Becoming der Zauberer
Zwei neue Bücher von Oliver Fischer und Heinrich Breloer nehmen die frühen Münchner Jahre Thomas Manns in den Blick
Von Martin Ernst
1901 schrieb Thomas Mann in einem Gedicht die Zeilen: „Hier ist mein Herz, und hier ist meine Hand / Ich liebe dich! Mein Gott … ich liebe dich!“ Das gehört zu wenigen sentimentalen Formulierungen, die von Thomas Mann aus seinem gut 80- jährigen Leben überliefert sind. Anlass für den emotionalen Ausbruch war der Tiermaler Paul Ehrenberg, den der junge Schriftsteller kurz vor dem Jahreswechsel 1899 in München Schwabing kennen gelernt hatte und der bis zum Sommer 1903 einer seiner wohl engsten Wegbegleiter war. Und einer, der mehr als nur freundschaftliche Gefühle weckte.
Der Hamburger Journalist Oliver Fischer hat der Beziehung zwischen Mann und Ehrenberg, die bisher nur in Teilkapiteln germanistischer Sekundärliteratur behandelt wurde, nun eine eigene Monographie gewidmet, die im Rowohlt-Verlag erschienen ist. Das Buch trägt den Titel Man kann die Liebe nicht stärker erleben und greift ein Zitat Manns von 1943 auf, das rückblickend die Beziehung zu Ehrenberg beschrieb. Auch sprach Mann im Alter, viel zitiert, von der „zentralen Herzenserfahrung meines Lebens.“
Für zwei Jahre nimmt die Freundschaft zu Ehrenberg und seinem Bruder Carl, einem Berufsmusiker, einen zentralen Platz ein im Leben des jungen Thomas Mann: Man musiziert, besucht Konzerte, organisiert Fahrradtouren und geht im Frühjahr auf die ausschweifenden Faschingsbälle Münchens. Dabei füllen die Freunde gegensätzliche Rollen aus: Mann ist der ironisch Distanzierte, der mit seinen homosexuellen Neigungen kämpft, Ehenberg der viril-unverkopfte Antreiber, der den Schüchternen aus der Reserve lockt. Allerdings ist bald auch Eifersucht im Spiel.
Nietzsche? „Lass es lieber noch!“
Denn der guttaussehende und umtriebige Ehrenberg pflegt vielerlei Beziehungen, vor allem zu Frauen, und blüht, anders als Mann, in großen Gesellschaften auf. Mann plant sogar für einen Roman, wie Fischer schreibt, „nichs anderes als eine leicht verfremdete Version seiner Leidenschaft für den Tiermaler.“ Unter dem Titel Die Geliebten schafft er sich in der Frauenfigur Adelaide ein weibliches Alter Ego, das an seiner Liebe zu einem flirtverliebten Geiger leidet.
Als Mann 1901 beschließt, Paul ein Kapitel aus den Buddenbrooks zu widmen, scheint die ganze Zweiseitigkeit seiner Zuneigung auf: „Dem tapferen Maler“. An anderer Stelle kann er es sich nicht verkneifen, von einem Akt der „Macht“ zu sprechen. Im Sommer 1903 wächst die Distanz, auch weil Mann den Freund seine intelektuelle Überlegenheit immer wieder spüren lässt, gipfelnd in der vergifteten Leseempfehlung: „Warum willst du eigentlich Nietzsche lesen? Lass es lieber noch!“
Fischer arbeitet die Dynamik dieser Freundschaft mit viel Empathie für ihre Asymmetrie heraus und erklärt den Mannschen Nexus von Verehrung und Verachtung. Der habe damit zu tun, „dass fast alle seine geliebten Männer sich nicht (oder wenig) fürs gleiche Geschlecht interessieren.“ Das daraus resultierende Inferioritätsgefühl habe immer wieder nach Kompensation gesucht. Gleichzeitig, und dieser Aspekt wird bei Fischer neu hervorgehoben und parallel geführt, sucht Mann vermehrt die Freundschaft zu Kurt Martens, der seine homosexuellen Neigungen durch eine bürgerliche Ehe überwunden zu haben scheint.
„Entgegenkommen“: Chiffre für Körperliches?
Relevante, also homosexualitätsbezogene zeitgeschichtliche Abschnitte hat Fischer dort eingebaut, wo sie das geistige Klima der Zeit greifbar machen: Ausführungen zum § 175 (stellte gleichgeschlechtliche Handlungen unter Strafe), zur Arbeit des Sexualforschers Magnus Hirschfeld in Berlin und zu der Krupp- oder auch Eulenberg-Affaire geben einen Eindruck, wie latent präsent das Thema Homosexualität im wilhelminischen Kaiserreich war.
Erwähnenswert bleibt an dieser Stelle auch, dass Fischer in Bezug auf die Frage, ob es jemals zu körperlichem Kontakt zwischen Mann und Ehrenberg kam, eine spekulativ-bejahende These aufstellt. Er deutet Aufzeichnungen Manns (Stichwort Zweideutigkeit) und die hier und auch im Werk immer wieder auftauchende Formulierung des „Entgegenkommens“ in Bezug auf Ehrenberg, aber auch andere, dahingehend, dass es zu Zärtlichkeiten durchaus gekommen sein könnte, „auch wenn wir nie wissen werden.“
Ehrenberg im Werk: Hansen, Joseph und Schwerdtfeger
So kurz die Episode auch war, als zentrale menschliche Grunderfahrung von Begehrendem und Begehrtem fand sie Eingang in Manns Werk. Hermann Kurzke schrieb 1999 in seiner bis heute maßgebenden Mann-Biographie Das Leben als Kunstwerk: „Pauls Name geistert runenhaft durch das ganze Werk […]“. Die Beziehung zwischen Ehrenberg und Mann: Das ist der ewige Gegensatz von Leben und Geist, naiv und sentimental (wie ihn Mann von Schiller übernahm), und hat Manns ästhetischen Kosmos und die Menschen in ihm präfiguriert. So resümiert Fischer über Ehrenberg:
Und er ist auch der Mann, der ein Stück Unbekümmertheit und Fröhlichkeit in Thomas‘ Werk und Leben gebracht hat, der den Dichter zu Figuren inspirierte, die bis heute […] begeistern: den treuherzigen Rudi Schwerdtfeger, den schillernden Joseph, den blonden und bodenständigen Hans Hansen […].
Fischer kommt das Verdienst zu, das bisherige Wissen aus Tagebuchäußerungen und Briefen über Ehrenberg zu einem runden Bild zusammengefügt und zudem neue Quellen und damit auch Details erschlossen zu haben. Vor allem das weitere Leben Ehrenbergs blieb bisher unerzählt: Man erfährt, dass auch er bald heiratet und weiterhin in Schwabing wohnt. Der Kontakt bleibt über Mann Schwester Julia bestehen und sporadisch kommt es sogar zu Treffen wie 1921 in geselliger Runde. Als Mann 1933 bereits exiliert ist, bittet ihn Ehrenberg um Geld, um Schulden zu bezahlen, was sein alter Freund ihm nicht abschlägt.
Dabei setzt für Paul Ehrenberg mit der Naziherrschaft neuer beruflicher Erfolg ein: Als eher volkstümlicher Tiermaler kann er auf den NS-Schauen vermehrt ausstellen, arrangiert sich und wird sogar Parteimitglied. Eher aus Opportunismus denn Überzeugung. 1938 zieht er in die Nazi- Hochburg Plauen, wo er das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt. Weitestgehend verarmt stirbt er 1949 in einem Hofer Krankenhaus. Für die Nachwelt hallt „P.E.“ in Thomas Manns Tagebüchern und Briefen noch lange nach. Dass dieser zentralen, wenn auch sehr kurzen Episode zum doppelten Jubiläum ein eigenes Buch gewidmet wurde, ist nur folgerichtig.
Von P.E. zu K.
Während Fischer sich ganz auf die Beziehung zu Paul Ehrenberg konzentriert, hat sich der Autor und Regisseur Heinrich Breloer zumindest vom Titel her einen etwas größeren Bereich ausgewählt, in welchem es vor allem um dessen Hinwendung und Werbung um Katia Pringsheim geht. Breloer machte vor zwanzig Jahren mit seiner Serie „Die Manns“ die Schriftstellerfamilie einem breiteren Publikum bekannt und verfilmte später auch die Buddenbrooks (2006). Die Manns setzen nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920ern ein. Zwar gibt es dort einige Rückblenden in die Lübecker Kindheit, doch die Jahre in München Schwabing (1903-1911) und der Übergang von der Boheme in eine bürgerliche Existenz bleiben ausgeblendet.
Ein tadelloses Glück (Deutsche Verlags-Anstalt) ist ein Prequel zu den Manns. Der junge Thomas Mann und der Preis des Erfolgs heißt das 400 Seiten starke Buch im Untertitel. Doch auch Breloer erzählt nicht den ganzen jungen Thomas Mann, sondern trifft eine Auswahl, fokussiert sich ganz auf die Brautwerbung um die Millionärstochter Katia Pringsheim (in den Tagebüchern K.) – und die mit ihr verbundene Lebensentscheidung für eine geordnete Bürgerlichkeit. Die Boheme-Jahre werden kurz angedeutet, die Zeit in Rom und Palestrina, wo ein Großteil der Buddenbrooks verfasst wurde, fast ganz ausgeblendet.
Paul Ehrenberg kommt hier noch ein paar Mal vor, er ist dabei, als Thomas Mann die etwas androgyne junge Studentin Katia Pringsheim 1903 zum ersten Mal durchs Opernglas in einem Konzertsaal erspäht und beschließt: „Die oder keine!“ In den wenigen Episoden geht es aber vor allem um Manns Loslösung von ihm und seinen homosexuellen Neigungen – und so verlagert sich das Geschehen mehr und mehr aus Schwabing in den Palais der Pringsheims in der Arcisstraße. Hier entpuppt sich das von Elsa Bernstein, dann Hedwig Pringsheim selbst geförderte Werben um Katia als ein zähes Projekt.
Belagerungszustand und bürgerliche Ehe
Breloer gelingt es, diesen sich über Monate hinziehenden „Belagerungszustand“, der gut zwei Drittel des Buches einnimmt, vor allem auf Basis der Werbungsbriefe nachzuzeichnen, ohne dass Langeweile aufkommt. Vermutlich liegt das daran, dass mit Katia eine zweite gleichwertige Protagonistin in den Roman tritt, mit welcher man, anders als mit ihrem zukünftigen Ehemann, mitempfinden kann. Gerade dass dieser kühl-distanzierte Dichter in der frühen Werbungsphase heiße, geradezu kitschige Lieberschwüre aufs Papier bringt, befremdet die junge Frau.
Erst als der Tonfall wechselt und rationale Argumente sowie das Schlagwort Vernunftehe auftauchen, lenkt sie im Oktober 1904 ein. Bevor sie wie Manns unglückliche Schwester Julia einen Mann aus der Finanzwelt heiratet, beschließt Katia, lieber in den Dienst der Kunst zu treten. Manns Entscheidung für Ehe und Familie wird in der Biographik ja gemeinhin als Entscheidung für das bürgerlich Maßvolle und Produktive verstanden. An einer einzigen Stelle gegen Ende des Buches meldet sich ein Erzähler und kommentiert Katias Entscheidung mit einem antizipierendem Ausblick:
Für Thomas, so zeigte es sich, war Katia, diese kluge und patente Frau, der Glücksfall seines Lebens. Wo immer sie von den Verbrechern dieser Welt hineingetrieben wurden, Katia richtete sofort in einem Haus den ruhigen Schreibplatz für Thomas ein […].
Ahnte Katia etwas von diesem Lebensweg im Sommer 1904? Sie hatte offenbar ein Gefühl, dass dieser Mann ein Mann von Bedeutung sein würde. Und da wollte sie doch wohl dabei sein. Beim Werk und bei diesem so besonderen Mann.
Lesenswert sind vor allem die Momente, in denen klar wird, dass die damals erst 20-Jährige die lebensferne Verkopftheit ihres Anwärters nach der ersten Lektüre des Tonio Kröger bereits verstanden hat, sich vor der Aufgabe, diesen Einzelgänger mit der Gesellschaft zu versöhnen aber auch fürchtet. Spürbar wird bei aller fehlenden Romantik immer wieder, dass Mann sich nicht nur um eine finanziell gute Partie bemüht, sondern auch um eine Frau, die ihm intellektuelles Verständnis bieten kann, ohne aber von seiner komplexen Sexualität schon etwas zu ahnen.
Wie immer beschränkt sich Breloer ganz auf das Biographische: Fin de Siècle, Lebensphilosophie, Dilettantismus-Problematik, die Troika aus Schopenhauer, Wagner und Nietzsche. All das, was man in germanistischen Abhandlungen dieser Tage nachlesen kann, bleibt außen vor. Manns Kunsttheorie findet in einigen Dialogen aber dennoch immer wieder gekonnt Eingang. Etwa wenn „Tommy“ seinen Schwiegervater in spe – zwar ein Wagnerianer – wegen seiner Bewunderung für Schopenhauer zum Tobsuchtsanfall bringt oder auf den Dinners der Schwiegereltern über die Verflechtung vom Leben in der Kunst sinniert.
Subplots um Carla Mann und Erik Pringsheim
Neben der Hauptgeschichte gibt es noch weniger bekannte Subplots um Heinrich und Carla Mann, die als Schauspielerin gescheiterte Schwester, welche 1910 in Polling Selbstmord beging; aber auch die Geschichte von Katias ältestem Bruder Erik, Namenspatron ihrer ersten Tochter und Sorgenkind der Pringsheims, wird erzählt. Der notorische Trinker und Spieler wandert 1905 auf Betreiben der eigenen Familie nach Argentinien aus, wo er 1909 unter ungeklärten Umständen auf einer Finca stirbt. Gerade seine Geschichte steht ziemlich autark neben dem Hauptplot, kann mit Blick auf Manns Kampf um ein ordnendes Prinzip im Leben, aber auch als kontrapunktische Spiegelung gelesen werden.
Breloers Buch kann als biographischer Roman verstanden werden, ein Genre, in dem Thomas Manns Vita zuletzt etwa durch Michael Lentz (Pazifik Exil, 2007), Hans Pleschinski (Königsalle, 2013) oder Colm Tóibín (Der Zauberer, 2021) erzählerisch vermittelt und variiert wurde.
Gleichzeitig und vor allem ist Ein tadelloses Glück aber ein Doku-Roman, der mithilfe einer ausgefeilten und an den Zauberer selbst erinnernden Pastiche-Technik aus vielfältigen Quellen zusammengetragene Fakten und tiefes, jahrelang gesammeltes Kennerwissen gekonnt und unterhaltsam amalgamiert.
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