Ein ukrainischer Jude liebt das Russische
Dimitrij Kapitelman wählt die Sprache als Erzählweg und begibt sich in seinem Roman „Russische Spezialitäten“ auf Identitätssuche
Von Thorsten Schulte
Russische Spezialitäten lautet der Titel des neuen Romans von Dimitrij Kapitelman. Zugleich ist es der Untertitel des Magasin, eines Ladens in Leipzig, den die Eltern des dem Autor offenkundig sehr nahen Erzählers betreiben. Dabei bieten sie im Magasin nicht nur russische Spezialitäten an. Vieles kommt aus anderen osteuropäischen Ländern – auch aus der Ukraine. Deshalb zeugt bereits der Untertitel des in den 1990ern eröffneten Lebensmittelgeschäfts von Aneignung, von jenem russischen Imperialismus, welcher sich schließlich fast dreißig Jahre später im brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine entlädt. Zwar stammen die Eltern des Erzählers wie andere Angestellte auch aus der Ukraine, aber die Mutter hält zu Russland und zu Putin, auch im Krieg. Sie sind Juden, aber weil er seine ukrainische Heimat unterstützt, wird der Erzähler von einem Freund der Familie als „Fascho“ beschimpft. Bizarr sind die Anschuldigungen, ebenso wirr und faktenverdrehend sind die Wahrheiten aus „Fernsehrussland“, welche die Mutter des Erzählers begierig aus dem Fernseher und Social Media aufsaugt. Ein Freund, Rostik, sagt zum Erzähler:
„Was man [nach dem Massaker der Russen in Butscha im Frühjahr 2022, d.V.] da sieht, kriegt man nicht mehr aus dem Kopf, nicht mal die ganz harten, die schon ewig im Osten gekämpft haben. Das kann man nicht verarbeiten, nicht verstehen, nicht verstecken vor sich selbst. Ich konnte dann erst mal gar nichts. Was sagen eigentlich deine Eltern zu Butscha, Dim?“ […]
„Meine Mutter behauptet, das sei ein ukrainischer Fake.“
„Was?“
Rostik verschluckt sich fast. Seine Augen verschlucken sich definitiv, als hätte irgendein Fiesling Sand reingeschleudert. Allerdings nur kurz.
Trotzdem liebt der Erzähler seine Mutter. Und er liebt das Russische, spricht es im Wortsinn „mutter-sprachlich“. Diese Schreibweise der Mutter-Sprache mit Bindestrich wird im gesamten Buch beibehalten, um zu unterstreichen, dass es tatsächlich die Sprache der Mutter ist. Die Muttersprache ohne Bindestrich des in Deutschland aufgewachsenen Erzählers ist Deutsch. Er bezeichnet sich als „chronischen Sprachinhalierer“ und changiert zwischen Deutsch und Russisch. Sprache ist eine besonders wichtige Komponente der kulturellen Identität, und Kapitelman wählte die Sprache und ihre identitätsstiftende Funktion in seinem neuen Roman als Erzählweg. Jahrelang bemühte sich der Erzähler um ein fehlerfreies Russisch, welches die Zugehörigkeit zu seiner Familie und seiner ukrainischen Herkunft unterstrich. Schließlich vermittelte der russische Laden Russen wie anderen Osteuropäern in Leipzig ein Heimatgefühl. Doch jetzt steht das Russische für Russland – und nicht mehr für Kyjiw, eine Heimat, einen Sehnsuchtsort. Ein ambivalentes, den Erzähler quälendes Verhältnis: Einerseits distanziert er sich von der politischen Sprache, andererseits liebt er sie. Ein wenig Russisch lernt der Lesende; und wie nah sich Russisch und Ukrainisch sind. „Russkijie ne sdajutsa!“ wird im Buch übersetzt mit „Ein Russe gibt niemals auf!“ Russland erhebt auch wegen der Sprache seinen Anspruch auf das Territorium der Ukraine. Diktatoren wollen bestimmen, sie wollen über die Geschichte eines Landes und auch über die Kultur und die Sprache bestimmen. „Das muss man ihnen wegnehmen“, sagte Dimitrij Kapitelman auf seiner Buchvorstellung am Stand der taz auf der Leipziger Buchmesse Ende März 2025. Indem man die Sprache trotzdem liebe, nehme man Diktatoren ein Stück ihrer Macht. „Ich bin ukrainischer Jude in Deutschland, aber ich liebe diese Sprache.“ Der Ich-Erzähler in Russische Spezialitäten fragt sich wie Kapitelman, wo er überhaupt noch Russisch sprechen kann. Und er distanziert sich von seiner Mutter. „Der Krieg herrscht und trennt mit jedem Tag tiefer“, betont der Erzähler.
Der Krieg trennt Menschen. Auch weit von der Frontlinie entfernt, in Deutschland. Das ist eine Kernbotschaft von Kapitelmans Roman. Weniger wahrnehmbar ist dagegen die Debatte über Russen und insbesondere Putins Unterstützer in Deutschland. In Russische Spezialitäten bekommt der Erzähler ein Propagandavideo von seiner Mutter auf das Handy geschickt. Es ist ein Video mit „fast schon Selbstmitleid darüber, wie anstrengend es ist, ein anderes Land auszulöschen“. Der Erzähler springt in die Leipziger Straßenbahn, wo plötzlich das Video erneut startet und in seiner Hosentasche gnadenlos laut plärrt. Er blickt in die entsetzten Gesichter dreier ukrainischer Mütter und ihrer Kinder, schämt sich und verlässt den Waggon an der nächsten Haltestelle. Bemerkenswert an dieser Szene ist, dass allein die Reaktion eines der Kinder vom Erzähler betont wird: „Jetzt hat auch das Töchterchen die Augenringe der Mutter im Gesicht, die die Grenze zur Gewalt am eigenen Körper ziehen.“ Die Ukrainerinnen gehen nicht gegen die vermeintliche Provokation vor, sie blicken nur entsetzt. Mit dieser knappen, kompakten und erschütternden Szene weist Kapitelman deutlich auf die schwierigen Situationen hin, welche sich aus dem Aufeinandertreffen von Feinden, von russischen Aggressoren und ihren Opfern, ukrainischen Geflüchteten in Deutschland, ergeben.
Im Mai 2023 trat die russische Sopranistin Anna Netrebko im Wiesbadener Staatstheater auf. Gegenüber dem Haupteingang protestierten rund 350 Menschen gegen die Bühne für die Künstlerin, welche im Kreml Geburtstag gefeiert und sich nie von Putin distanziert hatte. Die Demonstration war „ungeheuer emotional“, schrieb die Frankfurter Rundschau (Ausgabe 06.05.2023). War das Adjektiv „ungeheuer“ in seiner Übertreibung unterstellenden Semantik bewusst gewählt? Den wütenden Demonstranten standen Besucherinnen und Besucher des Konzerts in tadelloser Abendgarderobe gegenüber, die erkennbar süffisant lächelten und den Demonstranten mit ihren Sektgläsern zuprosteten. Es sollen Freunde Russlands darunter gewesen sein. Schwer erträglich, ebenso schwer erträglich ist es, reichen Russen dabei zuzusehen, wie sie ihr Geld in Baden-Baden ins Casino tragen oder ihr Leben in luxuriösen Villen am Tegernsee genießen. Oligarchen sollen schon nach der russischen Annexion der Krim erhebliche Vermögenswerte beiseitegeschafft haben. Die in Kapitelmans Roman stets als „Fernsehrussland“ bezeichnete Entität – im Roman als Oberbegriff für die in Talkshows und Filmen verbreitete Propaganda, regimetreue Stimmen und ihre Lügen, genutzt – gibt es auch in Deutschland. Darüber wird viel zu wenig gesprochen und geschrieben.
Resignation kann eine Konsequenz sein. In Russische Spezialitäten schließt der Magasin. Die Familie verliert nach all den Jahren die Kraft, ihren Laden zu betreiben. Der Erzähler erinnert sich wehmütig daran, wie die Familie schuftete, um acht Lkw ukrainischer „Malzbrühe“ zu verstauen: „Und wie egal das heute ist.“ Unabänderlich scheint das Schicksal. „Dann ist unsere ukrainisch-moldawisch-jüdisch-russische Welt eben untergegangen“, lautet die resignierende Zusammenfassung, die sich selbstverständlich nur vordergründig auf die Ladenschließung bezieht. Hernach bricht der Erzähler in die Ukraine auf. Er sieht die zerbombte Infrastruktur, von Russland zerstörte russisch-orthodoxe Weltkulturerbe-Kirchen, große Trauerbanner und frische Soldatenfriedhöfe. Er kommt im abgedunkelten Kyjiw an: „Der Schatten einer Metropole“, schreibt er. Er erlebt Luftalarme, sieht russisch sprechende ukrainische Soldaten und kehrt auch beim wodkaseligen Wiedersehen mit alten Freunden sofort zum Thema Sprache („unsere vermaledeite russische Zungenmuttersprache“) zurück.
Wie auch in seinen beiden vorherigen, ebenfalls autobiographisch geprägten Romanen nähert sich Dimitrij Kapitelman dem Themenkreis rund um Kultur, identitätsstiftenden Gemeinsamkeiten, Heimat und Zugehörigkeit mit Sarkasmus, mit Sprachwitz und zugleich mit einer sich steigernden Spannung, allmählich lauter werdend und mit klarer Botschaft. Crescendo von engstirniger Ödnis im Leipziger Stadtteil Kleinzschocher bis zum dröhnenden Luftalarm in Kyjiw. Der erschütternde Besuch in der Ukraine ist der nachhallende Höhepunkt. Wie hart es ist, wenn man seine Liebsten „an die russische Propaganda“ verliert. Wie belastend es ist, wenn man zu permanenter Beweisführung gezwungen ist. Wie schwer es ist, auf der Suche nach einer eigenen Identität zu sein. Und Kapitelman arbeitet deutlich die Gefahr heraus, welche von der aktuellen politischen Lage in Deutschland ausgeht, von der Öffnung von Christdemokraten gegenüber Radikalen – der Zusammenarbeit mit „den gerissenen Wagenknechts“ – bis zum Antisemitismus. Die Ukraine hat keine Wahl, sie wird angegriffen, sie muss kämpfen. Deutschland hat die Wahl, wie es mit Geflüchteten („Ausländer, die keinen ökonomischen Vorteil mehr bieten, werden verstoßen“, heißt es im Roman) und wie es mit radikalen politischen Parteien umgeht und wie es seine Demokratie und Freiheit verteidigt. Der Erzähler in Russische Spezialitäten erlebte in Deutschland bisher „kein Jahr ohne Hakenkreuze“. Kapitelmans Botschaften hallen nach. Resignation darf keine Konsequenz sein. Die Demokratie darf nicht aufgegeben werden.
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