Der mit den Wölfen heult

Der französische Philosoph Baptiste Morizot diagnostiziert in „Arten des Lebendigseins. Annäherung an das verwobene Leben“ eine Krise unserer Beziehung zum Lebendigen und plädiert für einen kosmopolitisch-höflichen Umgang mit den anderen Lebensformen

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles beginnt mit der Beobachtung der Natur und der Bewunderung für das, was sich um uns herum abspielt. Das ist aber keineswegs die Beschreibung eines Ist-Zustands im Verhältnis von Mensch und Natur, sondern eher eine Forderung. Denn was um uns herum lebt, würden wir eher als Kulisse betrachten, als „ein Reservoir an Ressourcen, das für die Produktion zur Verfügung steht, als einen Ort der Erholung oder als eine emotionale und symbolische Projektionsfläche“. Nur bedeute das eben nicht, dass wir auch nur im mindesten verstehen, was wir derart selektiv und zweckorientiert wahrnehmen. Es tun sich da fundamentale Defizite auf. Baptiste Morizot, der Philosophie an der Universität Aix-Marseille lehrt, wünscht sich ein Umdenken. Warum er das für notwendig hält und wie das aussehen könnte, davon handelt sein Buch Arten des Lebendigseins.

„Ziel dieser Untersuchung wird also sein“, so verrät uns der Autor,

einen Aspekt der abendländischen philosophischen Morallehren von der Perspektive aus neu zu deuten, der zufolge sie Theorien des gespaltenen Ichs konstituieren, in denen die Tiermetapher eine besondere Rolle spielen.

Einfach gesprochen, wir Menschen haben irgendwann angefangen, uns aus dem „verwobenen Leben“ zu verabschieden und der Natur eine Hierarchie aufgezwungen, die sie nicht kennt und mit dem Menschen als die Krönung. Die Tiervergangenheit ließ sich zwar verdrängen, aber nicht wirklich vergessen.

Der moderne Mensch verlange, alles müsse austauschbar sein, weil er überall zu Hause sein will: „alle Orte, Techniken und Praktiken, alle Fertigkeiten, alle Lebewesen, die Honigbienen, die Apfelsorten, die Weizenarten“. Alles verfügbar und austauschbar. Dabei verteidigen wir gern unser Tun, so Morizot, mit der Ausrede, es gebe keine Alternative. Bei all der angeblichen Alternativlosigkeit sind wir gut dabei, uns am Ende noch selbst abzuschaffen.

Weil er Theorie und Praxis aber gleichermaßen in seine Betrachtungen aufnimmt, nennt er das, was er für uns Lesende in Buchform gebracht hat, eine „philosophische Novella“ – Novella, abgeleitet aus Novelle und Roman und das Ganze mit philosophischen Gedanken aufbereitet und durchdrungen. Ein nicht unwesentlicher Teil des Buches hat in der Tat einen literarischen Anspruch, nämlich wenn der Autor uns in „Eine Zeit bei den Lebewesen“ Episoden wiedergibt über die Suche nach einem Wolfsrudel, um mit ihm Kontakt aufzunehmen, ihm so nah wie möglich zu kommen. Morizot führt uns mit seiner Spurensuche ins Vercors, einer Region am westlichen Rand der französischen Alpen.

„Wenn man den Gesang hört, dann fühlt man sich tatsächlich als Teil dieser Geschichte, dieses gemeinsamen Schicksals der Lebewesen auf der Erde.“ Doch was wir davon verstehen, ist allenfalls rudimentär. Morizot imitiert den Wolfsgesang, aber ohne zu wissen, was er da von sich gibt. Er heult mit den Wölfen in der eisigen Winternacht im Gebirge. Auch wenn sie zuerst noch antworten, so scheinen sie doch bald zu erkennen, wer sich in ihre Kommunikation einmischt und schweigen nun. Eine wiederkehrende Erfahrung. Untereinander gibt es dieses Schweigen nicht, denn dort bleibt die Kommunikation dialogisch.

Natürlich lesen sich diese Episoden spannend, wie ein Abenteuer – gerade auch, weil es sich um Wölfe handelt. Morizots Beobachtungen führen ihn immer auch zu interessanten Einsichten – wie etwa dieser:

Das Geheul wäre also eine Einrichtung, die die Gefahren der körperlichen Konfrontation zwischen Rudeln einschränkt, eher eine geopolitische Technik der Konfliktvermeidung als eine Einrichtung territorialer Markierung, denn das Geheul scheint relativ unabhängig von geografischen Grenzen zu sein.

Wie überhaupt eine informative Kargheit des Geheuls anzunehmen sei.

Das grundsätzliche Problem bei der Interpretation von Beobachtungen beschreibt der Autor als den Versuch, Unübersetzbares zu übersetzen. Und doch lässt sich alles beschreiben – wie etwa gewisse Zeremonien und Rituale innerhalb der Wolfsrudel, oder das Spiel von Körperpositionen. Freilich liegt eine Gefahr im Aufsuchen von Ähnlichkeiten, indem wir das Unbekannte mit dem uns Bekannten gleichsetzen. Und dennoch beginnt das Verstehen mit dem Beobachten. Hier wäre an das großartige Werk des französischen Insektenforschers Jean-Henri Fabre zu erinnern, diese zehn Bände der Souvenirs entomologiques (in deutscher Übersetzung als Erinnerungen des Insektenforschers ebenfalls bei Matthes & Seitz erschienen).

Mit Blick auf die Wolfs-Geschichten stellt sich für Morizot nicht die Frage, ob der Mensch ein Tier wie die anderen sei, sondern auf welche Art, auf welche andere Art ist er es. Darum ist die Frage: „Von welcher Art Animalität ist die Menschheit?“ Das Zusammenleben von Wolf und Mensch ist freilich nicht konfliktfrei. Auch davon ist in dem Buch ausführlich die Rede. Wir kennen diese Geschichten von Wölfen, die blutige Massaker an Schafsherden verüben. Ein Teil des Problems ist freilich menschengemacht, denn mit der Domestizierung von Tieren haben wir ihnen zugleich die Wehrhaftigkeit weggezüchtet, die sie einmal besaßen. Die Erkenntnis ist hier: Empathie hilft leider nicht weiter, weil sie uns nur vom einen zum anderen wanken lässt – von der Empathie für die Schafe zur Empathie für die Jungwölfe, die von den Hirtenhunden angegriffen werden bis hin zur Empathie für den Schäfer, der den Schaden hat. Und schlussendlich kommt noch durch die intensive Weidewirtschaft die kahlgefressene Wiese hinzu, die sich nicht mehr regeneriert.

Empathie ist also nicht die Lösung, aber Morizot entlässt uns Lesende jedoch nicht ohne Vorschläge und resümiert dabei:

Anstatt an die Liebe zur Natur zu appellieren oder die Furcht vor der Apokalypse zu beschwören, scheint mir der passendste Weg […] darin zu liegen, die Zugänge, Praktiken, Diskurse, Werke, Vorrichtungen und Erfahrungen zu vervielfältigen, die fähig sind, uns vom Gesichtspunkt der Interdependenz aus fühlen und leben zu lassen; uns als Lebewesen unter Lebewesen fühlen und leben zu lassen.

Also nicht Gleichheit, sondern Gegenseitigkeit sei der Schlüssel. Morizots Vorschläge sind allemal bedenkenswert, nur mit dem Handeln wird es wohl hapern.

Titelbild

Baptiste Morizot: Arten des Lebendigseins. Annäherung an das verwobene Leben.
Übersetzung von Richard Steurer-Boulard.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024.
332 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783751820196

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