Acht Jahre, in denen der junge K. erwachsen wird

Khashayar Khabushanis „Kein Licht wie die Sonne“ erzählt aus Sicht eines Heranwachsenden, wie es ihm und seinen muslimischen Brüdern vor und nach 9/11 ergeht. Ein Roman nicht nur für Erwachsene

Von Mechthild HesseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthild Hesse

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman Kein Licht wie die Sonne ist ein Loblied der Lyrik, des geschriebenen und gesprochenen Worts. Der englische Titel I Will Greet the Sun Again, entstammt einem Gedicht der Lyrikerin Forugh Farrochsad. Die Zeilen spielen eine wichtige Rolle in der Interpretation des Romans. Aber zunächst ein Überblick über den Roman selbst.

Kein Licht wie die Sonne schildert neben den normalen, typischen Veränderungen von Jugendlichen zwei existentielle Brüche im Leben von drei Brüdern einer iranstämmigen Familie: Ihre Entführung in den Iran durch den eigenen Vater und der Terroranschlag von 9/11.

Der Roman beginnt mit dem in an amerikanischen Schulen beliebten „Spelling Bee“ Contest, einem Klassenzimmer-Wettkampf , in dem es um das richtige Buchstabieren von Wörtern geht. Der 9-jährige Ich-Erzähler und Protagonist K. wird nur zweiter in seiner vierten Klasse. Dabei hatte er sich so sehr den Gewinn des ersten Preises, eines neuen T-Shirts erhofft! Denn er trägt nur das verwaschene und viel zu große T-Shirt seines großen Bruders.

Dies verweist auf die prekäre Situation von K.s Familie, die in einem beengten Zwei-Zimmer-Apartment in Los Angeles lebt. Der Vater hatte zwar an der Columbia Universität studiert und bei Boeing als Ingenieur gearbeitet, aber ist seit Jahren arbeitslos, bemüht sich offenbar auch nicht um einen Job. Nur die Mutter bringt Geld heim von ihrer Arbeit als Schwesternhelferin. Zudem versucht sie sich noch weiter zu qualifizieren, was dem Vater offenbar gar nicht passt.

Daher entführt er seine drei Kinder in den Iran, seine Heimat und die seiner Frau, ohne die Kinder oder seine Frau über seinen Plan aufzuklären. Dort vermissen sie ihre amerikanische Heimat L.A. Sie sind alle dort geboren; die beiden älteren Brüder haben auch amerikanische Namen, während der Jüngste seinen ganzen Vornamen nicht verrät, offenbar weil er schwer auszusprechen ist und auf seine Herkunft verweist ; er lässt sich nur K. rufen. (Man kann vermuten, dass es sich um den Vornamen des Autors Khashayar handelt.)

Trotz dieser Entführung sind die drei Jungen offen für die fremde Umgebung in Isfahan, die Freundlichkeit der Familie, die Erzählungen über die Vergangenheit des Iran, die Revolution. Allerdings verabscheuen sie das verschmutzte Bad und WC im Haus des Großvaters und die Tatsache, dass sie diesmal das Schlafzimmer nicht nur miteinander – wie zu Hause – sondern auch noch mit dem Vater teilen müssen. Sie haben immer wieder Heimweh, vor allem K. sehnt sich nach seiner Mutter, aber auch nach seinen Freunden aus dem Block. Seine Brüder wünschen sich ihre amerikanische Umgebung, das Essen, den Sport herbei, sogar die Schule, in der sie offenbar recht erfolgreich sind. Beim Eisessen im Bazaar sagt Justin:

Weißt du, was ich wirklich vermisse? Schafen zu können. Shit, ich vermisse sogar die Schule…. Da war ich gut, …, da habe ich verstanden, was das soll.

Nachdem sie von ihrer Tante Kahleh, der Schwester der Mutter, auf deren Bitte hin nach Teheran und später nach Shomal vor dem autoritären, übergriffigen Vater in Sicherheit gebracht werden, sorgt diese auch für den Rückflug der drei Jungen.

In den drei Monaten ihres Aufenthalts haben die Brüder gelernt, sich anzupassen: Nicht nur an die primitive, schmutzige Unterkunft im Haus des Großvaters und die staubige, laute Umgebung der beiden Großstädte Isfahan und Teheran, sondern auch an die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Familie, den Aufenthalt auf der imposanten Chadschu Brücke in Isfahan und die üppige Natur der Umgebung von Shomal am kaspischen Meer. K. hat auch gesehen, welche Liebe die Tante und die Mutter noch miteinander verbindet.

Aber nach drei Monaten sind sie sind glücklich wieder in L.A. zu sein und werfen sich alle ins amerikanische Leben: Justin, der klügste, liest viel und erreicht zunächst gute Noten, Shawn vervollkommnet intensiv sein Basketballspiel, K. erfreut sich wieder der Begegnungen mit Johnny und Christian, den zwei etwas älteren Freunden aus dem Block.

K. ist vor allem auch froh, wieder in der Nähe von Johnny zu sein. Er sehnt sich danach ihn zu berühren, traut sich selber aber noch nicht. Im Lauf des Romans verrät er durch kurze Hinweise auf die Anziehungskraft von Männerhaut und Männerhaar, dass er sich zu Jungen und Männern hingezogen fühlt. Nur die nächtliche Begegnung in seinem Bett mit seinem Vater verabscheut er, kann mit keinem über den Missbrauch sprechen. Erst am Ende, nachdem er gewagt hat, sich Johnny auch körperlich anzunähern, findet er in ihm einen, dem er das Geheimnis des väterlichen Missbrauchs anvertraut. Dieses Gespräch erlöst K. von seinen Schuldgefühlen.

Der zweite Bruch im Leben von K. sind die Terroranschläge von 9/11. Plötzlich erleben die Brüder, die in die amerikanische Umgebung voll integriert waren, auch rassistische Anfeindungen.

Erst am Ende des Schultags begreife ich, dass Steven und Danny mich und alle anderen, die so aussehen wie ich, die Töchter und Söhne von Immigranten, Muslime, für das neue Leid Amerikas verantwortlich machen, als hätten wir die Flugzeuge gekapert und wären damit in die Twin Tower geflogen. 

Am krassesten wirkt sich der Umschwung auf Justin aus:

Dass vor Iran Justin immer als erster aufgewacht ist, ein leichtes Lächeln im Gesicht, sich angezogen und für die Schule fertig gemacht hat und mir damit ein Vorbild war, zu dem ich aufsehen konnte und das ich jetzt nicht mehr habe. Dass es sich, obwohl wir weiter zusammengelebt haben, für mich anfühlt, als wäre mir mein Bruder vor Jahren weggenommen und in einen anderen verwandelt worden, in seine Einzelteile zerfallen, und obwohl er inzwischen unzählige Bücher gelesen hat, ist es ihm immer noch nicht gelungen, sich wieder zusammenzusetzen. 

Justin, schon besonders gezeichnet durch die gewaltsame Entführung in den Iran, verliert seine Freundin, mit der er große Pläne schmiedet, geht nicht mehr zur Schule, hört auf zu lesen. Die Lektüre von Siddharta, die er seinem kleinen Bruder empfiehlt, führt ihn nicht zur inneren Einkehr, sondern zum Gegenteil: zum Militär nach Georgia. Dort ist er stolz auf seine körperliche Fitness, die ihm ein Überlegenheitsgefühl den anderen Rekruten, aber auch seinen Vorgesetzten gegenüber, verschafft.

Während Justin schon beim Militär ist, zehrt K. noch von den früheren intimen Erzählungen seines Bruders, über die Liebe zu dessen Freundin. K., der wie die anderen Jungen auch immer Interesse an angeberischen Sexerzählungen von jungen Männern hatte, hört von seinem Bruder, wie sich der Sex mit einer Frau anfühlt, wo es nicht um Angabe, sondern um Zärtlichkeit und Respekt vor dem Anderen geht.

K. merkt, dass ihm etwas fehlt, aber weiß noch nicht so recht was. Angeregt durch den Vorgesetzen Andre bei MacDonalds, der ihm sagt, dass er da anfangen soll, „was direkt vor deinen Augen liegt“, denkt er über sein eigenes weiteres Leben nach: „Ich denke darüber nach, was für ein Mensch ich sein will, habe aber keine Ahnung, wo ich anfangen soll.“

Darauf verweist K. noch in dem letzten Telefonat mit seinem Bruder, bevor er sich entscheidet, sein Leben zu verändern und in Richtung New York wegzuziehen.

Der aus der Perspektive des Protagonisten erzählte Roman ist offenbar ein auto-fiktionaler coming of age – Roman. Es ist ein Roman, in dem es um Identität eines iranisch-stämmigen, amerikanischen Jungen geht. In den acht Jahren der erzählten Zeit hat K. mehr erlebt als so mancher Jugendliche seines Alters in L.A.. Er hat die Heimat seiner Eltern kennengelernt, die ist ein Teil seines Lebens geworden:

wenn ich jetzt gefragt werde, erinnere ich mich an das Gefühl, dass ich und meine Brüder sagen können, wir haben eine Heimat, dass wir unseren Freunden im Valley sagen konnten, woher unsere Familie kommt – wie Iran klingt und aussieht und riecht –, von dem persönlichen Kummer, den sie tief in die Erde ihres Landes vergraben mussten, der zu dem gehört, was wir sind. Wir tragen nicht nur Irans lange Geschichte in uns, seine Schönheit und seine Kunst, sondern auch seine Dunkelheit.

Aber warum ist Kein Licht wie die Sonne ein Loblied der Lyrik, des gesprochenen und geschriebenen Worts? Wenn man das auf dem Roman beruhende Zitat ernst nimmt, dann geht es vor allem um Liebe. Der englische Originaltitel I Will Greet the Sun Again ist ein Gedichtzitat der iranischen Dichterin Forugh Farrochsad „I will greet the sun again/ the stream that once flowed in me…/ I will come, I will come, I will come/ and the entrance will be filled with love.“ Auf dieses Gedicht wird im Roman mehrfach angespielt, zum Beispiel als K. im Iran durch Schlaflosigkeit und Heimweh geplagt wird, tröstet ihn die Tante mit dem Gedicht und ein paar weiteren Zeilen im Buch:

„Weißt du, was ich vom Leben will?… dass ich ganz bei dir sein kann, dir, bei dir ganz…“ K. sieht ein Foto der Dichterin im Buch, das ihn an seine „Maman“ erinnert. Er erkennt, in der Darstellung des Lebens der Mutter, dass sie der Dichterin ähnlich ist, dass sie einen Traum hatte und etwas aus ihrem Leben machen wollte und daher mit ihrem Mann nach USA gezogen ist. Kaleh redet über die Heirat seiner Mutter weiter in der Stimme, mit der sie das Gedicht gelesen hat. Der Klang des Gedichts ist ihm wichtig, wie auch der Klang der Stimme der Lehrerin beim Buchstabieren im „spelling bee“ – Wettbewerb in der vierten Klasse, als die Lehrerin die Wörter so liest, als wären alle Wörter heilig.

Das einzige, was sich mir eingeprägt hat, waren ein paar Momente, die ich im Klassenzimmer von Ms. Kim erlebt habe, wie sorgfältig sie jedes einzelne Wort bei unseren wöchentlichen Buchstabierwettbewerben ausgesprochen hat. Es spielte keine Rolle, welches Wort oder wie einfach es war, die Art und Weise wie sie aufgestanden ist und laut in den Klassenraum gesprochen hat, während wir alle ganz still waren, hat mir das Gefühl gegeben, dass alle Wort heilig sind.

Und am Ende, als K. in der Abfertigungsschlange am Flughafen stehend im Begriff ist L.A. zu verlassen, erinnert er sich, an das Forugh Farrochsads Buch, das seine Mutter ihm zum Abschied gegeben hat.

Maman ließ ihre Finger über eine aufgeklappte Seite gleiten, die schöne Schrift mit den Wirbeln und Punkten, und las mir vor – Ich werde die Sonne wieder grüßen, das Rinnsal, das in mir floss… Ich komme, ich komme, ich komme, und die Schwelle füllt sich mit Liebe. Das war der Klang von etwas durch und durch Reinem, Forughs Begehren, das so heftig war wie der Hunger, den ich in mir spüre, ein Begehren, das mir in seinem aufscheinenden Licht mehr verspricht und immer noch mehr, mehr Wärme, mehr Hitze-, ich spüre wie es mich antreibt.

Kurz vor dem Flug zur Ostküste fragt ihn der Zollbeamte nach seinem richtigen Namen. Jetzt spricht er zum ersten Mal seinen Namen ganz aus:

Ich gehe zum Gate und sage meinen Namen noch mal und noch mal und noch mal. Ich übe, wie er klingt, höre zu, wie er sich verselbständigt.

Er ist mit sich im Reinen.

Titelbild

Khashayar J. Khabushani: Kein Licht wie die Sonne. Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Sievers.
dtv Verlag, München 2025.
272 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783423284219

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