Missgunst und Mitgefühl zwischen zwei Brüdern

Kapitel aus einer Doppelbiografie über Heinrich und Thomas Mann

Von Günther RütherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Rüther

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag ist der Vorbereitung eines Buches entnommen, das voraussichtlich im Herbst nächsten Jahres erscheinen wird.

Der 27. März war ein trüber, regnerischer Tag an dem es mittags schon dunkel wurde. So vermerkte es Thomas Mann in seinem Tagebuch neben allerhand anderen Ereignissen. Der 27. März fiel 1921 auf Ostermontag. So stand auch das Eiersuchen mit den Kindern auf dem Programm in der Poschingerstraße. Heinrichs 50. Geburtstag, den es auch an diesem Tag zu feiern galt, fand jedoch unter den Eintragungen keine Erwähnung. Es gab keine Gratulationskarte, keine Begegnung und keinen Telefonanruf. Aber der Geburtstag beschäftigte den „Zauberer“, wie wir aus dem Tagebuch ersehen können. Mit Argusaugen verfolgte er die öffentliche Würdigung seines Bruders. Aus diesem Anlass war neben Beiträgen in den Tageszeitungen auch eine umfangreiche Studie von Hermann Sinsheimer im Verlag der Weißen Blätter in München zuvor erschienen. Sinsheimer zählte zu den bedeutendsten Feuilleton-Redakteuren der jungen Republik. Er kann durchaus auf einer Stufe mit Alfred Kerr gesehen werden. Damals arbeitete er für die Münchner Neuesten Nachrichten, später für das Berliner Tageblatt. Heinrich Mann pflegte zu ihm in diesen Jahren freundschaftliche Beziehungen. Sinsheimer bezeichnete den Jubilar als Schriftsteller der Diesseitigkeit, der den Menschen mit seinen Ecken und Kanten im Zeitgeschehen darstelle. „Um ihn, wie um jeden Fünfzigjährigen, drängen sich neue Bildner und Bilder“, schrieb er. Er aber sei beides in einem: „Bildner und Bild der Zeit. Dies ist das Zeichen und Wesen seiner Unvergänglichkeit!“[1] Dem gemeinsamen Freund Ludwig Ewers gratulierte Thomas Mann zu seinem Beitrag über Heinrich in den Hamburger Nachrichten: „Heinrich wird jetzt durch unangemessene Ehrungen für alles entschädigt, was er in jungen Jahren bitterer, als ich mir früher träumen ließ, entbehrt hat. Der innere Entstehungsherd des Giftes, das sein Dichtertum zu zersetzen drohte, war sicher hier. War er durch Vernachlässigung so bestimmbar, so wird er es durch die Huldigungen von heute nicht weniger sein. Ich halte ihn für einen gesättigten, mit der Welt und sogar mit dem Vaterland versöhnten Menschen.“ Am Schluss des Briefes ging er nochmals auf das fortbestehende Zerwürfnis ein und erklärte, warum es nach dem Zola-Essay nicht zu einer Wiederannäherung kommen könne, um dann doch noch etwas versöhnlich mit den Worten zu schließen: „Vielleicht sind wir, getrennt, mehr eines des anderen Bruder, als wir es an gemeinsamer Festtafel wären.“[2]

Zu dem gemeinsamen Platz an der „Festtafel“, zu der der Kurt Wolff Verlag nach München am 7. April in die Kammerspiele einlud, kam es nicht. Thomas Mann erhielt keine Einladung und wäre auch gewiss nicht erschienen, jedoch Julia Mann, die Mutter, war vertreten. Sie berichtete Thomas wenige Tage später ihre Eindrücke. Die Würdigung fand in festlichem Rahmen statt. Heinrichs Vorliebe für italienische Musik wurde entsprochen. Sie verzierte den feierlichen Rahmen; aus seinen Werken wurde rezitiert. Aber nicht Sinsheimer hielt die Laudatio, sondern der Schriftsteller und spätere Verleger Joachim Friedenthal, der mit Frank Wedekind und dem Jubilar befreundet war. Friedenthal hatte ihn im „Politischen Rat der geistigen Arbeiter“ bis zu dessen Auflösung Mitte 1919 unterstützt. Bereits einige Jahre zuvor war er mit einem Buch über Heinrich Mann hervorgetreten. Thomas bemerkte zu dem Festakt: „Huldigungssonett, aus eigenen Werken, Kräfte der Oper, Tusch und Gloria. Habeat, habeat. Welchen Grad seine Zufriedenheit mit der Welt wohl erreicht hat.“[3]

Nur Heinrich dürfte in diesen Tagen mit sich und der Welt weitgehend in Einklang gestanden haben. Ihm war klar, dass die Geschichte keine Sprünge macht und der Wechsel von der Monarchie zur Republik nur langsam vonstattengehen kann. Es sollten jedoch nur wenige Jahre sein, in denen er voller Zuversicht in die politische Zukunft schaute. Die ersten Nachkriegsjahre zählten dazu. Der Untertan verkaufte sich weiterhin gut, wenngleich er bei weitem nicht an die Auflagen der Buddenbrooks heranreichte. Als weniger erfolgreich erwies sich sein Sammelband Macht und Mensch. Er hatte den Eindruck, dass die Menschen sich mit seinen politischen Essays vor allem deshalb beschäftigten, weil die Zeitenwende es nahelegte. Doch taten es nur wenige aus politischer Überzeugung. So gab es für Thomas eigentlich keinen Grund, missgünstig auf seinen Bruder zu schauen. Er war gut in die ersten Nachkriegsjahre gestartet. Seine düsteren Vorahnungen aus den Vorkriegszeiten, brotlos aus dem Licht der Öffentlichkeit verbannt zu werden, erfüllten sich nicht. Mit dem Zauberberg kam er gut voran, sodass er sich zu Beginn der zwanziger Jahre schon mit der Endkorrektur beschäftigte. Fischer drängte auf einen baldigen Abschluss, doch ihm ging wie stets Sorgfalt vor Schnellfertigkeit. Da sich die Buddenbrooks weiterhin gut verkauften und auch die Betrachtungen wider Erwarten breiten Zuspruch fanden, vermochte es nicht zu überraschen, dass Samuel Fischer den bestehenden Autorenvertrag verlängerte und zwar zu den bereits bestehenden günstigen Bedingungen. Sie brachten dem Autor Tantiemen in Höhe von 25 Prozent des Nettopreises je Buch ein. Obwohl die Zeiten schwierig waren, lud Fischer seine Erfolgsautoren als Zeichen der Wertschätzung zu einem Treffen ins schöne Ostseebad Glückstadt ein. Zu den Auserwählten zählte auch Hermann Hesse. Doch zu Thomas Manns Bedauern sagte Hesse ab. Die Anreise aus dem Gebirgsdorf Montagnola im Tessin, wo er seit kurzem lebte, in den hohen Norden an die dänische Grenze erschien ihm zu beschwerlich. Doch lernte Thomas Mann während dieses Aufenthaltes Otto Flake kennen, der bald zu den Erfolgsautoren der Weimarer Republik zählen sollte. In Glückstatt erfuhr er von seiner Ernennung zum Ehrendoktor der philosophischen Fakultät der Universität Bonn. Seine Freude darüber war außerordentlich. Kaum in München zurück ließ er seine Visitenkarte neu drucken. Natürlich mit dem gerade erworbenen Titel, allerdings ohne h. c. wie sein Biograph Klaus Harpprecht zu berichten weiß. Sein in Bonn lehrender Freund Ernst Bertram hatte für ihn kräftig die Werbetrommel gerührt, sicher nicht ohne Absprache mit ihm. Die Urkunde zur Verleihung dieser Doktorwürde pries ihn als „Dichter von großen Gaben“ und verwies dabei vornehmlich auf die Buddenbrooks. Doch hinter vorgehaltener Hand wurde er für seineBetrachtungen ausgezeichnet, bei deren Niederschrift ihm Bertram stets hilfreich zur Seite gestanden hatte. Sein Wohlwollen gegenüber dem wilhelminischen Reich, die kaisertreue und patriotische Haltung des Verfassers gefiel der Bonner Professorenschaft, die der alten Zeit nachtrauerte und sich ihr nach wie vor innerlich verbunden wusste. Die Bonner Universität war 1818 von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen im Geiste Wilhelm von Humboldts gegründet worden. Doch von dessen Reformgeist zeigte sie sich in der Weimarer Republik nicht beseelt.

Es waren nicht nur diese glücklichen Umstände, die Thomas Mann hoffnungsfroh in die Zukunft schauen ließen. Er war nach wie vor als Autor auch für Lesereisen gefragt, die ihn nach Österreich und in die Schweiz führten. Sie besserten die Haushaltskasse kräftig auf und trugen nicht unmaßgeblich dazu bei, die inflationsbedingten steigenden Kosten aufzufangen. Noch bedeutsamer aber dürfte für ihn gewesen sein, dass er überall, wo er auftrat, mit großem Respekt und Wohlwollen empfangen wurde. Zu seinen Lesungen kamen oft mehrere hundert Zuhörer und Zuhörerinnen, die seinen Vortrag bejubelten. Er spürte, dass bei aller Zuwendung und Aufmerksamkeit, die sein Bruder seit Kriegsende erfuhr, die Mehrzahl der Deutschen hinter ihm stand. Sein in den Betrachtungen entfaltetes Weltbild entsprach ihrem Empfinden und nicht Heinrichs Vernunft und Tugend-Demokratie, wie er sie abschätzig beschrieben hatte.

In seinem Flaubert-Essay aus Anlass dessen hundertsten Geburtstages zitiert Heinrich Mann sein leuchtendes Vorbild mit den Worten: „Ach! Literaten, die wir sind. Die Menschheit ist weit von unserem Ideal.“[4] Von diesem Ideal fühlte er sich zu Beginn der zwanziger Jahre trotz aller Zuversicht nach wie vor entfernt: privat und politisch. Seine Träume hatten ihm weder ein glückliches Familienleben noch eine Demokratie beschert, deren Zukunft ihm gesichert schien. Beides erwies sich bei näherem Hinsehen als fragil. Auch das Zerwürfnis mit seinem Bruder belastete ihn weiterhin.

Zu den Belastungen zählte auch das schwierige Verhältnis seiner Frau zu Katia und Thomas, die sie mieden. Von den Pringsheims ganz zu schweigen. Heinrichs Frauen hatten es in der Familie Mann alle schwer. Dies galt für Inés Schmid, genauso wie später für Nelly. Doch für Mimi galt es in besonderer Weise, weil das brüderliche Zerwürfnis dazu kam und seine Schatten auch auf sie warf. Maria Kanová findet – nicht zufälliger Weise – in den „ungeschriebenen Memoiren“ von Katia Mann keine Erwähnung, obwohl ihr Schwager mit ihr 16 Jahre verheiratet war und beide Familien nahe beieinander wohnten. Auch Erika Mann weiß in ihren Lebensrückblicken kaum Positives über sie zu berichten. Viktor und Golo erwähnen sie, doch von Zuneigung und Respekt ist auch hier wenig zu spüren. Anders liegt der Fall bei Klaus Mann; in seinem Buch Der Wendepunkt begegnet er ihr mit tiefem Mitgefühl, als er im Dienst der US-Army 1945 nach ihr in Prag suchte. Mimi hatte schwer krank das KZ Theresienstadt überlebt und war ein Schatten ihrer selbst. Zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft unterstützte sie in Prag die Großfamilie Mann auch nach der Scheidung von Heinrich selbstlos bei den Behörden und deren literarischen Aktivitäten. Doch eine entsprechende Würdigung erfuhr sie nicht.

Mimi stammte aus einfachen jüdischen Prager Verhältnissen. Es fehlte ihr an gesellschaftlichem Schliff, feinem Auftreten und einer gehobenen deutschen Sprache, auf die in der Familie Mann besonderen Wert gelegt wurde. Ihre Herzensgüte fand demgegenüber wenig Beachtung. Ihrem Mann versuchte sie jenseits der familiären und öffentlichen Bühne, die sich ihm mit dem Erscheinen des Untertan und dem Beginn der Weimarer Republik mehr und mehr aufgetan hatte, vor allem ein behagliches Zuhause in der Leopoldstraße zu bieten. Seine Kollegen und Freunde von Rang und Namen empfing sie mit Wohlwollen. Sie war ihnen stets eine gute Gastgeberin und bewirtete sie, soweit dies in ihren Kräften stand, fürstlich. Zu den Gästen zählten Wilhelm Herzog, Arthur Schnitzler, Joachim Friedenthal, Graf Coudenhove-Kalergie, Maximilian Brantl, Max Oppenheimer, Mitarbeiter des Kurt-Wolff-Verlages und viele andere, wie auch Damen aus der Theaterwelt. Viele von ihnen schätzten die Künstlertreffen in der Leopoldstraße mehr als die in der Poschingerstraße. Mimis Küche hatte daran Anteil.

Als mit der öffentlichen Wahrnehmung ihres Mannes ihre Ehe in die Krise geriet, geriet ihre anfällige Gesundheit ins Wanken. Sie litt unter den Verhältnissen in und außerhalb der Großfamilie. Häufig zog sie sich in den Kreis ihrer Prager Familie zurück und besuchte dort eine alte Freundin. Bei einem Schriftstellertreffen in München erfuhr Heinrich von einer ernsthaften Erkrankung seiner Frau. Sie hielt sich wieder einmal in Prag auf. Was ihr genau fehlte, ist nicht bekannt. Sicherlich spielten psychisch-somatische Störungen dabei eine Rolle. Beunruhigt setzte er sich in den Nachtzug, um seiner Frau zur Seite zu stehen. Thomas war seinem Bruder auf der gleichen Veranstaltung begegnet, ihm aber geflissentlich aus dem Wege gegangen. Dennoch blieb ihm Heinrichs ungeplante Abreise nicht verborgen. In seinem Tagebuch hielt er kurz darauf fest: „Heinrichs Frau in Prag so krank, daß er nachts dorthin abgereist ist, wahrscheinlich nach der Begegnung mit mir. Hoffe auf ihre Wehleidigkeit und ihre Neigung, ihn zu beängstigen. Schweres Dilemma, wenn sie stürbe. Große Bevorzugung durch das Unglück für ihn.“[5]

Wie soll ein Biograf einen solchen Eintrag bewerten? Soll er ihn auf das zurückführen, was man einen schlechten Tag nennt? Wie wir aus dem Tagebuch erfahren, war das Wetter neblig und kühl. Das Dienstmädchen seines Bruders Viktor hatte sich aus Liebeskummer mit einem Revolver erschossen. Er befürchtete Schwierigkeiten mit der Polizei. Doch letztendlich ging Thomas Mann den Stunden des Tages nach wie immer, als er sich abends hinsetzte, um Geschehnisse und Eindrücke in seinem Tagebuch zu notieren: schreiben, lesen, spazieren gehen, Briefe beantworten, telefonieren etc., ausnahmsweise abends ein Bad. Alltag. Der Biograf fragt sich, ob daraus eine doppelte Verachtung spricht, die gegenüber seinem Bruder, nicht minder gegenüber seiner Schwägerin.

Nun kommen wir zu einem ganz anderen Vorgang, wenngleich er mit dem gerade geschilderten durchaus etwas gemeinsam hat. Im Mittelpunkt steht dabei recht eigentlich das, was man Katharsis nennen möchte. Wir kennen das Wort aus dem Griechischen und aus der aristotelischen Komödie. Es hat im Laufe der Jahrhunderte eine schillernde Bedeutung angenommen. Ursprünglich hieß es so viel wie Reinigung, die Erreichung eines veränderten, geläuterten Zustandes wie etwa die Befreiung von seelischen Konflikten, die ganz unterschiedliche Ursachen haben können. Nun wissen wir nicht genau, unter welcher Erkrankung Mimi litt, als Heinrich sie ungeplant in Prag besuchte. Aber so viel steht fest, sie war nach einem euphorischen Start in die Ehe mit einem bekannten Schriftsteller, der sie mit Stolz erfüllte und einen sozialen Aufstieg versprach, in eine tiefe Krise gestürzt, weil sie ihre soziale Rolle an der Seite eines an Bedeutung gewinnenden Schriftstellers nicht fand und an Selbstzweifeln litt. Dazu trugen auch die antisemitischen Anfeindungen bei, die sie nach dem Ersten Weltkrieg in zunehmendem Maße ertragen musste. Selbst in Heinrichs Freundeskreis blieb sie davor nicht gefeit. Hinzu kamen ihre wachsenden Figur-Probleme, die in der Großfamilie der Manns zu allerlei Lästerei führten, die ihr nicht verborgen blieben. Auch Heinrich scheute nicht davor zurück, sie mehr oder weniger offen, mal versteckt, mal fordernd, darauf hinzuweisen. Er nannte sie schon früh seine liebevolle dicke Mimi. Doch Mimi schaffte es, sich zu behaupten, indem sie neben ihrer Rolle als liebevolle Mutter und Ehefrau, ihren Mann beim Schreiben nicht nur die Last des Alltags abnahm, sondern zudem dadurch unterstützte, dass sie seine Texte abschrieb und gelegentlich auch darauf inhaltlich Einfluss nahm. Wie eine Literaturagentin begann sie darüber hinaus, für seine Werke öffentlich zu werben.

Auf der anderen Seite des Englischen Gartens, in der Poschingerstraße, vollzog sich zu Beginn der zwanziger Jahre ebenfalls eine Katharsis, eine Katharsis ganz anderer aber ebenfalls existentieller Art: eine Gleichzeitigkeit des Ungleichen. Sie betraf Thomas Mann. In seinem Essay „Goethe und Tolstoi“ gab er ihr Ausdruck. Der Essay entstand im Sommer 1921 und diente als Manuskript für einen Vortrag in Lübeck. Thomas befreite sich darin von zentralen Positionen seiner Betrachtungen, ohne diese ganz aufzugeben. Er schuf damit die Basis für sein Bekenntnis zur Weimarer Republik und zur Aussöhnung mit seinem Bruder. Mit Goethe und Tolstoi zog er einen markanten Trennungsstrich zwischen der asiatisch-russischen und der westlichen Welt. Auch wenn er betont, dass es nicht ratsam sei, Goethes Haltung mit derjenigen eines Zivilisationsliteraten unserer Tage zu verwechseln, so kommt allein schon dieser Gedanke, nach allem, was wir Negatives über diesen „Rousseau gestörten Schriftsteller“ gehört haben, einer kleinen „Gotteslästerung“ gleich. Zwar hält er hier noch an dem von ihm verteidigten deutschen Sonderweg inmitten der westlichen Welt fest, zögert aber nicht den Lübeckern folgenden Gedanken vorzutragen:

„Der humanistische Liberalismus des Westens, politisch gesprochen: die Demokratie, hat viel Boden bei uns, aber nicht den ganzen. Es ist der schlechteste Teil von Deutschlands Jugend nicht, der, vor die Entscheidung ,Rom oder Moskau?´ gestellt, für Moskau optiert hat. Gleichwohl irrt diese Jugend, nicht Rom, nicht Moskau hat die Antwort zu lauten, sondern: Deutschland.“[6] Es wird in seinen Augen nicht asiatisch, sondern europäisch sein. Ein Traum, der wert sei, geträumt und geglaubt zu werden, versprach er. Auch wenn sich aus diesen Worten noch kein unmittelbares Bekenntnis zur Republik ableiten lässt, so machen sie doch im Kontext mit Sätzen wie diesen hellhörig: „Denn das Demokratisch-Politische ist mit dem Rhetorisch-Literarischen nicht nur verwandt, sondern eines Wesens, es ist die politische Form des Humanismus.“[7]

Damit war die poetische Basis für eine politisch-geistige Annäherung der Brüder geschaffen. Es bedurfte dafür nur noch eines Anlasses. Er ergab sich im Januar 1922, als Heinrich ernsthaft erkrankte. Nach allem, was wir darüber wissen, wurde er am 25. Januar in die Chirurgische Privatklinik und Augenheilanstalt des Sanitätsrats Dr. Ludwig Gilmer in der Herzog Wilhelmstraße eingeliefert und von Alwin Ritter von Ach, Universitätsprofessor und Facharzt für Chirurgie, behandelt. Er blieb dort vermutlich bis zum 9. Februar. Sein Gesundheitszustand war äußerst bedenklich. Vermutlich litt er an einer akuten Blinddarm- und Bauchfellentzündung. Die notwendige Operation wurde durch einen Bronchial-Katarrh und Herz-Kreislaufprobleme erschwert, die Lungenkomplikationen vermuten ließen. Einige Tage blieb es ungewiss, ob er die Folgen der Operation überstehen und wieder gesund werden würde. Seine Familie rechnete mit dem Schlimmsten. Mimi war verzweifelt und wusste nicht, wie es weiter gehen würde. Die Zeitungen berichteten über den Ernst der Lage. Es ist bis heute nicht restlos geklärt, wer von den zahlreichen Bekannten und Freunden der Brüder entscheidend dazu beitrug, dass es zu einer Wiederannährung kam. War es Joachim Friedenthal, der damals für das Berliner Tageblatt arbeitete und besonders Mimi und Heinrich nahestand, der Rechtsanwalt Maximilian Brantl, der das Vertrauen von Thomas und Heinrich genoss, oder der gemeinsame Freund Kurt Martens? An „Parlamentären“ fehlte es nicht. Offensichtlich überwanden auch Katia und Mimi ihre Animositäten und trugen dazu bei, die Gunst der Stunde für eine Überwindung der Eiszeit zwischen den Brüdern zu nutzen, die sich inzwischen acht Jahre aus dem Wege gegangen waren. Der Krieg, die Konkurrenz und ihre unterschiedlichen geistig-politischen Grundauffassungen zu Deutschlands Rolle in der Welt und zur Literatur hatten sie entfremdet. Nun erkundigte sich Thomas regelmäßig über Heinrichs Befinden und erfuhr von Heinrichs Freude, die ihm seine Anteilnahme bereitete. Am 31. Januar ließ er ihm folgende Zeilen zukommen: „nimm mit diesen Blumen meine herzlichen Grüße und Wünsche, – ich durfte sie Dir nicht früher senden. Es waren schwere Tage, die hinter uns liegen, aber nun sind wir über den Berg und werden besser gehen, – zusammen, wenn Dir´s ums Herz ist wie mir.“[8]

Heinrich reagierte auf diese wohlgesetzten, gestelzt klingenden Grüße wohlwollend, obwohl aus ihnen wenig Herz, mehr Verstand sprach. Mit den Worten „nun sind wir über den Berg“ verbanden sie auf geschickte Weise Heinrichs Ringen mit dem Tod mit dem eigenen Leiden. Ein Leiden an sich und am Bruder. Heinrich dürfte dies nicht entgangen sein. Seine Mutter bat er dennoch, Thomas auszurichten: „Sag´ ihm, daß wir uns wieder finden wollen, um uns nie mehr zu verlieren.“[9] Damit begann in der brüderlichen Beziehung eine neue Phase. Mimi unterstützte diese Entwicklung, indem sie Thomas und Viktor zu einer schlichten Genesungsfeier in die Leopoldstraße einlud, wo die drei Brüder unter sich besprechen konnten, was ihnen am Herzen lag. Seit vielen Jahren saßen sie erstmals wieder beisammen. Was sie besprachen, entzieht sich unserer Kenntnis. Aber Viktor berichtet: „Es war eine frohe Stunde.“[10] Sicher keine Versöhnung, eine Verständigung. In einem Brief an seinen Freund Ernst Bertram schilderte Thomas Mann die neue Lage so: „Freudig bewegt, ja abenteuerlich erschüttert, wie ich bin, mache ich mir doch keine Illusionen über die Zartheit und Schwierigkeit des neu belebten Verhältnisses. Ein modus vivendi menschlich-anständiger Art wird alles sein, worauf es hinauslaufen kann. Eigentliche Freundschaft ist kaum denkbar. Die Denkmale unseres Zwistes bestehen fort“.[11]

Damit hatte er recht und unrecht zugleich. Denn er hatte mit seiner stillen Distanzierung von politischen Kernthesen seiner Betrachtungen in dem Essay „Goethe und Tolstoi“ bereits dazu beigetragen, den bestehenden Konflikt zu entschärfen. Diesen Weg setzte er mit der Besprechung von Hans Reisigers Whitman-Biographie in der Frankfurter Zeitung und in seiner Ansprache im Opernhaus in Frankfurt im März 1922 fort. Er mündete in seinem Vortrag „Von deutscher Republik“, den er im Oktober 1922 zu Ehren Gerhart Hauptmanns 60. Geburtstag hielt. Mit seinem Bekenntnis zur Republik war zumindest ein „Denkmal des Zwistes“ beseitigt. Vorausgegangen war dem ein gemeinsamer Urlaub mit Heinrich im Sommer an der Ostsee, wo dieser sich zur Kur aufhielt. Da hatte er bereits mit der Niederschrift seiner Rede begonnen. Sicher sprachen sie über das, was er vorhatte. Eine Woche vor dem Vortrag las er Heinrich im Kreise einiger Freude daraus vor. Dessen ungeachtet blieb ein „Denkmal des Zwistes“ bestehen: das unterschiedliche Verständnis von Literatur und Gesellschaft.

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[1] Sinsheimer, Heinrich Manns Werk, in: https://www.projekt-gutenberg.org/sinsheim/mannhein/chap001.html, abgerufen am 4.4.2025.

[2] T. Mann, Briefe II, 1914-1923, S. 389f. (Brief v. 6. 4. 1921), Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher, Frankfurt am Main 2002ff.

[3] T. Mann, Tagebücher 1918-1921, S. 499f. (Eintrag v. 4. 4. 1921), hrsg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979.

[4] H. Mann, Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge, Frankfurt am Main 1994, S. 40, (Der hundertjährige Flaubert).

[5] T. Mann, Tagebücher 1918-1921, S. 383 (Eintrag v. 21. 2. 1920), hrsg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979.

[6] T. Mann, Essays Bd. 2, S. 83 (Goethe und Tolstoi), hrsg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 1997.

[7] Ebd., S. 82.

[8] H. Mann, T. Mann, Briefwechsel, 1900-1949, S. 257 (Brief v. 31. 1. 1922), hrsg. v. Katrin Bedenig und Hans Wißkirchen, Frankfurt am Main 2021.

[9] Zit. n. Friedenthal, Von den Brüdern Mann, https://literaturkritik.de/joachim-friedenthal-von-den-bruedern-mann-1922-prager-tagblatt,25074.html, abgerufen am 5. 4. 2025.

[10] V. Mann, Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann, Konstanz 2001, S. 379.

[11] H. Mann, T. Mann, Briefwechsel, S. 609 (Apparat. Brief v. T. Mann an Ernst Bertram v. 2. 2. 1922), ), hrsg. v. Katrin Bedenig und Hans Wißkirchen, Frankfurt am Main 2021.