliebten von Lantins, die kaltsinnige Hetäre Mabel und deren in ihrer Unschuld zum Opfer prädestinierte, mit Helen Kasimir befreundete Tochter Sylvia, auf den von „Alkohol und perversen Leidenschaften arg zerstört[en]“ Maler Jan Czibulka, dessen groteske Porträts die Verkommenheit der sog. besseren Gesellschaft demaskiert, auf den von „heftigen Begierden“ befallene Pater Knorr von Rotholz, auf den Bankpräsidenten von Putigam, an dem weder Nachname noch Adelstitel echt sind, auf den russischen Grafen Spanoffsky und dessen „flackernde[n] Talmiglanz“, auf Jakob Ephraim Hirsch, jenen jüdischen Handels- und Finanzmagnaten, dessen und dessen Umfeld Zeichnung man allerdings mit Antisemitismus in Verbindung bringen kann, auf Stephan Lantins jüngsten Bruder Charlie, der, nicht eben intelligent, auf die schiefe Bahn gerät.
Was alle Figuren diese Epochenbildes am Vorabend des Untergangs der k.u.k.-Welt eint? Sie alle sind Gefangene, gefangen in ihrem Naturell, gefangen in ihrer Herkunft, gefangen in dem, was ihnen in den Lebensweg gespült wird. Da tragen Rebellion, Freiheitsstreben, Selbsterziehung und selbst Erfolge immer nur ein Stück weit, eine Zeit lang.
Was die Figuren trennt? Nicht nur Klassen- und Schichtzugehörigkeit, nicht nur individuelles Wollen, Vermögen und Schicksal. Sondern vor allem auch das biologische Geschlecht, das maßgeblich darüber entscheidet, wie sehr die Figuren das Leben erleiden müssen. Wie fragt doch Diana ihre ihr tendenziell feindlich gesinnte Mutter schon ziemlich zu Anfang des Romans, als diese sich ihr einmal mit Einblicken in die eigene Lebensgeschichte öffnet: „Sind denn alle Frauen nur die Erde, die man ackert?“
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