Der eigentliche Lehrer
Der Briefwechsel zwischen Hans-Georg Gadamer und Martin Heidegger gibt etwas über das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern zu verstehen
Von Gerhard Poppenberg
Briefe zwischen Schülern und Lehrern, Professoren und Studierenden betreffen in der Regel Organisatorisches, Fachliches und bisweilen auch Persönliches; sie sind aber nicht von öffentlichem Interesse. Sie werden es erst, wenn die Korrespondenten in der Folgezeit zu Personen des öffentlichen Lebens werden, und auch nach ihrem Tod das Interesse an ihnen weiter besteht. Das ist für die Philosophen Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer in starkem Sinn der Fall. Von Heidegger sind inzwischen über ein Dutzend Briefwechsel ediert. Er gilt weltweit als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, und Gadamer ist sein wohl wichtigster und seinerseits einflussreicher Schüler. Der Briefwechsel zwischen den beiden umfasst einen Zeitraum von über fünfzig Jahren und endet erst mit dem Tod Heideggers. Er umfasst 219 Briefe und Karten sowie einige zusätzliche Dokumente. Er wurde von den Herausgebern Jean Grondin und Mark Michalski aus den Nachlässen ediert und mit Anmerkungen und Erläuterungen reichhaltig kommentiert. Sie informieren über die Personen, deren Namen erwähnt werden und klären historische Kontexte, sodass man einiges über die Wissenschafts- und Universitätspolitik im 20. Jahrhundert erfährt. Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus wird in den Briefen so gut wie nicht angesprochen. Ob es im mündlichen Gespräch zwischen den beiden ein Thema war, bleibt verborgen.
Der Briefwechsel beginnt 1922, als Heidegger noch als Privatdozent in Freiburg lehrte, aber unter ambitionierten Studierenden schon einen Ruf als bedeutender philosophischer Kopf hatte. Und er bekommt dann doch sehr schnell eine persönliche Dimension. Das ist auch in anderen Korrespondenzen Heideggers der Fall. Karl Löwith etwa schildert dem akademischen Lehrer in einem fast zwanzig Buchseiten umfassenden Brief seine Probleme mit dem Studium und dem Leben allgemein, und Heidegger antwortet ihm darauf einlässlich und ausführlich. Ein Grund dafür dürfte sein, dass Heideggers Denken von Anfang an im Bereich des Alltäglichen der „Gestimmtheit des Daseins“ gründete und daraus hervorging, sodass Affektivität und Rationalität, Leben und Philosophie in ihm verbunden sind. Hinzu kommt, dass er auch privaten Umgang mit seinen Schülern pflegte; er machte Wanderungen oder Skifahrten im Schwarzwald mit ihnen und lud sie gar zu längeren Aufenthalten auf seine Hütte in Todtnauberg ein. Die so in langen Gesprächen entstandenen persönlichen Beziehungen sind in den Briefwechseln nur unzulänglich nachzuvollziehen. Zwischen Heidegger und Gadamer wurde daraus in den fünf Jahrzehnten der Korrespondenz eine wahrhafte Freundschaft, die allerdings bis zuletzt durch das Lehrer-Schüler-Verhältnis geprägt blieb.
Darin liegt ein besonderes Interesse der Lektüre solcher Briefwechsel. Sie gestatten Einblick in die eigentümliche Struktur der Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern allgemein sowie ihrer besonderen Ausprägung in einer historischen Epoche. Sigmund Freud hat gelegentlich vermerkt, das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern gleiche dem zwischen Söhnen und Vätern und werde durch dieses vorgebildet. Das zeigt sich bei Löwith und Gadamer in unterschiedlicher, aber doch eindrücklicher Weise. Der „geistige Vater“ Heidegger wäre wohl ausgehend von den zahlreichen Briefwechseln einer eigenen Untersuchung wert.
Das Verhältnis zwischen den beiden ist zunächst klar bestimmt. Gadamer studiert und qualifiziert sich, Heidegger kommentiert Entwürfe, schreibt Gutachten und macht dem Schüler vor allem klar, dass sein philosophischer Ansatz unterkomplex ist. Deshalb wendet der sich zunächst dem Altgriechischen zu und habilitiert sich als Altphilologe, sucht aber weiterhin den Kontakt zu seinem philosophischen Lehrer. In einem fünf Buchseiten umfassenden Brief vom 17. April 1929 berichtet der Privatdozent von den Themen für seine Lehre, von geplanten Publikationen und hofft auf die „Sanktionierung“ durch den Lehrer. Das setzt sich in den Folgejahren fort. Gadamer brauchte lange, um seinen eigenen philosophischen Weg zu finden.
In zwei Briefen vom März 1928 berichtet Gadamer vom Krebsleiden seines Vaters, und Heidegger antwortet mit Ausführungen über das Leiden und Sterben seiner Mutter. Man „lernt bei solchen Gelegenheiten, dass der Tod keine Belanglosigkeit des Daseins“ ist. Der wirkliche Tod ist etwas anderes als das Existenzial der Endlichkeit, das Heidegger in Sein und Zeit analysiert hatte. Nach dem Tod des Vaters ist für Gadamer die väterliche Instanz auf Heidegger „übergegangen“, wie er selbst formuliert. Das ist für ihn vor allem eine „verpflichtende Erwartung“. Er sucht bei Heidegger „Kritik und Anweisung“ für seine Arbeiten. Bis zum Ende bleibt Heidegger für ihn diese Vaterinstanz. Nach dessen Tod schreibt er im Mai 1976 in einem Beileidsbrief an Elfride Heidegger vor allem von sich – „wie nah mir dieser Abschied geht“ – und seinem Verhältnis zu dem Verstorbenen. „Kein Mann, selbst mein eigener Vater nicht, war so viel für mich wie Martin Heidegger“; das Verhältnis zu ihm war für ihn „eine wahrhafte Frage des Seins oder Nichtseins“.
Bis in die Sechzigerjahre bleibt Heidegger der „verehrte liebe Herr Heidegger“. Und als der schließlich an den „lieben Freund“ schreibt, antwortet Gadamer – neun Jahre nach Wahrheit und Methode, er ist fast siebzig, Heidegger achtzig Jahre alt – dem „verehrten Freund“, gar dem „hochverehrten Freund“ und grüßt „in herzlicher Verehrung“. Die Verbindung von Freundschaft und Verehrung ist nicht nur für das Verhältnis zwischen den beiden bedeutsam, sie kann auch etwas über das Lehrer-Schüler-Verhältnis allgemein zu verstehen geben.
Am 26. Oktober 1954 schreibt Gadamer über ein mögliches Treffen von Schülern Heideggers und deren Verhältnis zu ihm. Sie sind, trotz teils fortgeschrittenen Alters, noch Schüler, weil Heidegger dergestalt „weiter vorausgegangen“ ist, dass sie ihm nur „nachgehen“ können. Das ist der „schlichte Ausdruck“ von seinem „Übergewicht“. Gadamer führt das weiter aus mit Verweis auf Heideggers gerade publizierte Vorlesung Was heißt Denken? Es geht dabei um „den eigentlichen Lehrer und das Verehrenkönnen“, das man „nicht lernen“ kann, „und doch kann nur lernen, wer es kann und nie verlernt“. Es handelt sich offenbar um ein Vermögen, das – wie der ingeniöser Mutterwitz – eine Gabe ist; deshalb ist es nicht zu erlernen, nur zu üben und zu kultivieren. Das verehrende Lernen ist offenbar das, was man Kultur nennt.
An der Stelle, die Gadamer im Sinn hat, am Übergang von der VI. zur VII. Vorlesung, handelt Heidegger davon, dass ein Dialog Platons auf vielfältige Weise auszulegen ist. Das „Vieldeutbare“ ist aber „kein Einwand gegen die Strenge“ der Gedankenführung. „Die Mehrdeutigkeit ist vielmehr das Element, worin das Denken sich bewegen muss, um ein strenges zu sein.“ Ein Dialog Platons hat kein „handgreiflich eindeutiges Ergebnis“; er ist „seinem Wesen nach unausschöpfbar“. Das nennt Heidegger „das Schöpferische“, das sich „nur jenen Menschen zuneigt, die verehren können“.
Zunächst scheint Heidegger gar nicht vom Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, sondern zwischen Texten und Lesern zu sprechen. Aber für Gadamer liegt genau darin das eigentliche Lernen. Es ist nicht so sehr ein Verhältnis zwischen Personen, sondern eines, das durch Sachverhalte und ihre unterschiedliche Auslegung gestiftet wird. Nicht Platon oder Heidegger, sondern ihre in Texten ausgeführten Gedanken sind das Element des Lernens, das offenbar, indem es sich mit dem „Schöpferischen“ der Gedanken auseinandersetzt, selbst schöpferisch ist. Dieses schöpferische Lernen ist das, was man Bildung nennt. Verehrung ist das Medium des Lernens, weil das zu Lernende dem Lernen ‚vorausgeht‘ und ein „Übergewicht“ hat, dem der Lernende sich nach- und anbildet. Deshalb hat Gadamer zeitlebens ein Verhältnis der Verehrung zu Heidegger. Und deshalb ist für Gadamer die Instanz des Vaters nicht so sehr in einem psychologisch-ödipalen, sondern in einem philosophisch-denkerische Sinn auf Heidegger „übergegangen“. Allerdings ist die Frage, was ein „geistiger“ Vater ist und wie er sich zum „leiblichen“ und „symbolischen“ Vater verhält, bislang noch nicht einmal als ein Problem erkannt – geschweige denn, was eine „geistige Mutter“ ist.
Der Gedanke des schöpferischen Lernens, das nicht so sehr zwischen Personen, sondern in der Auseinandersetzung über Sachverhalte stattfindet, kann als der „Keimentschluss“ (Schleiermacher) für Gadamers eigenes Denken verstanden werden. Es ist der Grundgedanke der „philosophischen Hermeneutik“, die er einige Jahre später als Wahrheit und Methode (1960) publizierte. Auslegung bedeutet nicht, einen Autor zu verstehen, sondern seine Texte und die in ihnen verhandelten Sachverhalte. Und diese Auslegung ist immer auch ein Andersverstehen; das ist das Schöpferische der Auslegung und des so verstandenen Lernens. Deshalb gehören, so Gadamers in seinem verehrenden Verhältnis zu Heidegger entwickelte Einsicht, die Auslegungen eines Werks zu diesem Werk selbst. Es entfaltet im Zuge seiner Deutungsgeschichte die wesentliche Mehrdeutigkeit in Gestalt der vielen möglichen Auslegungen.
Im Laufe der Jahre wird das Verhältnis zwischen den beiden zunehmend ausgeglichen und kehrt sich bisweilen nachgerade um. Es ist Gadamer, der Heidegger als Mitglied für die Heidelberger Akademie der Wissenschaften vorschlägt und seine Wahl durchsetzt. Und Heidegger, der Sohn aus kleinbürgerlich-bäuerlichem Milieu, bittet den einer bürgerlich-urbanen Umgebung entstammenden Gadamer um Rat, welche Art Anzug er wohl für die Zeremonie zur Aufnahme in die Akademie tragen soll. Zugleich bleibt er der Lehrer, der, wenn er zu Akademievorträgen nach Heidelberg kommt, ein Privatissimum mit illustren Kollegen und Nachwuchsphilosophen im Hause Gadamers veranstaltet oder in Gadamers Seminaren Vorträge hält.
Der namentlich erwähnte Nachwuchs – Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Ernst Tugendhat und andere – zeigt, welche Anziehungskraft das Heidelberg der Fünfziger- und Sechzigerjahre für kluge Köpfe offenbar hatte. Darin stand Gadamers akademische Lehre der Heideggers in Freiburg offenbar kaum nach. Nicht erwähnt wird der Romanist Hans Robert Jauß, der in den Fünfzigerjahren seine Studien- und Assistentenjahre in Heidelberg verbracht hatte und seine Rezeptionsästhetik, die er in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung 1967 mit scharfer Kritik an Gadamer vorstellte, als eine Art Gadamer fürs akademische Volk entwickelt hat.
Nach der Publikation von Wahrheit und Methode wird das Verhältnis der beiden erkennbar zu einer intellektuellen Freundschaft. Heidegger nennt es im Brief vom 14. Oktober 1964 ein „großes Buch“ und am 11./18. November 1974 „bis heute die einzige produktive Auseinandersetzung mit Sein und Zeit; freilich nur in einer bestimmten Richtung“. Er bedankt sich 1964 für Gadamers Würdigung seines Denkens zum 75. Geburtstag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er zeigt sich höchst angetan von der Darstellung und fragt sich „nach wiederholtem Lesen, wie Sie das machen“. Er vermutet, es liege „an unserem verwandten Verhältnis zum Dichterischen und daran, dass Sie auf Ihre Weise meinen Weg mitgegangen sind und im Gespräch mit den Griechen zu denken vermögen“. Heidegger sieht in Gadamers Denken offenbar Geist von seinem Geist. Die Darstellung ist auf der Höhe dessen, was er als seinen eigenen Denkweg begreift.
Die Frage, „wie Sie das machen“, beantwortet er einerseits damit, es geschehe „aus langem eigenen Vor- und Zurückdenken“, andererseits durch eine gemeinsame geistige Verwandtschaft: das „verwandte Verhältnis zum Dichterischen“, und schließlich durch das „Gespräch mit den Griechen“, das sie beide lebenslang führen. Deshalb auch kommt Heidegger immer wieder gern nach Heidelberg, um in Gadamers Kreis Vorträge und Seminare zu halten. Gadamer ist für ihn zu einem wahrhaften Gesprächspartner geworden, mit dem er im Problem- und Fragehorizont seines eigenen Denkens ernsthaft und für ihn selbst fruchtbringend sprechen kann. Eine Formulierung Gadamers vom 4. April 1969 zeigt, was die beiden verband: Hier spricht er von Heideggers philosophischer „Kraft“, die für seine „eigenen Möglichkeiten der Teilhabe am philosophischen Gedanken“ bedeutend war. Wie die hermeneutische Erschließung nicht den Autor, sondern den Text zu verstehen unternimmt, ist auch das denkende Gespräch nicht so sehr eines zwischen Personen; deren Freundschaft geschieht – so erdet er Platons Grundgedanken der methexis, der Teilhabe am Ideenhimmel – als im Gespräch entwickelte „Teilnahme am philosophischen Gedanken“.
Nachdem Gadamer ihm mitgeteilt hat, er halte eine Vorlesung „Von Hegel bis Heidegger“, schreibt Heidegger am 2. Juli 1964, er finde das „sehr aufregend“, weil das eine „ganz neue Fragestellung“ sei, die „für die Sache und für mich selbst“ bedeutsam sei, nämlich für die Frage nach dem „Ende der Philosophie“. Er schlägt vor, das Seminar bei seinem Besuch in Heidelberg über Gadamers Vorlesung zu halten und möchte selbst gern die Vorlesung am Tag seiner Ankunft hören. Er hat Gadamer nicht nur als Geist von seinem Geist akzeptiert, sondern wird nachgerade zu seinem Schüler, indem er sich in dessen Vorlesung setzt. Am Ende des Wintersemesters 1968/69 ist er noch einmal Gast in Gadamers letzter Vorlesung. Er hält eine Ansprache und beginnt sie mit „Lieber Freund und Weggefährte“. Berücksichtigt man, wie bedeutsam die Metapher des Wegs für Heideggers Denken ist – „Wege, nicht Werke“ ist das Motto zur Gesamtausgabe –, wird deutlich, dass er Gadamer nun endgültig und öffentlich als Freund und gleichartigen Denker akzeptiert. Gadamer war in Marburg Hörer von Heideggers erster Vorlesung, jetzt ist Heidegger Hörer in Gadamers letzter Vorlesung. Dazwischen: „Achtung, Zuversicht und Dank (wechselweise) in der Art des Denkens. Mehr braucht darüber öffentlich nicht gesagt zu werden.“ Das Nicht-Öffentliche der zahllosen Gespräche zwischen den beiden bleibt auf immer im Verborgenen.
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