Kann man seiner Herkunft entkommen?
In Olga Grjasnowas Roman „Juli, August, September“ sieht sich die Heldin plötzlich mit der Frage nach ihrer Identität konfrontiert
Von Dietmar Jacobsen
Was gebe ich meiner Tochter mit, wenn die sich eines Tages plötzlich für ihren jüdischen Background, ihre Identität, interessiert? Das ist die Frage, vor der sich Ludmilla, Heldin im fünften Roman der heute in Wien lebenden Olga Grjasnowa, sieht. Denn einer in alle Welt verstreuten jüdischen Familie angehörend, hat sich die mit ihrem Mann Sergej, einem renommierten Konzertpianisten, dessen Karriere gerade einen kleinen Knick aufzuweisen scheint, in Berlin lebende Galeristin und Kunsthistorikerin über das eigene Jüdischsein kaum je Gedanken gemacht.
Doch als Töchterchen Rosa bei einer deutschen Freundin auf ein Bilderbuch über Anne Frank stößt – „Die Prosa war unterkomplex und konnte nicht einmal eine vage Vorstellung vom Holocaust vermitteln.“ –, glaubt Ludmilla, von Mann und Freunden kurz Lou genannt, endlich handeln zu müssen. Kurz darauf erinnert sie ein Stolperstein, der sie tatsächlich schmerzhaft zu Fall bringt, noch einmal daran, dass es wohl höchste Zeit ist, auch sich selbst als Angehörige einer Familie, von der nur wenige den Holocaust überlebten, mit ihrem Herkommen auseinanderzusetzen.
Olga Grjasnowa, 1984 in Baku geboren und 1996 mit ihrer Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland ausgewandert, erregte bereits mit ihrem literarischen Debüt Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) große Aufmerksamkeit. Der in Teilen autofiktional geprägte Roman erzählte die Geschichte eines mit seinen Eltern als Kind aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommenen jüdischen Mädchens und seiner Konflikte mit der – anfangs auch sprachlichen – Fremde sowie der eigenen Identität und Vergangenheit. Auch in den darauf folgenden Romanen standen immer wieder teils in der Gegenwart, teils in der Vergangenheit angesiedelte Figuren im Mittelpunkt, deren Schicksal sie von ihrem Herkommen entfremdet hatte.
In Juli, August, September nun ist es die Familie der Enddreißigerin Lou, von der die sich Antworten auf all ihre Fragen erwartet. Denn bis auf sie selbst, ihren Mann, ihre Mutter und die kleine Rosa leben alle anderen in Israel. Und obwohl die früher häufigen Kontakte nach dem Tod von Ludmillas Großmutter auf das Notwendigste zusammengeschrumpft sind, steht außer Frage, dass der gesamte israelische Zweig der Familie sich seiner jüdischen Identität nur zu bewusst ist: „Sie wussten, wer sie waren. Auch wenn sie für die Mehrheitsgesellschaft einfach nur die Russen blieben.“
Zum Glück bietet sich in dieser Situation für Lou eine Gelegenheit, das spezifisch Jüdische an ihrer israelischen Verwandtschaft eine gute Woche lang aus nächster Nähe zu studieren.
Denn das älteste noch lebende Familienmitglied, Lous Großtante Maya, die jüngere Schwester ihrer verstorbenen Großmutter, hat die gesamte Familie zu ihrem 90. Geburtstag eingeladen. Und weil sie ein paar Monate zuvor bei einem Preisausschreiben eine Reise in ein Urlaubsressort auf Gran Canaria gewonnen hatte, war beschlossen worden, das Jubiläum gemeinsam dort zu feiern.
Allein es wird eine stressige Woche mit Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen – sie alle eine Meute lautstark in das Hotel einfallender Menschen, für die man im Speisesaal einen extra VIP-Bereich eingerichtet hat. Die Familienmitglieder treffen sich zu den Mahlzeiten. Ansonsten gehen sich alle tunlichst aus dem Weg. Und in den wenigen Momenten, in denen Ludmilla mit einem der anderen tatsächlich ins Gespräch kommt, wird ihr nur zu schnell klar, dass man sich eigentlich nichts zu sagen hat.
Auch die seit Jahrzehnten schwelenden Konflikte in der Familie brechen augenblicklich wieder auf. Was die Jungen tun, wird von den Älteren missbilligt – und umgekehrt. Und immer wenn die Jubilarin Maya vom Holocaust erzählt – „Der Schöpfungsmythos unserer Familie lautete: Maya und Rosa haben überlebt.“ –, kann sich Ludmilla an ähnliche Erzählungen aus dem Mund von deren Schwester, ihrer Großmutter, erinnern. In denen allerdings waren Rolle, Funktion und Anteil der beiden zu Kriegsbeginn vierzehn und neun Jahre alten Mädchen an ihrem Überlebenskampf – der Vater war als Deserteur im Gefängnis gelandet, die Mutter hatte die Kinder anschließend sich selbst überlassen – völlig andere. Ob die Geschichten, die Maya auch auf Grand Canaria erneut auftischt, also tatsächlich der Wahrheit entsprechen oder ob sich Lou doch lieber an die Version ihrer Großmutter Rosa halten sollte – Grjasnowas Erzählerin möchte endlich Klarheit darüber haben. Doch sie steht vor der Schwierigkeit, dass es nur noch eine Zeugin für die damaligen Ereignisse gibt. Aber hat ihre Großtante deshalb das Recht, sich ihre eigene Vergangenheit zusammenzureimen und damit auch die Geschichte der ganzen Familie zu verfälschen?
Juli, August, September führt seine Heldin im dritten Buchteil, der – anders als die Teile 1 und 2, die mit den ersten beiden Monatsnamen aus dem Buchtitel überschrieben sind – die Überschrift Glühend heißer Boden trägt, nach Israel. Lou hat sich in Gran Canaria entschieden, für’s Erste nicht wieder zurück nach Berlin zu fliegen – auch die Beziehung zu ihrem Mann Sergej scheint im „verflixten“ siebenten (Ehe-) Jahr in einer Krise zu stecken, er befindet sich auf einer Konzertreise, lässt nur selten von sich hören und Ludmilla traut ihm zu, eine außereheliche Affäre begonnen zu haben –, sondern einen Umweg über Tel Aviv zu machen. Endlich will sie es ganz genau wissen, wer von den zwei auf sich gestellten Schwestern tatsächlich damals die Hauptverantwortung für beider Überleben trug und warum sie selbst ihrer verstorbenen Urgroßmutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Bedeutet diese Ähnlichkeit im Äußeren, dass auch etwas vom Charakter der Frau, die ihre beiden Kinder in einer lebensgefährlichen Situation unbegreiflicherweise sich selbst überließ, auf sie abgefärbt hat?
„Ich wollte Ordnung in meine Erinnerungen bringen“, heißt es kurz vor Ende des Romans. Olga Grjasnowas Heldin begründet damit das Durcheinander, dass ihr unvermutetes Erscheinen bei ihrer Familie in Israel auslöst. Aber ihre Nachforschungen im Haus ihrer Großtante und in den Archiven der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bringen zumindest Gewissheit über das Schicksal ihres Großvaters. Der war tatsächlich in dem Gefängnis von Saratow verstorben, in das der Sowjetstaat den Achtundvierzigjährigen gesteckt hatte, als der in einem wichtigen Betrieb der Rüstungsindustrie als leitender Ingenieur Arbeitende zu spät auf seinen Einberufungsbefehl zur Armee reagierte und deshalb sofort als Deserteur behandelt wurde.
Juli, August, September ist ein Familienroman, in dessen Verlauf der Heldin immer klarer wird, dass sie die Geschichte ihrer Familie im 20. Jahrhundert wohl nie zu einhundert Prozent wird rekonstruieren können. Zu unterschiedlich sind die Erzählungen, die die unmittelbar an den tragischen Ereignissen beteiligten Personen davon in Umlauf gebracht haben. Besteht Identität deshalb in nichts anderem als dem Glauben an das von den Älteren Übermittelte? Und geraten deshalb all jene in die Krise, die sich nicht zu entscheiden vermögen, welche der ihnen erzählten Geschichten sie letztlich für die der historischen Wahrheit am nächsten kommende halten? Lou vermag die Probleme, die sie von Berlin zunächst nach Gran Canaria und schließlich gar nach Israel führen, schlussendlich nicht befriedigend zu lösen. Nur eine Erkenntnis haben ihre Recherchen erbracht:
Deutschland hat es nicht geschafft, unsere Familien auszurotten, aber die Sowjetunion hat es geschafft, dass sie alles vergessen haben, dass kaum noch etwas übrig geblieben ist.
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