Was bleibt, sind lauter Fragezeichen

Peter Handke schaut mit „Schnee von gestern, Schnee von morgen“ zurück in die Zukunft und lässt dabei alle Sicherheiten des Lebens hinter sich

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer wie Handke ins Alter gekommen ist und die 80er Marke überschritten hat, dem wird die Kontingenz des Lebens wohl nur allzu bewusst sein – gewollt oder ungewollt. Es ist dann so, wie es an einer Stelle in dem hier zu besprechenden neuesten Werk des Autors heißt: Die Natur rücke fern und ferner, „aber je ferner sie rückt, und je mehr sie entrückt, desto näher kommt sie, unverhofft“. Sie kommt als die einzige Gewissheit im Leben, um es zugleich zu verabschieden.

Auch dieser unter die Kategorie Spätwerk fallende Prosatext ist eine Art Abschiedswerk, ein dünner Band mit gerade mal 74 Seiten im großzügig gehaltenen Satzspiegel und in einer geradezu luftig-leichten Sprache verfasst, in dem die Fragezeichen wohl mit den höchsten Anteil unter den Satzzeichen haben und nur durch das Komma, das noch häufiger auftritt, überboten werden. Letzteres deshalb, weil die ohnehin kurzen Sätze noch mal stakkatoartig rhythmisiert werden durch lauter Kommas.

Neben den formalen wie inhaltlichen Auffälligkeiten des Textes gibt es auch Besonderheiten, die den Autor Handke insgesamt betreffen. So etwa eine scheinbar ungebrochene literarische Produktivität einerseits und andererseits ein damit verbundener und nicht zu leugnender Solipsismus. Doch während Handke immer wieder um sich selbst kreist und eine unablässige Selbstbeschau betreibt, kommt doch bemerkenswert viel Welt darin zum Vorschein. Genau darum geht es ja, um Handkes Weltverhältnisse. Und was die Produktivität betrifft, so ließe sich hier leicht der berühmte philosophische Satz Cogito ergo sum in ein „Ich schreibe, also bin ich (noch)“ verwandeln. Manche mögen darüber genervt sein und zum Vorwurf greifen, es sei doch alles über Handke von Handke bereits gesagt. Weshalb beispielsweise eine Rezension anlässlich einer früheren Neuerscheinung titelte: „Nicht schon wieder“.

Natürlich ist es das Privileg der Kritik zu kritisieren, aber das heißt nicht, dass ihre Gründe das bessere Argument liefern. Denn der zitierte genervte Rezensent gibt ja doch nur zu verstehen, wie wenig er das Wesen der Sprache als das Arbeitsmaterial von Schreibenden kennt: Mit der Sprache kommen wir nämlich nie an ein Ende. Oder nur, wenn das eintritt, was in Handkes neuestem Werk so umschrieben wird: „[…] quer über die Steppe stolpern, aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging und eine, wo er nicht mehr ging“ oder „Die Große Kälte naht – oder auch nicht.“ Und dass jener Rezensent kaum für alle Lesenden sprechen kann, ist ja wohl ebenso klar, hält ihn aber nicht davon ab, zu behaupten, es habe eigentlich „niemand mehr so recht Lust, sich mit Handke zu beschäftigen“. Aber ist das so?

Ich jedenfalls habe den schmalen Band mit Genuss und einigem Gewinn gelesen. Letzterer lag bei ein paar verblüffenden Einsichten. Der Genuss wiederum ist der sprachlichen Schwerelosigkeit zu verdanken – dieses Hinweghuschen über Redewendungen und Sprichwörter, um sich gerne mal kalauernd auf die Sinnsuche zu begeben und um im ewigen Hin und Her, ein Lob der Unentschiedenheit auszusprechen. Nichts bleibt darin ohne Gegenfrage: „Es wird schon. Oder auch nicht? Noch nicht! Nicht mehr? Oder doch?“ Man mag das als Relativierung lesen und verwerfen, aber tatsächlich beschreibt es das Leben als Möglichkeitsform. Festlegungen haben hier ihren Sinn verloren, alles geht ins Offene und so auch ins Ungelöste – die alte Hamlet-Frage, die bis heute unbeantwortet blieb. Aber vielleicht gibt es bei all dem Entweder-Oder noch ein Drittes, zumindest dann und wann. Es lebe der Konjunktiv.

Apropos, Handke bringt auch den ein oder anderen Kalauer: „Hör ich Regen in der Nacht, bin ich, o Glück, um meinen Alp gebracht.“ Oder „Ich weiß jetzt, wie der Hase läuft, und hier liegt der Hund begraben, oder wer, und wer noch?“ Aber auch solches findet sich:

Ah, Schönheit, und wie falsch jede Steigerung zu schöner oder gar ‚am schönsten‘ – wie doch gesteigerte Schönheit das Schöne verfälscht? Oder auch nicht? Das Schöne von Natur unsteigerbar? Oder doch?

Wie wäre es damit: „Vor lauter Wohltätern nirgends ein guter Mensch mehr.“ Und mancher Witz gelingt nur im Alter: „Und wozu deine ewige Körperertüchtigung? Um die Strapazen des Paradieses zu überstehen.“

Welcher Mensch wäre ohne Schattenseiten. Wer indes in der Öffentlichkeit steht und sich selbst dort immer wieder neu platziert und dazu ein Literaturnobelpreisträger ist, dem trägt man gerne und oft seine Schattenseiten nach. Worauf Handke möglicherweise antworten würde:

Und trotzdem war, bisher, jeweils das Schlimmste überstanden, sooft ich unwillkürlich, nicht laut, sondern stillschweigend ins Erzählen geraten bin, auch wenn das mir und / oder meinen Anderen Gedrohte ein paar Augenblicke zuvor noch unsägliche Gegenwart war. Dabei habe ich bis zur heutigen Stunde nichts dazugelernt, und, insbesondere, nichts weggelernt – gelernt aber immerhin, was es hätte sein können, was es sein könnte, das Lernen […].

Titelbild

Peter Handke: Schnee von gestern, Schnee von morgen. Der neue Bühnentext des Nobelpreisträgers.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025.
74 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518432259

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