Trotz eines schmalen Werkes ein Brückenbauer der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert
Zum 150. Todestag von Eduard Mörike
Von Manfred Orlick
„Frühling lässt sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte; / Süße, wohl bekannte Düfte / Streifen ahnungsvoll das Land.“ Das Gedicht Er ist´s von Eduard Mörike (1804-1875) ist eines der beliebtesten und bekanntesten Gedichte zur Frühlingszeit, das in keiner deutschen Lyrik-Anthologie fehlt und jedes Jahr in Zeitungen und anderen Medien erscheint, um den Frühlingsanfang zu markieren.
Eduard Mörike gilt vielfach als unbeschwerter Biedermeierpoet, der in einer Zeit politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Umbrüche die schöne Natur und seine schwäbische Heimat mit Gemütlichkeit besang. Ausgehend von der Weimarer Klassik schlug Mörike mit seinem Werk, vor allem mit seinen detailgetreuen und bildlichen Naturbeschreibungen, jedoch eine Brücke zwischen Romantik und Realismus. Dieses Spektrum spiegelte sich auch in seinen zahlreichen Kontakten wider: Zum einen verbanden ihn Kontakte zum schwäbischen Dichterbund um Ludwig Uhland und Justinus Kerner, zum anderen während seiner Stuttgarter Jahre zu Theodor Storm, Paul Heyse, Friedrich Hebbel und Iwan Turgenjew. Heute gilt Mörike als einer der bedeutsamsten deutschen Dichter, der mit seinen Gedichten schon in die Moderne wies.
Auf den ersten Blick ist Mörikes äußeres Leben schnell erzählt, denn es war scheinbar ohne größere Höhepunkte und Einschnitte. So kam er nur selten über das Königreich Württemberg hinaus. Und dennoch war sein Leben nicht so unbekümmert und idyllisch, wie die stille und heitere Schönheit seiner meisten Dichtungen vermuten lässt. Vielmehr war es geprägt von inneren Auseinandersetzungen und einem frühzeitig kränkelnden Körper.
Am 8. September 1804 wurde Eduard Friedrich Mörike in Ludwigsburg als siebtes Kind des Medizinalrates Karl Friedrich Mörike (1763-1817) und der Pfarrerstochter Charlotte Dorothea (1771-1841) geboren. Nach der Schulzeit und dem Tod des Vaters wurde der junge Eduard zu seinem Onkel Eberhard Friedrich Georgii nach Stuttgart gegeben. Hier besuchte er das „Gymnasium illustre“, bestand allerdings das Landesexamen nicht. Auf Intervention des Onkels wurde er in das Niedere Theologische Seminar in Urach aufgenommen. In dieser Zeit schloss er Freundschaft u.a. mit Wilhelm Hartlaub (1804-1885) und Wilhelm Waiblinger (1804-1885). Sie verband das leidenschaftliche Interesse für Literatur. Sein „Urfreund“ Hartlaub sollte später eine wichtige Stütze für Mörike werden, vor allem in finanziellen Nöten.
Als Siebzehnjähriger empfand Mörike eine frühe Liebe zu seiner Cousine Klara Neuffer (1804-1837), der er erste Gedichte widmete. Ein Jahr darauf erlag er der leidenschaftlichen Liebe zu Maria Meyer (1802–1865), einem Schankmädchen von geheimnisvoller Schönheit. Aus diesem einschneidenden Erlebnis entstand der lyrische Peregrina-Zyklus. Bis wenige Jahre vor seinem Tod hat Mörike an einzelnen Gedichten immer wieder Änderungen vorgenommen. Auch in seinem späteren Roman Maler Nolten verarbeitete er die Begegnung mit Maria Meyer.
Von 1822 bis 1826 studierte Mörike dann Theologie am Tübinger Stift. Neben Hartlaub und Waiblinger gehörte hier auch Friedrich Theodor Vischer (1807-1887) zu seinen Studienfreunden. Den kranken Friedrich Hölderlin besuchte man mehrfach in seinem Turm. Mörike begleitete ihn bei Spaziergängen und verwahrte einige Teile seines Nachlasses.
Nach dem theologischen Examen verbrachte Mörike die folgenden acht Jahre als Vikar an insgesamt neun verschiedenen Orten. Ein „Wanderer von Pfarre zu Pfarre“. Erst 1834 wurde er zum Pfarrer in Cleversulzbach berufen, eine Gemeinde im Neckarkreis mit etwa 600 Einwohnern. Ein 1828 unternommener Versuch, als freier Schriftsteller für die Stuttgarter Damen-Zeitung tätig zu sein, misslang nach wenigen Monaten. Während dieser Zeit begann er mit seinem Roman Maler Nolten, der zunächst als Novelle geplant war und 1832 in der E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung Stuttgart erschien. Durch die eingestreuten Gedichte erfährt die Handlung eine poetische Vertiefung. Angelehnt an Goethes Wilhelm Meister verbindet das Werk die Tradition des Künstler- und Bildungsromans mit dem romantischen Schicksalsmotiv. Von 1853 bis zu seinem Tod arbeitete Mörike an einer zweiten Fassung, die aber erst posthum als Fragment 1877 veröffentlicht wurde.
In die Vikariatszeit fiel auch Mörikes Ver- und Entlobung mit der Pfarrerstochter Luise Rau (1806-1891). Seine siebzig Brautbriefe, die sich über drei Jahre erstreckten, gelten als eine der schönsten Liebesbriefsammlungen, die es in der deutschen Literatur gibt. „Luise! meine Luise! – Dieser Name läuft, wie ein sanftes Echo, den Tag über und die Nacht durch mein Innerstes.“ Die Briefe geben aber auch Auskunft über Mörikes kompliziertes Innenleben und seine dichterischen Ambitionen während dieser Zeit. Luises Briefe sind leider nicht erhalten geblieben.
Als der knapp 30-jährige Mörike 1834 die feste Pfarrstelle in Cleversulzbach antrat, bewohnte er gemeinsam mit seiner verwitweten Mutter und seiner jüngeren Schwester Klara das Pfarrhaus, in dem einst Schillers Mutter und Schwester Louise gelebt hatten. Mörikes Mutter und Klara, zu der er ein enges Verhältnis hatte, führten den Hausstand. Mit der Pfarrstelle begann für Mörike eine Zeit der finanziellen Sicherheit und der inneren Ruhe. Es entstanden die beiden Erzählungen Miß Jenny Harrower. Eine Skizze (1834) und Der Schatz (1836). Mörike durchwanderte die reizvolle Umgebung und hielt zahlreiche Landschaftsmotive in Zeichnungen fest. Er war ein begabter Zeichner und übte diese Leidenschaft lebenslang aus. In seinen späten Lebensjahren korrespondierte Mörike mit seinem Altersfreund, dem österreichischen Maler Moritz von Schwind (1804-1871), über Fragen des künstlerischen Schaffens. Es war also kein Zufall, dass der Held seines ersten Romans ein Maler war. Darüber hinaus beschäftigte sich Mörike mit den Nachdichtungen antiker Poesie, die 1840 in der Classischen Blumenlese veröffentlicht wurden.
Bereits 1838 war bei Cotta die erste Ausgabe seiner Gedichte erschienen, die mit einer Themenvielfalt und neuer Bildersprache überraschten. Sie wurden später von vielen Komponisten wie Johannes Brahms, Robert Schumann oder Hugo Wolf vertont. In den weiteren Auflagen überarbeitete und ergänzte Mörike die Sammlung immer wieder. Die Resonanz war jedoch gering, sodass die Auflagen nur wenige tausend Exemplare erreichten. Dieses mangelnde Interesse seiner Zeitgenossen veranlasste Gottfried Keller später bei der Nachricht von Mörikes Tod zu der bissigen Bemerkung: „Wenn sein Tod nun seine Werke nicht unter die Leute bringt, so ist ihnen nicht zu helfen, nämlich den Leuten.“ Ihnen war tatsächlich nicht zu helfen. Das Interesse und Verständnis für seine Lyrik erwachte erst im 20. Jahrhundert wieder in weiten Kreisen.
Als Mörikes Mutter 1841 starb, ließ er sie in Cleversulzbach neben dem Grab von Schillers Mutter beerdigen. Ihr Tod war ein tiefer Einschnitt in Mörikes Lebensabschnitt und stürzte ihn in eine tiefe Krise. Er verließ 1843 zusammen mit seiner Schwester Cleversulzbach; über Wermutshausen und Schwäbisch Hall gingen beide nach Bad Mergentheim. In den zurückliegenden Jahren hatte seine angeschlagene Gesundheit ihn immer wieder zu längeren Dienstunterbrechungen gezwungen, sodass er sich nach neunjähriger Amtszeit als Pfarrer vorzeitig pensionieren ließ. In Bad Mergentheim wohnten die Geschwister im Hause des bayerischen Oberstleutnants Valentin von Speeth, dessen Tochter Margarethe (1818-1903) Mörike 1851 heiratete. Im selben Jahr siedelten das Ehepaar und die Schwester nach Stuttgart über. Während Mörike ein evangelischer Pfarrer im Vorruhestand war, war Margarete katholisch, was zu Spannungen mit einigen seiner Freunde führte. Auch das Dreiecksverhältnis zwischen Mörike, seiner Frau und seiner Schwester Klara blieb über all die Jahre äußerst problembeladen.
Befreit vom Zwang der Kanzel, dazu die neue Umgebung und die Liebe zu Margarethe, verliehen seiner Dichtung neue Impulse. Das noch in Bad Mergentheim entstandene Versepos Idylle vom Bodensee (1846) brachte den ersten literarischen Erfolg für Mörike. In den ersten Jahre der Stuttgarter Zeit folgten dann mit dem Märchen Das Stuttgarter Hutzelmännlein (1852) und der Novelle Mozart auf der Reise nach Prag (1855) zwei Werke, die noch heute zum bleibenden Bestand der deutschen Prosa des 19. Jahrhunderts gehören. In Mozart auf der Reise nach Prag, Mörikes reifster und letzter Prosadichtung, erreichte seine Erzählkunst ihren Höhepunkt.
Die Universität Tübingen ernannte Mörike 1852 zum Ehrendoktor. Trotz dieser Wertschätzung und der Honorare aus den Publikationen reichte das bescheidene Ruhestandsgehalt kaum für den Unterhalt der Familie aus, daher gab er (als Nachfolger von Gustav Schwab) Literaturunterricht, die sogenannten „Fräuleinslektionen“, am Königin-Katharina-Stift. Alsbald stellte sich gesellschaftliche Anerkennung ein: Mörike wurde neben seiner Berufung zum Hofrat und Professor auch die Ehrendoktorwürde in Tübingen zuteil. Als die Deutsche Schillerstiftung ihm ab 1862 eine jährliche Pension zahlte, verbesserte sich seine finanzielle Lage etwas.
Obwohl Mörike und seine Margarethe zwei Töchter hatten, führten sie keine glückliche Ehe, sodass es schließlich 1873 zur Trennung kam. Nachdem sich Mörike 1866 von seinem Lehrdienst pensionieren ließ, lebte er sehr zurückgezogen. Er veröffentlichte nur noch wenige Texte, die meist schon in Entwürfen und Ansätzen aus früheren Jahren vorhanden waren. Abgesehen von einigen Gelegenheitsgedichten zu familiären Anlässen seiner Freunde und dem Zyklus „Bilder aus Bebenhausen“ erlahmte Mörikes Schaffenskraft. Seine letzten Lebensjahre waren außerdem von zahlreichen Wohnungswechseln geprägt (Lorch, Nürtingen, Fellbach, Stuttgart). Wenige Tage vor seinem Tod kam es zur Wiederbegegnung und Versöhnung mit seiner Ehefrau. Eduard Mörike starb am 4. Juni 1875 und fand seine letzte Ruhestätte auf dem Pragfriedhof in Stuttgart. Sein ehemaliger Studienfreund Vischer hielt die vielbeachtete Grabrede vor einer kleinen Trauergemeinde.
Die Werke, Briefe, Übersetzungen, Bearbeitungen fremder Werke und Lebenszeugnisse von Eduard Mörike werden seit 1967 in einer Historisch-kritischen Gesamtausgabe (nach Abschluss insgesamt 20 Bände in 29 Teilbänden) herausgegeben. (Im Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und in Zsarb. mit dem Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N., hrsg. von Hubert Arbogast†, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer†, Bernhard Zeller†. Stuttgart: Klett-Cotta.)
Zum 150. Todestag von Eduard Mörike möchte der Kelkheimer Autor Thomas Berger in seiner Neuerscheinung Freudenschein aus Finsternissen an den „heute zu Unrecht weitgehend vergessenen Poeten“ erinnern und seine „durch Musikalität ausgezeichnete poetische Kunst“ würdigen. Der Titel geht dabei auf Mörikes Gedicht Neue Liebe (1846) zurück, in dem Lebenslust und Wehmut verschmelzen: „Aus Finsternissen hell in mir aufzückt ein Freudenschein“.
Berger geht in seiner Darstellung chronologisch vor und vermittelt in neun Kapiteln von den „prägenden Jugenderfahrungen“ bis zum „Literaturlehrer in Stuttgart“ ein Lebens- und Charakterbild von Mörike. Die einzelnen Stationen werden dabei von zahlreichen Gedichten oder längeren Gedichtpassagen begleitet und untermauert, sodass die Lektüre den Leser gleichzeitig in die Lyrik Mörikes entführt. Neben eigenen Interpretationen zitiert Berger auch immer wieder Wertungen und Deutungen anderer Autoren. Mit der verstärkten Einbindung der Lyrik löst der Autor auch das Dilemma, dass Mörikes Biografie wenig spannende Elemente bietet, indem er die Individualität und Vielfalt seines lyrischen Schaffens ausführlich beleuchtet.
Mörike selbst hatte seine Lebensstationen stets detailliert geschildert und teilweise mit Zeichnungen festgehalten, wodurch seine sämtlichen Aufenthaltsorte nachvollzogen und lebendig beschrieben werden können. Die häufigen Ortswechsel waren Ausdruck einer inneren Zerrissenheit, verursacht durch ein Doppelleben – hier geistliches Amt, dort Berufung zum Dichter – und später durch eine missglückte Ehe.
Außerdem wertet Berger ausführlich die Korrespondenz Mörikes mit seinem Tübinger und Stuttgarter Freundeskreis aus. Mörike war zeit seines Lebens ein sehr produktiver Briefschreiber. Seine Briefe sind nicht nur ein wichtiges Zeugnis seines Lebens, sie vermitteln auch Einblicke in seine Gedankenwelt und in sein literarisches Schaffen. Freudenschein aus Finsternissen ist eine gelungene Möglichkeit, sich mit Leben, Charakter und Werk von Mörike wieder einmal zu beschäftigen. Ergänzt wird die Neuerscheinung durch einige Zeichnungen von Jennifer Helen Weber.
Mit etwas Verzögerung, Ende Juni; erscheint im Verlag Königshausen & Neumann mit Mörike verstehen. Text + Deutung noch eine weitere Neuerscheinung zum Mörike-Jubiläum. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Gerhard Oberlin, der in der Reihe Literatur verstehen schon zahlreiche Titel veröffentlicht hat, widmet sich auf ca. 300 Seiten Mörikes Dichtkunst. Der Band enthält eine Auswahl von Mörikes Texten, die mit allgemein verständlichen Kommentaren und Erläuterungen sowie einem längeren Essay als Einleitung versehen sind.
Eine Ausgabe seiner Gedichte und Novellen vermisst man allerdings zum diesjährigen Mörike-Jubiläum. Es scheint, als wäre auch heutigen Verlagen und Lesern nicht zu helfen. Allein der Reclam Verlag hat bereits im Februar (also rechtzeitig vor Frühlingsanfang) mit dem Band Ein Frühlingstag mit Eduard Mörike eine kleine Auswahl an Gedichten herausgebracht. Beginnend mit Er ist‘s bringt die Sammlung einige der schönsten Gedichte, Zitate, Brief- und Romanauszüge zum Thema Frühling.
Die Liebe zum Frühling blitzte nicht nur in seinen Gedichten auf, auch in seinen Prosawerken huldigte Mörike dem Lenz. Auf seinen ausgedehnten Spaziergängen und Wanderungen durch seine schwäbische Heimat fand er einen Ausweg aus der Enge seines ungeliebten Daseins als Pfarrer. Und auch für den Leser sind die 88 Seiten eine Frühlings-Einladung: „Ein warmer, sonnenheller Tag schmolz vollends die letzten Reste Schnee und Eis hinweg, eine erquickende Luft schmeichelte bereits mit Vorgefühlen des Frühlings.“ (aus Maler Nolten)
Und wem dieser Frühlingsauftakt nicht genügt, für den hat der Reclam Verlag seine bei Lyrik-Freunden geschätzte „Frühlingstag“-Reihe mit Theodor Fontane und Theodor Storm fortgesetzt.
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