Jenseits des Hungers
Dominik Fugger über die „Emanzipation des Geschmacks“ in der Frühen Neuzeit: Wie wir lernten, zu schmecken, wie wir schmecken, und warum
Von Walter Delabar
Die Vielfalt der regionalen Küchen und ihrer geschmacklichen Ausfächerung ist heute ungeheuerlich, ja fast unüberschaubar. Die Dynamik der Entwicklung der Kochkunst seit dem 18. Jahrhundert hat in den letzten Jahrzehnten noch zugenommen, wobei es immer auch um ein doppeltes Moment geht, um die regionale Verankerung einerseits und um die geschmackliche Weiterentwicklung, ja Kreativität andererseits. Wobei eine geschmacklich ausdifferenzierte und zugleich regional verankerte Küche zugleich als höchst gesundheitszuträglich gedacht wird – sagen wir, jenseits des Kugelfischs. Wobei wir hier eben nur von Europa reden, im wesentlichen.
Dabei ging es auch vor der Moderne nicht nur allein darum, den Hunger zu stillen. Ernährung hatte – aufs Allgemeine gesehen – auch noch andere Aufgaben zu erfüllen, nicht zuletzt dietätische und medizinische Nicht zuletzt sollte sie Gesundheit fördern, Krankheiten heilen oder verhindern.
Das ist letztlich auch der Grund, warum Dominik Fugger in seiner kleinen, soeben bei Wagenbach erschienenen Schrift über die „Emanzipation des Geschmacks“ das Hungerparadigma, das die Rede über die Ernährung bis in die Neuzeit dominiert, vernachlässigen und sich ausschließlich auf die Revolution des Geschmackempfindens konzentrieren kann, die er für die Frühe Neuzeit konzediert. Hier geht es nicht darum, vorrangig den Hunger zu stillen oder mit dem Reichtum der Mahlzeiten zu protzen. Hier verständigten sich die Intellektuellen der Frühen Neuzeit darüber, welche Anforderungen bei der Zubereitung von Mahlzeiten zu erfüllen sind.
Die Rede über das „gute Essen“ wird für Fugger grundsätzlich von drei Kategorien bestimmt, die ein spezifisches Spannungsfeld bilden: 1. Gesundheit, also Rücksicht auf das Wohlbefinden des eigenen Körpers, 2. eine zeitlich jeweils verankerte Ethik des Essens, die Anforderungen jenseits der Nahrungsaufnahme gehorchen muss, die zugleich aber eng mit ihr verbunden sind (Essen muss unter anderem gesund und abwechslungsreich sein, aber auch religiösen Regeln gehorchen, wie etwa das katholische „freitags nur Fisch“), und 3. die je individuelle Kategorisierung von Lebensmitteln über den Geschmack, mit dem Zu- und Abneigungen zugeordnet werden. Mit diesem kategorialen Netz lassen sich eben nicht nur Statusaufnahmen zur Kochkunst machen, sondern auch Entwicklungen nachvollziehen, in denen das Verhältnis dieser drei Kategorien zueinander jeweils neu bestimmt wird. Ob eine Mahlzeit angemessen, gesund und wohlschmeckend ist, heißt dann jeweils etwas anderes, was eben auch die Anforderungen an die Zubereitung von Mahlzeiten bestimmt.
Und eben, ob das Ganze überhaupt noch schmeckt. Alberto Grandi hat jüngst noch in seiner Geschichte der italienischen Küche darauf hingewiesen, dass ein Parmesan, der im 18. oder 19 Jahrhundert die Käserei verlassen habe, geschmacklich mit einem norditalienischen Hartkäse gleichen Namens von heute nichts zu tun habe. Das einzig Vergleichbare sind mithin die Eigenschaft, ein Hartkäse gleichen Namens aus gerade dieser norditalienischen Stadt zu sein. Und auf den Referenzraum bezogen, von dem Fugger spricht: Für den modernen Gaumen sei ein Gericht (selbst gleichen Namens), das nach den kulinarischen Standards um 1500 zubereitet wurde, eher ungenießbar.
Auffallend ist nun, dass die Rede vom „guten Essen“ eben keine Erfindung der Neuzeit ist, sondern bereits in der Antike der Rede über die Ernährung eingeschrieben ist, allerdings mit völlig anderen Ergebnissen, als das heute regelmäßig der Fall ist. Das wird spätestens in dem Moment augenfällig, pardon, ist geschmacklich zu erahnen, wenn man auf ein spezifisches Kennzeichen der mittelalterlichen Küche zu sprechen kommt, nämlich ihren nivellierenden Einsatz von Gewürzen. Dieser Eindruck ist, wie Fugger eingangs betont, vor allem auf der Kontrastfolie der Revolutionierung des Geschmacks im Laufe der Frühen Neuzeit offensichtlich.
Die grundlegende Differenz besteht mithin darin, dass die neuzeitliche und schließlich die moderne Küche den Geschmack ihrer Grundkomponenten noch in der Kombination mit anderen Zutaten herauszustellen versucht. Man soll also die Kartoffel oder den Brokkoli schmecken, die verarbeitet wurden, und nicht die Gewürze, die dem Ganzen zugefügt worden waren. Anders hingegen die mittelalterliche Küche, die alle Grundzutaten mit einem aus heutiger Sicht gleichförmigen Gewürzarrangement überdeckte.
Mit gutem Grund, denn die mittelalterliche Küche hatte vor allem den Anforderungen der seinerzeit herrschenden medizinischen Konzepte zu gehorchen. Die antike und in vielem auch noch die europäische Medizin des Mittelalters folgte dabei der aus der Antike stammenden Säftelehre, mithin den Gegensatzpaaren feucht und trocken respektive warm und kalt. Eine Mahlzeit hatte so gesehen die Aufgabe, das Gleichgewicht der Säfte und Zustände im menschlichen Körper zu sichern oder wiederherzustellen. Und je nach Anforderung waren die Zutaten, Mengen und Zubereitung organisiert. Die Überlegung also, dass im Mittelalter deshalb so stark gewürzt wurde, um den Geschmack verdorbener Speisen zu überdecken, lässt sich, so Fugger, wohl nicht halten – nicht zuletzt, weil es in einer Gesellschaft, die Lebensmittel nicht konservieren oder ihre Verderblichkeit wegen mangelnder Kühlmöglichkeiten nicht verzögern kann, kaum sinnvoll ist, Verdorbenes auch noch verstecken und dann zu sich zu nehmen.
Das führt etwa dazu, dass frisches Obst halbwegs vom Verzehr ausgeschlossen war, ganz gegen die moderne Weisheit vom täglichen Apfel, der einem den Arztbesuch erspare. Alles musste erst zubereitet (und konserviert) werden, bevor es gegessen werden konnte. Allerdings war das beim Obst eh geboten, wie Fugger betont, da es ein schnell verderbliches und damit knappes Gut war. Feigen und Trauben hat der gemeine Römer dennoch gegessen.
Die Orientierung auf die Gewürzküche änderte sich im Laufe der frühen Neuzeit, anscheinend – so die These Fuggers – aus denselben Gründen, aus denen sie bisher praktiziert wurde, nämlich aus medizinischen. Allerdings gehen die Veränderungen nach 1500 auf eine Neuorientierung der medizinischen Erkenntnis zurück, bei denen die Eigenschaften der Zutaten selbst stärker in den Vordergrund gerückt wurden.
Hinzu kam ein denkwürdiger Zufall, der auch aus anderer Perspektive bedenklich ist, nämlich die Verfügbarkeit des Zuckers als Gewürz und Konservierungsmittel. Und damit der Beginn des neuzeitlichen Kolonialismus mit all seinen Nebenwirkungen und Folgen. Denn der Zucker, der für die europäische Küche eine so enorme Bedeutung erhalten sollte, war ein Produkt der Kolonien in der Neuen Welt und der Sklavenhaltergesellschaften modernen Typs. Rohrzucker wurde in Übersee hergestellt, die Zuckerrübe hingegen kommt erst im 19. Jahrhundert als Alternative zum Zuge.
Zucker verdrängte dabei den Honig und den Essig als Konservierungsmittel, die die unangenehme Eigenschaft haben, den Eigengeschmack der konservierten Lebensmittel weitgehend zu überdecken und alles in ein gleichermaßen konsistentes Einerlei zu bringen, genannt Mus (oder medizinisch Latwerge genannt). Außerdem ermöglichte der Zucker andere, reinere Zubereitungsformen wie etwa Gelees, die die musförmigen Endprodukte zu verdrängen begannen. Mit dem erwünschten Nebeneffekt, dass ein Quittengelee nach Quitte schmecken konnte. Und dass aus der gesundheitsförderlichen Zugabe etwa ein wohlschmeckendes Dessert werden konnte. Mit anderen Worten, der heute als „Ausgeburt des Bösen in der Ernährung an sich“ verdammte Zucker ist historisch die Grundlage des modernen Geschmacksempfindens mit allem, was daran hängt.
Die Abkehr von der mittelalterlichen Küche geht also nicht vorrangig auf Distinktionsstrategien gesellschaftlicher Eliten zurück, sondern auf eine Neukonzipierung medizinischer Erkenntnis, die schließlich auch dazu führte, dass sich der Ernährung vom Gesundheitsparadigma wenigstens teilweise abkoppelte und die Ausdifferenzierung des Geschmacks in den Vordergrund rückte. Zwar waren die Grundstoffe der neuen Küche teils knappe Güter, die mit hohen Kosten verbunden waren, vor allem etwa reiner Zucker, dessen Herstellung anfangs recht aufwendig war. Aber gerade der medizinische Impuls, der die Entwicklung anfangs stark prägte, führte dazu, dass das Wissen um die sich ändernden Zubereitungsweisen gesammelt, zusammengefasst und vor allem breit gestreut wurde. Vor allem die Adelshöfe standen hierbei stark im Vordergrund, was für das elitäre Profil der Geschmackrevolution spricht. Aber Fugger betont, dass dieses Bild unvollständig wäre, soweit nicht berücksichtigt wird, dass sich die Höfe und die adeligen Repräsentantinnen oder ihr direktes Umfeld um die Sammlung, Zusammenstellung und schließlich weitere Verbreitung vor allem durch den Druck gekümmert hätten. Das Abgrenzungsbedürfnis der vor allem adeligen Eliten mag zwar eine große Rolle gespielt haben, zugleich aber kamen die Höfe ihrer Fürsorgepflicht für Gesundheit breiter Bevölkerungsschichten nach, indem sie die dafür notwendigen Informationsmittel bereitstellten. Das macht aus der Geschmackrevolution der frühen Neuzeit, der wir schließlich auch die Hofküche des 18. Jahrhunderts, die bürgerliche Küche des späten 19. Jahrhunderts und die regionalen Küchen der Gegenwart verdanken, keine Volksbewegung. In der breiten Bevölkerung diente die Nahrungsaufnahme noch lange vor allem der Sättigung, und konnte diesem Maß nicht genügen. Aber Aufmerksamkeit verdient sie doch. Und mit Dominik Fugger tauchen wir tief in die Wandlungen der Zubereitungsweisen in der Frühen Neuzeit ab, die dafür die Basis abgaben. Selten so viel über Quitten und deren Zubereitung gelesen, die ja heute so selten sind, wie nun bei Fugger. Aber die Zeiten, die Geschmäcker und das Essen ändern sich eben.
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