Warum Frauen Männer lieben
Die Theorie von Dee L. R. Graham „Loving to Survive“ ist plausibel, ihre Belege sind es nicht immer
Von Rolf Löchel
Der Titel des in den USA bereits 1994 erschienenen und nun erstmals auf Deutsch vorliegenden Bandes Loving to Survive ist zweideutig. Denn er kann sowohl bedeuten, dass es jemand liebt zu überleben, wie auch dass jemand liebt um zu überleben. Gemeint ist letzteres. Denn es geht um Frauen, die Männer lieben. Sie tun dies um zu überleben, und zwar nicht nur als Individuen, sondern auch als gesellschaftliche Gruppe. So zumindest die These Grahams und ihrer Mitautorinnen. Um sie zu plausibilisieren hat Graham das Konzept des Gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms entwickelt, das eine „neue Sichtweise auf die Beziehung zwischen Männern und Frauen“ erlaubt. Sie und ihre Mitautorinnen betrachten „die Auswirkungen der Gewalt von Männern gegen Frauen als entscheidend für das Verständnis der gegenwärtigen Psychologie von Frauen“. Denn die selbst nicht ubiquitäre männliche Gewalt gegen Frauen rufe bei diesen gleichwohl einen „allgegenwärtigen – und daher oft nicht wahrgenommenen – Zustand der Furcht“ hervor.
Allerdings räumt Graham ein, dass es sich hierbei um eine „empirisch nicht überprüfte Theorie“ handelt. Dies auch, weil „niemand eine Vorstellung davon hat, wie die Psychologie von Frauen unter Bedingungen von Sicherheit und Freiheit aussehen würden“.
Als ihre Vordenkerinnen nennen Graham und ihre Mitautorinnen die Radikalfeministinnen Kathleen Barry, Susan Brownmiller, Andrea Dworkin, Catherine McKinnon, Jean Baker Miller und Adrienne Rich. Im Laufe ihrer Darlegungen erklären sie zudem, was sie unter Feminismus verstehen, und warum er wichtig ist. Diese Erläuterungen seien hier vorangestellt, denn sie bilden die Grundlagen von Grahams Haltung und ihres Ansatzes. Feminismus, so ihre Definition, „ist eine Bewegung und Theorie von Frauen über Frauen und für die Rechte und die Befreiung von Frauen“. Wichtig sei der „internationalen Feminismus“, weil er angesichts und trotz aller „ethnischen, kulturellen und nationalen Verschiedenheiten der Frauen“ ihre „Gemeinsamkeiten […] herausarbeitet“.
Bevor sie ihre Konzepte zunächst des Generalisierten und sodann des Gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms entwickeln, erläutern die Autorinnen den Ursprung des Begriff Stockholm-Syndrom und seine Bedeutung. Hierzu zeichnen sie die begriffsstiftenden Ereignisse während einer Geiselnahme in einer Stockholmer Bank im Jahr 1973 minuziös nach. Damals nahmen zwei Männer während eines Banküberfalls drei Frauen und einen Mann sechs Tage als Geiseln. Diese begannen in den beiden Verbrechern ihre Verbündete und in der Polizei ihren Gegner zu sehen. Bei einer der weiblichen Geiseln prägte sich diese Fehlwahrnehmung besonders stark aus. Sogar noch lange „nach ihrer Befreiung sahen die Geiseln die Polizei weiterhin als ‚den Feind’ und ihre Geiselnehmer als die Beschützer, die ihnen das Leben geschenkt hatten“. Zwei der weiblichen Geiseln verlobten sich sogar mit je einem der beiden Geiselnehmer. Etwas kürzer aber immer noch recht ausführlich gehen die Autorinnen auf zwei weitere Geiselnahmen ein. In einem Fall entwickelten alle 37 Geiseln einer Flugzeugentführung mit nur einer Ausnahme ein Stockholm-Syndrom, im anderen Fall war es umgekehrt, nur eine der Geiseln entwickelte es.
Einer von den Autorinnen herangezogenen empirischen Studie zufolge bildet etwa die Hälfte aller Geiseln das Stockholm-Syndrom aus, wobei Männer und Frauen gleichermaßen für das Syndrom anfällig zu sein scheinen; ebenso Menschen jeden Alters. Von polizeilicher Seite wird Geiseln sogar dazu geraten, eine emotionale Bindung mit den Tätern einzugehen, weil das die Gefahr verringert getötet zu werden.
Eine notwendige (und vielleicht sogar hinreichende) Bedingung dafür, ein Stockholm-Syndrom zu entwickeln, scheint den Autorinnen zufolge zu sein, „dass eine Geisel ihr Überleben als vorrangiges Ziel“ hat. Allerdings gab es zumindest bis zum Erscheinen der Originalausgabe des vorliegenden Buches „keine einzelne [sic] akzeptierte Theorie bezüglich der psychologischen Mechanismen“, die ein Stockholm-Syndrom hervorrufen und über viele Jahre andauern lassen können. Wie die Autorinnen betonen, haben Menschen, die das Syndrom entwickeln, keineswegs ein „Persönlichkeitsdefizit“, vielmehr scheine es „eine universelle Reaktion auf eine unausweichliche Lebensbedrohung zu sein“.
In einer ihrer früheren Publikationen benannte Mit- und Hauptautorin Graham bereits vier „Ausgangsbedingungen“ für die Entstehung Entwicklung eines Stockholm-Syndroms:
1. Wahrgenommene Lebensbedrohung und der Gaube daran, dass der Entführer bereit ist, diese Drohung wahr zu machen, 2. Die Geisel nimmt kleine Anzeichen von Güte seitens des Entführers in einem Kontext von Furcht wahr, 3. Isolation von anderen Sichtweisen außer denen des Entführers, 4. Wahrgenommene Unfähigkeit, entkommen zu können.
Darüber hinaus macht sie nicht weniger als 66 „Aspekte (Verhaltensweisen, Haltungen und Glaubenssätze)“ aus, „die mit Opfern in ‚Geisel’-Situationen in Verbindung gebracht werden“. Allerdings kann ein jeder von ihnen gegeben sein, ohne dass die betreffende Person die Stockholm-Syndrom genannte kognitive Verzerrung entwickelt.
Um von der ursprünglichen Theorie des individuellen Stockholm-Syndroms während einer Geiselnahme zur Theorie des Gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms kommen können, ist zunächst ein Zwischenschritt notwendig, der zum Generalisierten Stockholm-Syndrom führt. Bei dieser Variante „übertragen die Opfer die Dynamiken des Stockholm-Syndroms auf Personen“, „die aus ihrer Wahrnehmung dem Täter/Entführer ähneln und Zeichen von Güte zeigen“. Als Beispiele nennen Graham und ihre Mitautorinnen Francine Hughes, die über etliche Jahre hinweg der Gewalt ihres Mannes ausgesetzt war, bis sie ihn schließlich tötete; die durch den Film Deep Throat bekannt gewordene Schauspielerin Linda Lovelace, die sich, „scheinbar an den ersten Mann band, der ihr Güte entgegenbrachte“, nachdem sie ihrem gewalttätigen Ehemann und Zuhälter Chuck Traynor entkommen war, sowie Patricia Hearst, die sich ihren Entführern von der Symbionese Liberation Army anschloss, mit ihren Kidnappern mehrere Banküberfälle beging und nach ihrer Festnahme und einem Gefängnisaufenthalt ihren Bodyguard heiratete.
Als „eine besondere Form des Generalisierten Stockholm-Syndroms“ machen die Autorinnen das Gesellschaftliche Stockholm-Syndrom aus. Denn die Theorie des Gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms konstatiert eine Reihe von „Parallelen […] zwischen den Überlebensregeln für Geiseln und Aspekten von Feminität, die Frauen beigebracht werden, um mit Männern auszukommen“.
Feminität sei somit „die Überlebensstrategie eines Opfers angedrohter oder tatsächlich stattfindender Gewalt“, bei der das Opfer „die unterwürfige Rolle einnimmt, weil sie/er keine Möglichkeit sieht, zu entkommen oder bei einer gewaltsamen Konfrontation zu gewinnen“. In mit dem Begriff Feminität verbundenen Eigenschaften und Verhaltensweisen wie „freundlich, umsorgend, intuitiv, sensibel und flexibel zu sein“ erkennen sie „Strategien im Umgang mit Herrschenden, die zum (Gesellschaftlichen) Stockholm-Syndrom gehören“, von dem die gesellschaftliche Gruppe der Frauen betroffen ist.
Ihrer Argumentation zufolge beruht die Feminität von Frauen also darauf, dass sie „wie Geiseln, die versuchen, ihre Entführer zu besänftigen, damit diese sie nicht umbringen, versuchen […], Männer zufriedenzustellen“. Das heiße aber, dass sich Frauen ebenso wie Geiseln, die „sich an ihre Entführer binden“, „an Männer [binden], um zu überleben“. Eben dies sei „die Ursache für das starke Bedürfnis von Frauen nach Verbindungen zu Männern und deren Liebe zu Männern“.
Im einzelnen parallelisieren Graham, Rawlings und Rigsbyvier Ausgangsbedingungen für die Entwicklung des Stockholm-Syndroms mit der Situation von Frauen und kleiden diese in die Fragen:
(1) Bedrohen Männer das Leben von Frauen? (2) Können Frauen Männern entkommen? (3) Sind Frauen von Außenstehenden und von Perspektiven jenseits derer von Männern isoliert? (4) Zeigen Männern Frauen gegenüber Güte?
Indem sie die erste und die letzte Frage bejahen und die mittleren beiden verneinen, kommen sie zu der Schlussfolgerung, dass die Lage von Frauen derjenigen von Geiseln entspricht, womit die Voraussetzungen für die Entwicklung des Stockholm-Syndroms gegeben sind. Dieser Theorie zufolge sind die „Psychodynamiken des Stockholm-Syndrom in gewissem Ausmaß bei allen Frauen zu allen Männern und bei jeder Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau präsent“.
Allerdings ist es den Autorinnen wichtig hervorzuheben, dass sich ihre Theorie des Gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms grundlegend von den „Theorien des weiblichen Masochismus oder der Co-Abhängigkeit“ unterscheidet. Denn anders als diese macht die Theorie des Gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms „nicht Frauen selbst für das Auftreten der scheinbar irrationalen Verhaltensweisen verantwortlich, sondern die männliche Gewalt gegen Frauen“.
Wie differenziert, kleinteilig und detailliert das Autorinnentrio während der Darlegung ihrer Konzepte des Generalisierten und des Gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms argumentiert, kann in einer Rezension naturgemäß nicht angemessen wiedergespiegelt werden. Der obige Abriss sollte die Grundgedanken des Konzepts jedoch hinreichend deutlich gemacht haben.
Abschließend zeigen die Autorinnen Wege auf, wie Frauen dem Gesellschaftlichen Stockholm-Syndrom trotz seiner Ubiquität „entkommen können“. Als „Informationsquellen“ die zeigen, wie dies gelingen kann, rekurrieren sie auf literarische Werke, die sie der „feministische[n] Science Fiction“ zurechnen. Tatsächlich aber sind die herangezogenen Romane zwar ausnahmslos feministisch, doch gehören nicht alle dem Genre der Science Fiction an. Herland (1915) von Charlotte Perkins Gilman ist vielmehr eine Utopie und Sally Miller Gearharts The Wanderground. Stories of the Hill Women (1978) zudem eine fantastische Erzählung, nahe der Fantasy, aber sicher keine Science Fiction. Beide Kriterien, feministisch und Science Fiction zu sein, erfüllen hingegen die Kurzgeschichte The Women Men Don’t See (1973) von James Tiptree jr., Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale (1985), Marge Piercys Woman on the Edge of Time (1986) und Suzette Haden Elgins von der Sapir-Whorf-Hypothese ausgehender Roman Native Tongue (1984), der mit seiner von der Autorin erfundenen Sprache Láadan auf „das subversive Potential der Sprache“ verweise. Damit sind allerdings noch längst nicht sämtliche von den Autorinnen herangezogenen SF-Werke genannt. Wie sie an verschiedenen Textbeispielen zeigen, kann aus den Texten „Misstrauen gegenüber Männer“ gelernt werden und diese „für ihr Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen“. Außerdem machten sie die „individuelle und kollektive Macht von Frauen, Änderungen zu bewirken“, deutlich und überhaupt, wie Frauen „dem Patriarchat Widerstand leisten und wachsen“ können.
Im Wesentlichen handele es sich um „vier Methoden des Widerstands“, „die individuell oder kollektiv geleistet werden können“. Erstens „Raum zu beanspruchen“, etwa indem Frauenhäuser, Frauenbuchläden, Frauenzentren und andere Fraueneinrichtungen gegründet werden. Sodann die Geschichte der Frauenbewegung zu dokumentieren, und zwar „während sie passiert“, drittes „aufeinander auf[zu]passen“ und „zuerst Frauen [zu] berücksichtigen“ sowie schließlich „den Verstand [zu] schärfen“ und „alles infrage [zu] stellen“. Alle vier Methoden seien „in der feministischen Science Fiction erkennbar“.
Zwar entwickeln die Autorinnen ihr Konzept des Gesellschaftlichen Stockholsyndroms nachvollziehbar, doch sind ihre empirischen Aussagen nicht immer zutreffend. So wurden in der amerikanischen Stadt Salem nicht 1962 zwanzig Menschen, unter ihnen 14 Frauen hingerichtet, weil sie Hexen seien. Dies geschah vielmehr bereits anno 1692. Ein solcher Zahlendreher kann natürlich immer einmal vorkommen. Gravierender ist jedoch die Fehlinformation, dass im Rahmen der Hexenverfolgung „etwa neun Millionen Menschen“ ermordet worden seien. Die Autorinnen halten das sogar für eine „konservative Schätzung“ und vermuten, es seien wesentlich mehr gewesen. Angesichts der bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts weniger als 500 Millionen Menschen betragenden Weltbevölkerung ist die Phantasiezahl von neun Millionen ermordeter ‚Hexen’ umso abwegiger. Sie wurde im 18. Jahrhundert von Gottfried Christian Voigt in die Welt gesetzt und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert von völkischen und nationalsozialistischen AutorInnen populär gemacht. In den 1970er und 80er Jahren wurde sie von neuheidnischen Kreisen und Anhängerinnen des sich als feministisch verstehenden Wicca-Kults propagiert. Inzwischen ist die Zahl längst widerlegt. Tatsächlich dürften etwa 50.000 bis 100.000 Menschen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, ermordet worden sein, von denen selbstverständlich jede einzelne zu viel war.
Andere Kritikpunkte betreffen Bewertungen der Autorinnen. So blendet etwa ihre Behauptung, Inzest sei „eine Form von sexueller Gewalt“, einvernehmlichen Sex zwischen Geschwistern aus. Wieder anderes mag zwar 1994, dem Erscheinungsjahr der Originalausgabe, zutreffend gewesen sein, ist es heute jedoch nicht mehr. Junge Frauen vermeiden heutzutage sicher nicht „‚zu nett’ zueinander zu sein“, weil sie nicht als Lesbe beschimpft werden wollen, auch besagt „die öffentliche Meinung“ heute wohl kaum noch, „dass unverheiratete Frauen keine Kinder haben sollten“. Ebenso ist es längst keine „kulturelle Vorschrift[]“ mehr, dass Frauen „beim Sex die unwillige Partnerin sein oder Sex weniger mögen [sollen] als Männer“ und Geschlechtsverkehr „in der Missionarsstellung erfolgen“ soll, wobei „der Mann oben“ zu liegen hat.
Auch kann eine kritische Bemerkung zum Stil und zur Übersetzung der vorliegenden Arbeit nicht unterbleiben. Das erkennbare Bemühen der Autorinnen, so exakt wie irgend möglich zu formulieren, lässt den Text so trocken und sperrig werden wie eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit. Auch sollten ÜbersetzerInnen nicht nach eigenem Gutdünken korrigierend in den Text eingreifen, wie dies Anna Ehrlich ein, zwei Mal tut, sondern allenfalls ihnen notwendig erscheinende Anmerkungen in Fußnoten platzieren. Immerhin aber merkt Ehrlich in Fußnoten an, dass und warum sie den Text geändert hat. Ansonsten teilt sie das fast schon angestrengte Bemühen der Autorinnen, möglichst exakt zu formulieren, nicht. Die von ihr im Vorwort zur deutschen Ausgabe getroffene Feststellung, „drei Viertel der Konsumenten [von Pornografie] sind männlich und werden beim Erstkontakt immer jünger“ ist zumindest unglücklich formuliert.
Insgesamt gereicht es dem Buch nicht immer zum Vorteil, dass es bereits 1994 geschrieben wurde. Seine Theorie des Gesellschaftlichen Stockholm-Syndroms ist zwar nach wie vor plausibel; die Versuche, sie empirisch zu belegen sind es hingegen nicht immer.
Dennoch ist abschließend festzuhalten, dass die Autorinnen zwar betonen, es sei ein Buch „von Frauen für Frauen über Frauen“. Doch kann es auch Männern nicht schaden, es zur Hand zu nehmen. Im Gegenteil.
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